Anlass des Briefes scheint ein Rechtsstreit zu einem Buch des deutsch-israelischen Autors Arye Sharuz Shalicar von 2017 zu sein, der einen mehr oder weniger prominenten Historiker in die Nähe des Antisemitismus gerückt hatte. Außerdem geht es um die mögliche Annexion von Gebieten im Westjordanland durch Israel. Ohne seinen Namen zu nennen wird Felix Klein angegriffen, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung. Was der eigentliche Grund des Briefes ist, bleibt vage, er wirkt aber wie eine merkwürdige Mischung aus deutscher Selbstüberschätzung, falschen Fakten und geraunten Anschuldigungen.
Der Brief ist der nächste Akt in einer Kampagne, die sich gegen Felix Klein und das Amt des Antisemitismusbeauftragten generell richtet. Klein deckt in seiner Arbeit unterschiedliche Formen von Antisemitismus ab, dazu gehört auch israelbezogener Antisemitismus. Der wiederum wird von Israelkritiker*innen lieber ignoriert, weil er „die Aufmerksamkeit von realen antisemitischen Gesinnungen und Ausschreitungen“ ablenke, „die jüdisches Leben in Deutschland tatsächlich gefährden.“ Nikolas Lelle, Leiter der Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung dazu: „Es ist ein klarer Fortschritt, dass es die Antisemitismusbeauftragten überhaupt gibt. Aber statt auch Rassismusbeauftragte und Antiziganismusbeauftragte zu fordern, will man die zum Thema Antisemitismus lieber wieder abschaffen.“ Auch zentrale jüdische Organisationen stellen sich hinter Klein und seine Arbeit.
Es erscheint so, als würden die Forderungen des offenen Briefes denen von Jüdinnen und Juden in Deutschland explizit entgegenstehen. Die Verfasser*innen arbeiten sich jedoch offenbar lieber an Felix Klein ab, statt darauf einzugehen.
Ein Stein des Anstoßes ist die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA), die von der Bundesregierung seit 2017 genutzt wird. Die gesamte Definition ist hier nachzulesen. In der Debatte geht es vor allem um einen Satz: „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten.“ Damit im Zusammenhang steht die BDS-Bewegung, die einen kulturellen, wirtschaftlichen und akademischen Boykott Israels fordert und das Existenzrechts des Staates in Frage stellt. Zurecht hat der Bundestag im vergangenen Jahr BDS als antisemitisch eingestuft und beschlossen, BDS-Gruppierungen nicht mehr staatlich zu fördern.
Allerdings ist israelbezogener Antisemitismus im Lager der passionierten Israelkritiker*innen umstritten. Dabei sind sie ganz auf der Linie der Düsseldorfer Oberlandesgerichts, die den Brandanschlag auf die Wuppertaler Synagoge 2014 als politische „Israelkritik“ werteten und nicht als Antisemitismus. Israelbezogener Antisemitismus gilt den Verfasser*innen des Briefes offenbar als „wirksame Strategie der israelischen Regierung, jegliche Kritik der völkerrechtswidrigen Besatzungs- und Siedlungspolitik als antiisraelisch und antisemitisch zu brandmarken“. Tatsächlich ist aber gerade der Hass auf Israel und seine Auswirkungen auf Juden und Jüdinnen in Deutschland ein drängendes Problem. Die renommierte Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel stellt dazu etwa im Deutschlandfunk fest: „Der Israel-bezogene Antisemitismus ist ohne jeden Zweifel die dominante Form. Hier treffen sich alle Antisemiten.“ Und auch der Behauptung, dass Kritik am Staat Israel sofort unter Antisemitismus falle, stellt Schwarz-Friesel Fakten gegenüber: „Niemand aus der Forschung, niemand in den Medien – ich habe das auch empirisch überprüft an Hunderten von Texten – hat allen Ernstes jemals gesagt, legitime Kritik an der israelischen Regierungspolitik sei Antisemitismus. Die einzigen, die das behaupten, sind eigentlich diese Briefeschreiber. Das ist ein Phantasma in den Köpfen.“
Israelkritiker*innen lösen Nahost-Konflikt?
