Am 25. August 2023 berichtet die Süddeutsche Zeitung über einen extrem antisemitischen Flyer, in dem der Nationalsozialismus und der Holocaust relativiert wird. Überschrieben ist er mit den Worten „Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“, „Bewerber“ sollen sich im „Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch“ melden. Zu gewinnen: „Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“, ein „lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab“ und neben anderen menschenverachtenden „Preisen“ dann noch „Eine Nacht Aufenthalt im Gestapokeller, dann ab nach Dachau“. Laut SZ soll Hubert Aiwanger, stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister in Bayern, das Flugblatt in der elften Klasse, mit 17, an seiner Schule verteilt haben.
Schon seit 2006 ist Aiwanger Vorsitzender der Freien Wähler in Bayern, seit 2010 Vorsitzender des Bundesverbandes. Seit 2008 sitzt er im bayrischen Landtag. Seit 2018 koaliert seine Partei mit der CSU. Aiwanger ist seitdem stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister in Markus Söders Kabinett. Die nächste Landtagswahl steht am 8. Oktober 2023 an.
In Aiwangers Schultasche sollen Kopien des Flyers gefunden worden sein, berichtet ein ehemaliger Lehrer. Der spätere stellvertretende Ministerpräsident hatte damals nicht bestritten, den Text geschrieben zu haben. In der SZ heißt es weiter, Aiwanger sei zu Schulzeiten für seine rechtsextremen Ansichten bekannt gewesen, er habe Hitler-Reden vor dem Spiegel geübt und damit geprahlt, Mein Kampf gelesen zu haben. Aiwanger selbst bestreitet die Vorwürfe gegenüber der Zeitung und spricht von einer „Schmutzkampagne“. Am nächsten Tag ist seine Erinnerung schon besser. Gegenüber dem Spiegel distanziert er sich vom Flugblatt und sagt weiter: „Der Verfasser des Papiers ist mir bekannt, er wird sich selbst erklären. Weder damals noch heute war und ist es meine Art, andere Menschen zu verpfeifen.“ Aber: „Ob ich eine Erklärung abgegeben oder einzelne Exemplare weitergegeben habe, ist mir heute nicht mehr erinnerlich“, so Aiwanger gegenüber dem Nachrichtenmagazin.
Schließlich meldet sich Helmut Aiwanger, der ältere Bruder des Freie-Wähler-Chefs, zu Wort und gibt zu, das Flugblatt damals verfasst zu haben. Heute ist Aiwangers Bruder übrigens Waffenhändler, wie die Bild berichtet.
Populismus über alles
Rein zufällig setzt sich sein kleiner Bruder unter anderem gegen eine Verschärfung des Waffenrechts ein. „Alle Sportschützen-Gegner sollen die Klappe halten“, so der Politiker auf einem Schützentag im April 2022. Schützenvereine führten Jugendliche an Traditionen heran: „Jugendliche in ihrer Gesellschaft – da bleibt mancher Psychiater arbeitslos“, so Aiwanger. Aber der Minister ist nicht nur Fan von Schusswaffen, auch Stichwaffen haben es ihm angetan: „Ich bin überzeugt, Bayern und Deutschland wären sicherer, wenn jeder anständige Mann und jede anständige Frau ein Messer in der Tasche haben dürfte, und wir würden die Schwerkriminellen einsperren. Das wäre der richtige Weg“, so Aiwanger im Oktober 2019.
Spätestens jetzt sollte klar sein: Hubert Aiwanger macht vor allem rechtspopulistische Politik. Dafür gibt es zahlreiche weitere Beispiele. Vor den Bundestagswahlen 2021 bezeichnete er im Interview mit dem Tagesspiegel den Begriff „alte weiße Männer“ als „Rassismus in Reinform“, die Frauenquote sei „Intoleranz gegen Männer“, den Grünen warf er „Männer-Mobbing“ vor. Meinungen hatte Aiwanger auch zu den Krawallen in der Silvesternacht 2022 und kritisiert im Interview mit der Welt die – Überraschung – „absurde Böllerverbotsdebatte“ und den Länderfinanzausgleich. „Milliarden“ würden nach Berlin überwiesen und im Gegenzug könne man „im Fernsehen“ verfolgen, „wie die ihre Stadt abfackeln“. Es geht um „Migrantenmilieus“, „Clans“ und andere Chiffren, die Rechtsaußen gut verstanden werden.
Während der Corona-Pandemie kokettierte Aiwanger lange mit seinem Impfstatus, über den er zunächst keine Auskunft geben wollte, unter anderem warnte er vor einer „Apartheidsdiskussion beim Impfen“.
Auf einer Demo gegen das Heizungsgesetz im Juni 2023 trat Aiwanger auf und forderte, dass „die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss“ und man „denen in Berlin sagen [muss]: ‚Ihr habt’s wohl den Arsch offen da oben‘“. Die Mitte der Gesellschaft werde, so der bayrische Minister, die „Berliner Chaoten vor sich hertreiben“. Nicht zum ersten Mal wurde Aiwanger „AfD-Rhetorik“ vorgeworfen.
Mit Beatrix von Storch stand Aiwanger sogar schon auf einer Bühne, allerdings noch bevor die AfD überhaupt gegründet wurde. Das belegt eine Aufnahme des Fotografen Robert Andreasch.
Politkarriere oder Verfassungsschutzbeobachtung
Der Umgang mit dem Aiwanger-Flyer in den 1980ger Jahren macht deutlich, welche Prioritäten der Kampf gegen Rechtsextremismus in Bayern und dem Rest der Republik tatsächlich hat. Vor allem im Vergleich mit einem anderen Fall, der einige Jahre früher in Bayern beginnt.
Christine Schanderl ist 18 Jahre alt, als sie 1980 einem „Stoppt Strauß“-Button in der Schule trägt. Sie demonstriert damit ihre Ablehnung gegenüber dem damaligen rechtskonservativen Ministerpräsidenten Bayerns, der als Kanzlerkandidat aufgestellt worden war. Ihr Gymnasium in Regensburg erteilt ihr zuerst einen verschärften Verweis und suspendiert sie für mehrere Wochen, nachdem sie sich weigert den Anstecker abzunehmen. Schließlich wird sie von der Schule geworfen. Vor Gericht erhält Schanderl immer wieder Recht, auch später, als der Freistaat versucht, ihre Anwaltszulassung zu torpedieren oder ihr den Beamtenstatus verweigert. Es sei „nicht anzunehmen, daß die Antragstellerin in Krisenzeiten und ernsthaften Konfliktsituationen für den Staat Partei ergreift“, teilt ihr das Oberlandesgericht Nürnberg lapidar mit. Jahrelang bleibt sie im Blick des Verfassungsschutzes.
Hubert Aiwanger, in dessen Schultasche damals mehrere der antisemitischen Flyer gefunden wurden, sagt dem Spiegel: „Mir wurde mit der Polizei gedroht, wenn ich den Sachverhalt nicht aufkläre.“ Doch dann wird dem späteren Politiker ein Ausweg angeboten: Er soll ein Referat über den Nationalsozialismus halten. „Dies ging ich unter Druck ein“, so Aiwanger. Und weiter: „Damit war die Sache für die Schule erledigt.“ Weitere Konsequenzen gibt es bis heute offenbar nicht, für keinen der Aiwanger-Brüder.