Mit Deborah Hartmann haben wir über die Verantwortung von Erinnerung, den „Post-Shoah-Antisemitismus“ und die ewige Schlussstrich-Debatte gesprochen. Ein Hintergrundgespräch zum Zivilgesellschaftlichen Lagebild Antisemitismus 2021 der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus.
Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus: Was verstehen Sie unter Post-Shoah-Antisemitismus?
Deborah Hartmann: Der Post-Shoah-Antisemitismus hat sich in den Nachfolgestaaten des ,Dritten Reiches‘ herausgebildet. Er bezieht sich auf die Erinnerung an die Shoah und artikuliert sich in einer Abwehr der Erinnerung. Diese Abwehr tritt durch eine Relativierung oder gar Leugnung der Shoah in Erscheinung, oft durch die Umkehrung von Opfern und Täter:innen. Versatzstücke davon finden sich auch im israelbezogenen Antisemitismus wieder.
Gab es im letzten Jahr Entwicklungen in diesem Feld und Beispiele, bei denen er sich besonders gezeigt hat?
Im Zuge der Pandemie haben sich auch bei Corona-Leugner:innen immer wieder Versatzstücke gezeigt, die sich in den klassischen Post-Shoah- oder sekundären Antisemitismus einsortieren lassen, zum Beispiel die Behauptung „Wir sind Sophie Scholl“.
Es wäre ein interessanter Gegenstand einer empirischen Untersuchung, ob es mittlerweile Formen von Antisemitismus gibt, die überhaupt nichts mit der Shoah und dem Nationalsozialismus zu tun haben. Ich glaube das nicht. In den allermeisten Fällen gibt es einen Bezug auf diese Vergangenheit.
Sie haben die Corona-Demonstrationen genannt. Wie würden Sie die Entwicklung in dieser Hinsicht beschreiben? Hat der Antisemitismus an Qualität und Quantität zugenommen, hat sich etwas verändert? Haben Sie den Eindruck, dass sich in den letzten anderthalb Jahren Antisemitismus auf eine Art gezeigt hat, wie man es sich vor fünf Jahren nicht hätte vorstellen können?
Ich würde das gar nicht unbedingt an diesem Zeitraum der Corona-Pandemie festmachen. Ich glaube, dass es in dieser Intensität Antisemitismus schon immer gegeben hat. Der Post-Shoah-Antisemitismus tritt im Laufe der vergangenen Jahre deutlicher und heftiger in Erscheinung. Schließlich haben sich die Grenzen des Machbaren und Sagbaren in unserer politischen Alltagskultur stark verschoben. Gleichzeitig gibt es jetzt öffentlich und gesellschaftlich hörbare Stimmen von Jüdinnen:Juden, die über ihre Erfahrungen sprechen. Ich glaube, dass das ein wesentlicher Unterschied ist zu der Art und Weise, in der wir vielleicht vor fünf Jahren noch über Antisemitismus gesprochen haben. Allein die vielen qualitativen und quantitativen Studien, die in den letzten Jahren erschienen sind, von Julia Bernstein, Maria Chernivsky, etc.; die haben das gezeigt, was immer da gewesen ist, aber nicht wahrgenommen wurde. Deshalb tue ich mich schwer mit der Aussage, seit Corona gebe es plötzlich mehr Antisemitismus. Durch Einrichtungen wie die Amadeu Antonio Stiftung, die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) oder das Kompetenzzentrum für Empowerment und Prävention gibt es zentrale Anlaufstellen, wo Jüdinnen:Juden, aber auch andere, denen Antisemitismus begegnet, ihre Erfahrungen artikulieren können.
In welchen Milieus tritt der Post-Shoah-Antisemitismus vor allem auf? Lässt sich das festlegen, oder ist es eher schwierig zu sagen?
Der Post-Shoah-Antisemitismus tritt überall auf. Das kann man nicht beschränken auf eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe oder ein soziales Milieu. Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, und in postnazisitischen Gesellschaften wie in Deutschland und Österreich betrifft das dann eben auch auf die eine oder andere Weise alle Gruppen und Schichten.
