Antisemitismus wird oft als der älteste Hass bezeichnet, da seine Geschichte Tausende von Jahren zurückreicht. Im Laufe der Geschichte sind die Kernvorurteile gegen Juden und Jüdinnen konstant geblieben, aber die Form des Antisemitismus hat sich stets weiterentwickelt und angepasst, um in jedem neuen Jahrhundert immer neue Zielgruppen zu erreichen. Nun erleben wir die Weiterentwicklung im digitalen Zeitalter. Das Internet und die Plattformen der sozialen Medien haben das Wesen des Antisemitismus und die Mittel, mit denen er verbreitet wird, verändert.
Deshalb haben wir – die Amadeu Antonio Stiftung aus Deutschland, Hope not Hate aus Großbritannien und die Stiftung Expo aus Schweden – eine umfassende Recherche durchgeführt, um zu belegen, wie sich Antisemitismus heute in den sozialen Medien manifestiert. Nach zehn Jahren der Warnung, der Diskussionen und der Moderationsbeteuerungen der Sozialen Netzwerke müssen wir feststellen: Der Zustand ist alarmierend.
Antisemitismus ist – natürlich neben anderen Formen von Hassrede – nach wie vor auf allen von uns untersuchten Social-Media-Plattformen weit verbreitet und virulent. Das beweist die Unzulänglichkeit der Moderationsverfahren, mit denen er bekämpft werden soll. Dazu kommt, dass sich der Antisemitismus online im Zuge der globalen Covid-19-Pandemie noch einmal sprunghaft vermehrt hat, weil er seit Ausbruch der Covid-19-Panemie durch Verschwörungsideologien noch viel mehr Verbreitung erlebt hat. Und das in ganz Europa.
Historisch gesehen wurden Juden und Jüdinnen ohne jeden Grund für jede größere Krise zum Sündenbock gemacht, von den mittelalterlichen Seuchen bis zu den Anschlägen vom 11. September 2001. Es ist leider nicht überraschend, dass während der aktuellen globalen Pandemie Juden und Jüdinnen wieder von Antisemit:innen beschuldigt werden, eine vermeintliche geheime Macht hinter COVID-19 zu sein – eine Aktualisierung alter antijüdischer Verschwörungserzählungen, an deren Entwicklung und Verbreitung verschiedene Social-Media-Plattformen beteiligt waren, wie unser Bericht zeigt.
Antisemit:innen machen aber Juden und Jüdinnen nicht nur für Tragödien verantwortlich, die sie nicht begangen haben. Sie leugnen auch Tragödien, die Juden und Jüdinnen selbst erlebt haben, allen voran steht die Leugnung des Holocausts. Unsere Ergebnisse zeigen, wie sich die Form der heutigen Holocaustleugnung an die Online-Räume anpasst, in denen sie artikuliert wird. Die Leugner im digitalen Zeitalter leugnen den Holocaust nicht mehr nur rundheraus – auch, weil das oft sanktioniert wird. Aber sie leugnen ihn auch mit Chiffren und Andeutungen. Sie ziehen den Holocaust ins Lächerliche, verspotten die Opfer oder feiern ihn gar- natürlich „nur ironisch“, „schwarzer Humor“ – so die Argumentation, um Löschungen zu entgehen.
Wir haben sowohl große als auch kleinere Plattformen untersucht – Mainstream-Plattformen wie Facebook und YouTube ebenso wie „alternative“ Plattformen wie Parler und das /pol/-Board von 4chan, die hauptsächlich von Personen mit rechtsextremen Sympathien genutzt werden -, um zu verstehen, wie sich die Moderationsrichtlinien, Algorithmen und Nutzungsbedingungen der verschiedenen Online-Plattformen auf die Art des Antisemitismus auswirken, den wir auf ihnen gefunden haben.