Dazu kann man zwischen den Zeilen des Briefes und anderer Verlautbarungen aus dem Umfeld der „besorgten Bürger und Bürgerinnen“ vor allem den Glauben daran erkennen, dass würde man ihnen nur zuhören, der Nahost-Konflikt praktisch beendet wäre. So geht es im Brief zuerst um den Historiker Reiner Bernstein, der von einem deutsch-israelischen Autor in die Nähe des Antisemitismus gerückt wurde, dagegen klagte und vor Gericht verlor. Bernstein leitete in den 1970er Jahren die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG), verlor seine Position allerdings wegen Differenzen in Sachen Israelkritik. Die Verfasser*innen des Briefes betonen auf merkwürdige Art und Weise, dass Bernstein kein Jude sei: „Reiner Bernsteins Engagement, der, anders als von Shalicar behauptet, kein Jude ist, gründet in seiner historischen Verantwortung als Deutscher.“
Auch Aleida Assmann gehört zu den Unterzeichner*innen des Briefes. Die Ägypptologin, Kulturwissenschaftlerin und Professorin in Literaturwissenschaft hatte sich zuvor schon an der Debatte um die Ruhrtriennale und den kamerunischen Historiker Achille Mbembe beteiligt. Jeweils für drei Jahre wird die Triennale von einer Person geleitet. Von 2018 bis 2020 war das die Dramaturgin Stefanie Carp, die es sich nicht nehmen ließ, in den drei Jahren ihrer Intendanz, drei Mal BDS-nahe Künstler*innen und Vortragende einzuladen. 2020 sollte Achille Mbembe die Triennale eröffnen. Der Historiker ist zwar nicht bekennender Teil von BDS, hat aber 2010 einen BDS zuzuordnenden Aufruf unterschrieben und soll unter anderem sogar schon persönlich dafür gesorgt haben, dass israelische Wissenschaftler*innen nicht an Konferenzen teilnehmen konnten. Des Weiteren finden sich in seinen Texten wissenschaftlich schwierige Holocaust-Vergleiche. Sein Auftritt fand schlussendlich nur deswegen nicht statt, weil die Triennale corona-bedingt abgesagt wurde. Auch Assmann scheint davon überzeugt zu sein, dass der Nahostkonflikt nur mit Hilfe deutscher Israelkritiker*innen zu lösen ist. Einen in der Berliner Zeitung erschienen Text zur Mbembe-Debatte beendet sie mit diesen bemerkenswerten Worten: „Denn jetzt verläuft eine neue Trennungslinie zwischen denen, die bemüht sind, den Staat Israel mit ihrer Kritik zu unterstützen und zu verbessern, und denen, die entschlossen sind, ihn gegen jegliche Kritik zu immunisieren.“ In anderen Worte: Der jüdische Staat ist auf die Hilfe deutscher Kritiker*innen angewiesen, um „besser“ zu werden. Wie schon im Fall Bernstein, dessen „historische Verantwortung als Deutscher“ ihn zur Israelkritik legitimiert. Auf die Idee, dass diese „historische Verantwortung“ auch daraus bestehen könnte, Israels Existenzrecht zum Beispiel gegenüber der BDS-Bewegung zu verteidigen, kommen die Kritiker*innen derweil offenbar nicht.
Falsche Fakten
Der Brief führt zwei zentrale Argumente auf, die bei näherer Betrachtung nur wenig mit der Realität zu tun haben. Zum ersten werfen die Verfasser*innen dem Antisemitismusbeauftragten vor, dass das Buch „Der neu-deutsche Antisemit“ von Shalicar mit öffentlichen Geldern gefördert worden sei. „Menschenverachtendes Ausmaß“ hätte diese Förderung. Das Problem: Eine Förderung hat es nie gegeben. Das bestätigt auch der Verlag Hentrich & Hentrich. Zusammen mit anderen Autor*innen war Shalicar lediglich Teil einer von der DIG veranstalteten Lesereise, die vom Antisemitismusbeauftragten unterstützt wurde.
Zum zweiten geht es um die „drohende, völkerrechtswidrige Annexion palästinensischer Gebiete durch Israel“. Die Verfasser*innen „erwarten eine entschlossene Initiative der Bundesregierung“. Tatsächlich steht im Koalitionsvertrag der neuen israelischen Regierung unter Benjamin Netanyahu, der Plan das Staatsgebiet Israels durch Teile des Westjordanlandes zu erweitern. Das ist bisher nicht erfolgt und der Prozess wird in israelischen Medien kritisch begleitet. Ob und wann es überhaupt zu einer solchen Maßnahme kommen wird, ist aktuell nicht klar. Trotzdem haben sich aber Bundesregierung und Bundestag bereits eindeutig positioniert. Schon am 07. Juli hatten die Außenminister von Deutschland, Frankreich, Ägypten und Jordanien angekündigt den Plan nicht anzuerkennen. Noch früher, am 01. Juli nämlich, hatte sich auch der Bundestag mit den Annexionsplänen befasst und sie als „im Widerspruch zu internationalem Recht“ verurteilt. Was am 24. Juli in einem offenen Brief gefordert wird, ist also Wochen vorher längst geschehen.
Antisemitismusvorwurf schlägt Antisemitismus
Wenn Israelkritik als so zentrales Menschenrecht verstanden wird, wie es die Verfasser*innen des Briefes offenbar tun, wundert es nicht, dass der Antisemitismusvorwurf ihnen schlimmer erscheint, als Antisemitismus an sich. Die Verfasser*innen machen sich selbst zu Opfern, statt anzuerkennen, dass israelbezogener Antisemitismus das Leben und die Freiheit von Juden und Jüdinnen in Deutschland grundlegend bedroht.
Mehr Informationen zu israelbezogenem Antisemitismus in der Broschüre „Man wird ja wohl Israel noch kritisieren dürfen …?!“. (Download)