Wie schätzen Sie die Rolle der sogenannten politischen Mitte ein? Teilen Sie die Auffassung einer gewissen „Enthemmung“ derer, die sich selbst als diese Mitte bezeichnen – und sich jetzt einen gelben Ungeimpft-Stern anheften? Ist das Entschuldigungsnarrativ dort noch einmal stärker verbreitet als andere Formen des Antisemitismus?
Das kann gut sein. Gerade weil das diese politische Mitte der Gesellschaft ist und gerade weil das Menschen sind, die über sich selbst sagen, dass sie sich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt hätten und sich der Verbrechen ihrer Eltern oder Großeltern bewusst seien: Vielleicht schockiert es dann einfach zu sehen, dass das wahrscheinlich doch nicht in der Form passiert ist, in der man es sich wünschen würde. Aber ich denke, dass das am Ende nur empirische Studien beantworten können. Ja, der Post-Shoah-Antisemitismus findet sich in der Mitte der Gesellschaft. Aber in die Wahrnehmung spielt hier ein gewisses „Erschrecken“ herein. Das Erschrecken davor, dass wir immer gedacht hatten, das seien die Menschen, die sich mit Nationalsozialismus und Massenmord beschäftigt haben – und jetzt fragen wir uns, wieso diese Leute sich einen gelben Stern anheften und die Shoah verharmlosen. Vielleicht fühlen wir uns aus dem Feld der Bildungsarbeit ganz besonders vor den Kopf gestoßen, weil sich Erwartungen, die wir an bestimmte Personen hatten, plötzlich als falsch herausstellen.
Widmen wir uns den Antisemitismusdebatten, die in der letzten Zeit ja geradezu exzessiv geführt wurden. Die politische Rechte wollte und will den berühmten „Schlussstrich“ und eine erinnerungspolitische Wende vollziehen. Aber auch aus postkolonialer Richtung gerät die Shoah als zentraler Bezugspunkt deutscher Erinnerung unter Druck. Sehen Sie darin eine Gefahr?
Ich glaube, es gibt verschiedene Gefahren und Gefahrenpotentiale. Zum einen fördert das tatsächlich eine Art „Schlussstrichmentalität“: Mit der Shoah hätten wir uns jetzt lange genug beschäftigt, jetzt müssten wir uns mit den Verbrechen des deutschen Kolonialismus auseinandersetzen. Zum anderen gibt es eine seltsame Tendenz, hier eine Opferkonkurrenz aufzumachen, wie wir sie von früheren Diskussionen über verschiedene Opfergruppen des Nationalsozialismus kennen. Die Opfer kolonialer Verbrechen und die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus werden geradezu gegeneinander ausgespielt. Suggeriert wird dann, die Auseinandersetzung mit der Shoah würde verhindern, sich mit anderen Verbrechenskomplexen auseinanderzusetzen. Das ist natürlich eine absurde Gegenüberstellung. Die Beschäftigung mit der Shoah verhindert nicht die Auseinandersetzung mit der Kolonialvergangenheit. Sie musste gegen Erinnerungsabwehr, Schweigen und Ignoranz hart erkämpft werden. Einen ähnlichen Kampf erleben wir jetzt, um die Sichtbarmachung der deutschen Kolonialvergangenheit. Die Erfahrungen aus den Auseinandersetzungen mit der Erinnerung an die Shoah können dabei hilfreich sein, genauso wie die Identifikation von Verbindungslinien aber eben auch Unterschieden. Kolonialgeschichte gegen Shoah-Erinnerung auszuspielen legt allerdings den Eindruck nahe, es ginge nicht wirklich darum, neue Räume für verdrängte historische Erfahrungen zu schaffen, sondern die Bedeutung der Shoah zu minimieren.
Sie sprachen von verschiedenen Gefahren.
Die andere Gefahr der aktuellen Debatten ist, dass aktuelle Erscheinungsformen von Antisemitismus verharmlost werden. Das ist beispielsweise, was die „Jerusalemer Erklärung“ letztendlich macht: Sie verharmlost an vielen Stellen Antisemitismus, weil sie gar nicht mehr darüber spricht, was Antisemitismus ist, sondern in erster Linie zu definieren versucht, was Antisemitismus alles nicht per se sein soll. In diesen Debatten werden so viele verschiedene Aspekte und Themenkomplexe miteinander vermengt und vieles liest sich kompliziert, bringt am Ende aber wenig Erkenntnisgewinn über Antisemitismus.
An die deutsche Erinnerungskultur gibt es den Vorwurf eines Provinzialismus: Beim Gedenken an die Shoah blicke Deutschland nicht über den eigenen Tellerrand hinaus und halte deshalb beispielsweise an der Singularität der Shoah fest.
Dass die deutsche Erinnerung „provinziell“ ist, muss ich zum Teil bestätigen. Pauschal kann man das natürlich nicht sagen, aber die deutsche Erinnerungskultur hat sich tatsächlich lange darum bemüht, national zu bleiben. Dadurch wurde sich internationalen Diskursen, die es schon länger gibt, ein wenig versperrt. Vielleicht war man aus einer leicht arroganten Haltung heraus der Meinung, dass andere eher von Deutschland lernen können, als dass wir etwas davon mitnehmen können, wie in anderen Regionen der Welt über die Shoah diskutiert wird.
Dabei werden aber Dinge miteinander vermengt. Klar gibt es einen deutschen Provinzialismus auch in der Erinnerungskultur. Den habe ich auch gespürt, als ich in Yad Vashem gearbeitet habe. Eine gewisse Ambivalenz gibt es aber meiner Erfahrung nach: Die Leute, die die Debatte über Singularität eröffnen und den deutschen Umgang mit der Geschichte als provinziell kritisieren, sind oft dieselben Leute, die dann wiederum einer internationalen und transnational arbeitenden Gedenkstätte wie Yad Yashem zum Vorwurf machen, sie würde von außen bestimmen, wie an die Shoah erinnert werden muss. Dabei ist Yad Vashem fortschrittlicher als die deutschen Diskurse und Debatten.
Vor 15 Jahren schon hat Yad Vashem das Postulat der Singularität aufgegeben und die Präzedenzlosigkeit als Begriff aufgenommen. Vor allem im pädagogischen Kontext finde ich die Singularitätsthese problematisch und würde dafür plädieren, von der Shoah als Präzedenzfall oder präzedenzlosem Ereignis zu sprechen.
Mit welcher Begründung?
Der Historiker Yehuda Bauer hat das einmal ausformuliert und hat durchaus recht: Wenn wir ein Ereignis als singulär bezeichnen, hat das im pädagogischen Kontext die Konsequenz zu sagen: Es ist einmal passiert und wird sich nicht wiederholen – warum sollte man sich dann damit auseinandersetzen? Dann könnten wir sagen, der Nationalsozialismus und seine Helfer:innen repräsentieren das absolut Böse, nochmal kann das aber nicht geschehen. Dabei ist die Devise stattdessen: „Es ist passiert, also kann es wieder passieren“. Deshalb finde ich den Begriff der Singularität an dieser Stelle schwierig.
Kommen wir zurück zum Antisemitismus heute und seinen konkreten Auswirkungen: Man ist sich einig und die Zahlen belegen, Antisemitismus ist seit der Pandemie sichtbarer geworden. Wie viel davon kommt bei Ihnen als Gedenk- und Bildungsstätte an?
In Wannsee selbst hatte ich wenig mit Besucher:innen zu tun, weil es sie bedingt durch die Schließung nicht gab, seit ich hier arbeite. Was ich merke – das hat aber nicht viel mit Corona zu tun, sondern mit der Debattenkultur: Ich war auf Podien eingeladen zu Antisemitismus, also auch zur IHRA-Definition und zur „Jerusalemer Erklärung“. Da habe ich schon mindestens zwei, drei sehr komische Emails bekommen, in denen erst klassische anbiedernde Versatzstücke von Philosemitismus vorkamen. Dann brach es aber doch aus den Leuten heraus, dass das keine echten Juden sein könnten, die „so etwas“ in Bezug auf Netanjahu oder den Staat Israel sagen, im Angesicht dessen, was doch da gemacht werde mit den Palästinenser:innen.