Es überrascht nicht, dass extremer Antisemitismus in größeren Mengen zu finden ist, je lockerer die Richtlinien sind und je weniger Moderation es gibt. Technologieunternehmen haben die Möglichkeit, die Menge und das Ausmaß des Antisemitismus auf ihren Plattformen zu beeinflussen – wir müssen aber feststellen, dass viele von ihnen bisher versäumt haben, das Problem anzugehen.
Besonders besorgniserregend ist, dass wirkliche alle Formen und Extreme des Antisemitismus auf allen von uns untersuchten Plattformen zu finden sind, auch wenn die Mengen je nach Plattform variieren. Trotz eines Jahrzehnts der Diskussion und der Änderung von Richtlinien durch die Unternehmen gibt es derzeit keine Plattform, auf der Antisemitismus und Hassreden im Allgemeinen nicht leicht zu finden sind.
Unser Bericht beweist, dass die großen Technologie-Plattformen tatsächlich Online-Räume geschaffen haben, in denen Antisemitismus gedeihen kann, mit schädlichen Auswirkungen, die bis zu Terrorismus gegen jüdische Gemeinden gehen. In Deutschland jährte sich am 09. Oktober 2019 das Attentat in Halle. Ein zuvor polizeiunbekannter, aber online vernetzter und radikalisierter rechtsextremer Attentäter versuchte an Jom Kippur, in die Synagoge eindringen und Jüdinnen und Juden zu erschießen. Als der Attentäter nicht an der Synagogentür vorbeikommt, erschießt er erst eine Passantin und später, in einem türkischen Restaurant, einen Kunden. Die Tat wollte er online live streamen, sein Publikum suchte er im Internet. Um Attentäter-Livestreams zu verhindern und schnellstmöglich zu bannen, haben die großen Netzwerke sich im Global Internet Forum to Counter Terrorism (GIFCT) zusammengeschlossen. Doch was ist mit den alltäglichen antisemitischen Anfeindungen? Es ist jedoch auch klar, dass Technologieunternehmen Maßnahmen ergreifen können und in unterschiedlichem Maße auch ergriffen haben, um den Umfang und die Schwere des Antisemitismus auf ihren Plattformen deutlich zu verringern.
Es ist jedoch ebenso klar, dass noch viel mehr getan werden muss – wir haben im Bericht dazu Ideen zusammengetragen. Angesichts des zunehmenden Wachstums sogenannter „alternativer“ Plattformen, die aktiv Hassreden wie Antisemitismus aufnehmen, verteidigen und verbreiten, sind auch wirksame Rechtsvorschriften erforderlich.
Genug ist genug. Es ist an der Zeit, dass sich sowohl die Unternehmen als auch die Regulierungsbehörden nachdrücklich dafür einsetzen, das Gift des Antisemitismus und der Hassrede im gesamten Technologiesektor zu bekämpfen.
Die Amadeu Antonio Stiftung, Expo und Hope not hate veröffentlichen am 13.10.2021 anlässlich der Konferenz „The Malmö International Forum on Holocaust Remembrance and Combating Antisemitism“ einen neuen, internationalen Report (englisch):
Antisemitism in the Digital Age
Online Antisemitic Hate, Holocaust Denial, Conspiracy Ideologies and Terrorism in Europe
A Collaborative Research Report by Amadeu Antonio Foundation, Expo Foundation and HOPE not hate
2021
Hier gibt es den Report als PDF zum Download.
Inhalt:
- Executive Summary
- The Report in Numbers
- Introduction
- Conspiracy Ideologies,
COVID-19 and Antisemitism - Superconspiracies: QAnon and
the New World Order - Case study: Path of
radicalisation into antisemitism - The Changing Nature of
Holocaust Denial in the Digital Age - Case Studies of Antisemitism
on Social Media: - Parler
- Telegram
- TikTok
- YouTube
- “4chan /pol/”
- Glossary of Antisemitic Terms
- Learnings from Project
English Version of this text: