Vom American Jewish Commmittee (AJC) wies Deidre Berger darauf hin, dass der Bundestag sich durchaus verdienstvoller Weise bereits mehrmals mit dem Problem des aktuellen Antisemitismus beschäftigt habe und forderte nun konkrete Konsequenzen: einen Antisemitismusbericht des Deutschen Bundestages. Sie machte deutlich, dass das AJC und andere zivilgesellschaftliche Organisationen wie Honestly Concerned und die Amadeu Antonio Stiftung durchaus bereit wären daran mitzuarbeiten. Aycan Demirel von der „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“ wies auf die Bedeutung lokaler Initiativen hin und kritisierte die Förderpraxis des Bundesprogramms „Vielfalt tut gut“: Durch die finanzielle Unsicherheit sei es kaum möglich, langfristig angelegte Projekte gegen Antisemitismus zu planen. Er könnte beispielsweise die Nachfrage Kreuzberger Schulen nach Unterstützung in der Auseinandersetzung im Unterricht gar nicht befriedigen. Elke Gryglewski von der Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ betonte die Bedeutung der Jugendarbeit im Kampf gegen Antisemitismus und plädierte für Veränderungen im Bildungssystem: Man müsse die Jugendlichen ernst nehmen, möchte man antisemitische Einstellungen wirksam bekämpfen. Stephan Kramer, damals vom Zentralrat der Juden in Deutschland (heute Verfassungsschutzchef in Thüringen), forderte hingegen in seinem „Wunschzettel“ an die Bundesregierung unter anderem einen Bundesbeauftragten für die Bekämpfung des Antisemitismus.
Prof. Dr. Werner Bergmann vom Zentrum für Antisemitismusforschung sprach sich dafür aus, die Veränderung des Antisemitismus nach 1945 stärker wahrzunehmen. Zentrale Problemfelder seien heutzutage vor allem der Schuldabwehrantisemitismus, der dazu führe, dass Juden als „Störenfriede der Erinnerung“ wahrgenommen würden, und der israelbezogene Antisemitismus, wie er vor allem seit der zweiten Intifada virulent geworden sei. Diese modernen Formen des Ressentiments seien im Gegensatz zum traditionellen Antisemitismus nicht nur am „rechtsextremen Rand der Gesellschaft“ zu finden, sondern in ihrer gesamten Breite. Auch der Publizist Henryk M. Broder, betonte in seinem Eingangsstatement, ein radikaler Radau-Antisemitismus eines Horst Mahler stelle im Augenblick nicht unbedingt die größte Gefahr dar. Diese Form des Antisemitismus sei in Deutschland zivilgesellschaftlich ohnehin geächtet. Das Augenmerk müsse vielmehr auf den beinahe konsensfähigen sekundären und israelfeindlichen Antisemitismus gerichtet werden, der vom „modernen Antisemit ohne Glatze, dafür aber mit guten Manieren“ ausginge.
Nur ein Randphänomen?
Dennoch war bei der Anhörung – und vor allem auf Nachfragen von einigen Bundestagsabgeordneten – die Tendenz zu beobachten, Antisemitismus zum Randphänomen zu erklären, das vor allem unter radikalen Rechten und Muslimen zu finden sei. Heinz Fromm, der frühere Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, bezweifelte, dass es sich beim Antisemitismus um ein Problem handelt, welches sich auch in der Mitte der Gesellschaft wohl fühlt und betonte, es handle sich hauptsächlich um ein Phänomen der politischen Rechten. Die Nachfragen der Abgeordneten behandelten zum großen Teil die Frage des Antisemitismus unter Migranten. Das Bild, das hier vermittelt wurde ist, dass es sich beim antijüdischen Ressentiment um eine Problem handele, das von den „Anderen“ ausgeht, und nicht etwa um eine Ideologie, die in der gesamten Gesellschaft tief verwurzelt ist. Trotz aller ehrlichen Bemühungen hatte die Anhörung einen leicht fahlen Beigeschmack: obwohl es sich um ein sehr konkretes Problem handelt und sich dessen auch alle Anwesenden bewusst waren konnten keine Strategien entwickelt oder auch nur skizziert werden, wie diesem am besten begegnet werden sollte. Die am häufigsten gehörten Floskeln des Tages lauteten: „Darüber sollten wir uns Gedanken machen“ und „Darüber sollten wir reden“. Dass es sich eigentlich genau um den Ort und die Zeit handelte dies zu tun scheint Einigen wohl im Eifer des Gefechtes entgangen zu sein.
Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung und Beobachter der Sitzung, nahm anschließend wie folgt für MUT zu der Sitzung Stellung:
„Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus darf nicht bei nur Neonazis und Migranten halt machen, sondern muss auch als Problem in der Mehrheitsgesellschaft begriffen werden. Die Debatten im politischen Raum sind notwendig, es muss aber auch vor allem darum gehen, den alltäglichen antisemitischen Vorfällen in Deutschland etwas öffentlich entgegenzusetzen, sie politisch stärker zu ächten. Nach wie vor finden antisemitische Vorfälle im lokalen Rahmen keine bzw. zu geringe Ächtung, wie z.B. die wiederholten antisemitischen Schmähungen gegnerischer Fußballfans oder die antisemitischen Übergriffe und Zerstörungen von Friedhöfen und Gedenksteinen. Wenn die Lokalpolitik in kleinen Kommunen versagt, ist das eben Aufgabe der Bundespolitik. Hier ist, wie die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus stellvertretend für alle zivilgesellschaftliche Projekte zurecht darauf hinwies, dann die Bundesebene mit der ausreichenden finanziellen Unterstützung von Modellprogrammen gefragt. Außerdem muss auch die Politik aufhören, den Antisemitismus als Problem zu deuten, dessen sich hauptsächlich die jüdischen Verbände anzunehmen haben. Es ist gerade auch die Aufgabe aller Demokraten sich diesen entgegen zu stellen. Ein jährlicher Antisemitismusbericht wäre sicherlich ein guter Anfang, wenn auch die zivilgesellschaftlichen Initiativen daran gleichberechtigt beteiligt werden. Gerade die unterschiedlichen Ausprägungen von aktuellen Formen des Antisemitismus in Deutschland und auch das kleinteilige Engagement und die Kompetenz der zivilgesellschaftlichen Initiativen wurden bei der Anhörung im Bundestag leider nicht deutlich. Ich bin gespannt, wie und wann der Innenausschuss die Ankündigung des (damaligen) Vorsitzenden, Sebastian Edathy, umsetzt, in einem zweiten informellen Teil die Erwartungen der zivilgesellschaftlichen Akteure zu behandeln.“
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).