In Yad Vashem wurde ich mit solchen Mails nicht konfrontiert. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass man sich in Israel eben doch in einem geschützten Raum befindet und ich bislang nicht viel in der deutschen Öffentlichkeit präsent gewesen bin. Deshalb fand ich es interessant, plötzlich damit konfrontiert zu sein, die ein oder andere komische Mail im Postfach zu haben oder Bemerkungen von außen zu erhalten. Diese Zuschriften waren übrigens auch von ebenjenen Leuten, die ich als Mitte der Gesellschaft ansehen würde. Die sagen, sie hätten sich ja schon so viel und intensiv mit der Shoah auseinandergesetzt.
Welche Forderungen haben Sie an die antisemitismuskritische Arbeit und Erinnerungspolitik?
Meine Forderung ist im erinnerungspolitischen Kontext, zu dem auch die Gedenkstätten und die Bildungsarbeit zählen, dass wir uns innerhalb unserer Organisationen verstärkt mit Formen des Antisemitismus auseinandersetzen. Teilweise wird es schon gemacht, aber Gedenkstätten stehen noch am Beginn der Auseinandersetzung. Die Beschäftigung mit dem Post-Shoah-Antisemitismus ist natürlich sehr naheliegend und israelbezogener Antisemitismus ist damit eng verknüpft. Ich glaube, dass wir uns besonders in diesem erinnerungskulturellen Kontext Strategien für den konkreten Umgang überlegen müssen: Empfangen wir zum Beispiel AfD-Politiker:innen und -Gruppen oder nicht? Aber auch die Entwicklung von Materialien sollte vorangetrieben werden. Denn das sind Dinge, die zum Beispiel Lehrer:innen durchaus nachfragen. Mit dem Hinweis, dass ein Gedenkstättenbesuch Antisemitismus nicht zum Verschwinden bringt, ist es seitens der Gedenkstätten eben nicht getan. Da müssen wir überlegen, welche Konzepte und Beiträge wir darüber hinaus auf diesem Weg leisten können.
Was fordern Sie als Vertreterin der Zivilgesellschaft von der Politik?
Ach, es sind ohnehin immer dieselben Sätze, die als Forderung in Richtung der Politik kommen. Ich weiß, dass es auch in Deutschland immer die Forderung nach mehr Finanzierung und institutioneller Förderung gibt. Aber gleichzeitig ist Deutschland für viele aus österreichischer Perspektive eine Art …
… Best-Practice-Beispiel?
Ja, mir war gar nicht die Tragweite dieses Unterschiedes bewusst: Aber mir wird immer mehr klar, warum Österreicher:innen so interessiert daran sind, mit deutschen Institutionen zu kooperieren. Weil dort im Gegensatz zu Österreich schlichtweg Förderung da ist.
Ich würde mir wünschen, dass die Verbindung zwischen Gedenkstätten und antisemitismuskritischer Bildungsarbeit mehr gefördert wird. Die arbeiten oft sehr getrennt. Wir brauchen aber Programme, die so aufgebaut sind, dass sie diese Verschränkung noch mehr fördern als das bisher der Fall ist.
Und was würden Sie wiederum genauso von der Zivilgesellschaft fordern?
Diese Forderungen sind wahrscheinlich gar nicht zu trennen von dem, was man sich von Akteur:innen wünscht, die im Gedenkstättenbereich tätig sind. Natürlich wünscht man sich auch von der Zivilgesellschaft, dass eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit eigenen Haltungen zu Antisemitismus stattfindet. In Zuge der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas im Mai 2021 haben wir als Haus der Wannsee-Konferenz eine Presseerklärung und Tweets veröffentlicht mit Bezug auf israelbezogenen Antisemitismus, aber auch über den Angriff auf Erinnerungskultur im Zuge der folgenden antisemitischen Vorfälle. Und ich glaube, wir waren im Bereich der Gedenkstätten fast die einzige Einrichtung, die klar Stellung bezogen hat. Mein Eindruck war, dass auch andere Institutionen gewisse Vorgänge komisch finden. Aber wünschenswert wäre, wenn die Gedenkstätten sich in den öffentlichen Debatten nicht heraushalten, sondern Stellung beziehen.
Foto oben: Wikimedia / Avi1111 / CC BY-SA 4.0