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Die Coronavirus-Pandemie hat vielen Menschen nicht gutgetan. Darunter waren auch einige Prominente, die plötzlich zu Fürsprechern von Verschwörungsideologien und Demokratiefeindlichkeit wurden. Aus Überzeugung, aus Berechnung, aus Wunsch nach Aufmerksamkeit in einer Zeit, in der die sonst in der Öffentlichkeit Agierenden zur Untätigkeit gezwungen waren? Das wissen letztendlich nur die Beteiligten allein. Doch einige haben sich dabei weiter aus dem Fenster gelehnt und ihre vorhergehenden Karrieren nachhaltiger zerstört als andere. Absoluter Spitzenreiter ist Attila Hildmann. Das könnte der Gesellschaft egal sein, wenn er nicht so viele aufgeputschte Follower hätte, dass es ein Gefahrenpotenzial birgt. Während die staatlichen Behörden nichts tun, um von Hildmann Markierte zu schützen.
Der Weg zu Avocadolf und Hirsehitler
Attila Hildmann, gebürtiger Sohn türkischer Eltern, der von einer deutschen Familie adoptiert wurde, und in Berlin aufwuchs, war bereits als veganer Koch eine Figur, an der sich die Szene rieb: Einerseits ein – auch finanziell – erfolgreicher Selfmade-Man, der sich als Autodidakt mit einem YouTube-Channel und einen Blog selbst bis zum erfolgreichen Autor von Kochbuch-Bestsellern promotete, der mit zahlreichen Fernseh-Aufritten in der Öffentlichkeit stand, eigene vegane Produktlinien herausbrachte und zwei Imbisse in Berlin eröffnete. Andererseits trat Hildmann dabei laut bis großspurig auf, wollte den Veganismus aus der Tierrechts-Ecke holen und für Fitness-Publikum attraktiv machen, indem er vegane Ernährung mit Fleischersatzprodukten propagierte, für die Fleisch-Fans auf nichts mehr verzichten müssten – in der veganen Szene der frühen 2000er Jahre provokante Töne, auch wenn sich das Konzept später als umso erfolgreicher erwies. Als 2014 viele Schutzsuchende aus Syrien nach Deutschland flüchtete, fiel Hildmann durch flüchtlingsfeindliche Abwertungen auf. Auf Kritik reagierte Hildmann seit spätestens 2017 mit verbaler Gewalt und Sexismus.
Warum die Coronavirus-Pandemie Hildmann dann noch so viel mehr aus der Bahn warf, weiß er allein – dass es der Fall war, konnte dagegen jede*r live online und auf der Straße verfolgen. Ab März 2020 begann Hildmann, sich für Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen zu interessieren, ab Mai 2020 meldete er selbst Autokorsos, Demonstrationen und Kundgebungen in Berlin an. Dabei wurde er am 23. Mai wegen Verstößen gegen das Versammlungs- und das Infektionsschutzgesetz kurzzeitig festgenommen und erhielt eine Strafanzeige. Das nächste Mal wurde er am 29. August 2020 in Berlin festgenommen, nachdem er unter anderem in Reden vor dem Reichstagsgebäude gefordert hatte, die Absperrgitter zu entfernen und den Demonstranten Zugang zum Gebäude zu gewähren.
Im Juni 2020 eröffnete Hildmann seinen eigenen Telegram-Kanal, der rasch 50.000 Follower gewann und sich bis November 2020 auf rund 119.000 Follower steigerte. Nach Schwankungen hatte der Kanal seine höchste Anhängerschaft im Februar 2021 mit über 120.000 Fans, aktuell folgen rund 112.000 Follower seinen Aktivitäten online.
Zuwachs der Followerschaft, dargestellt bei telemetr.io
Nach eigenen Angaben hätten ihn „Medien“ wie der für Desinformationen bekannte russische Internet-TV-Sender „RT Deutsch“ „aufgeweckt“ (vgl. Tagesspiegel). Hildmann verbrüderte sich dann schnell mit anderen prominenten Pandemieleugner*innen und Verschwörungsfans wie Xavier Naidoo, abzulesen auch an gegenseitigen Zustimmungsbekundungen und Shares online, was wiederum zu mehr Fans führt. Hildmanns Verhältnis zu „Querdenken“-Akteuren wie Michael Ballweg war dagegen wechselhaft. Mal beschimpfte man sich, mal hielt man zusammen, die Presse und die Internetöffentlichkeit schauten interessiert zu. Letztere reagierte mit Spott auf Attila Hildmanns Aktivitäten und sprach schon vom „Avocadolf“ oder „Hirsehitler“, bevor Hildmann selbst realisierte, dass er die gleichen Initialen wie Adolf Hitler besitzt.
Der Weg der Radikalisierung
„Am Anfang“, sagt Volker Beck, „war der ja auch noch ein Suchender. Da war die ganze Verschwörungswelt, auch die verschiedenen antisemitischen Narrative, offensichtlich noch neu für ihn, und er hat ständig Wikipedia-Artikel über Themen gepostet und sich so sein Weltbild zusammengepuzzelt.“ (vgl. Belltower.News)
Der Grünen-Politiker Volker Beck, der für sein Engagement gegen Antisemitismus bekannt ist, musste sich frühzeitig mit Attila Hildmann beschäftigen, weil dieser ihn als Feindbild auserkoren hatte. Und zwar in einer Weise, die bereits zeigte, dass es nicht beim Suchen bleiben würde: Hildmann veröffentlichte online und verkündete auf Demonstrationen gewaltverherrlichende und detailreich Mordfantasien und Mordaufrufe gegen Volker Beck. Feinsäuberlich stets im Konjunktiv gehalten und doch für seine Anhänger:innen klar als Handlungsanweisung verständlich. Volker Beck hat Hildmanns Ausfälle von Anfang an angezeigt, konsequent und mehrfach, weil dies leider nötig war (vgl. Focus). So gehört er auch zu denen, die an einer Strafverfolgung von Hildmanns Taten seit langem interessiert und über den Stand der Ausführung frustriert sind. Dazu später mehr.
Antisemitismus
Attila Hildmanns Telegram-Kanal wird seit der Gründung täglich mehrfach bespielt, mit Text- und Bildpostings, Links, Videos und Audiodateien. Von der Coronamaßnahmen-Kritik, Demonstrationsaufrufen und großmäuligem Posieren mit Waffen kam Hildmann schnell zu Verschwörungsideologien. Hildmann beginnt bei rechtsextremen Reichsbürger-Ideen eines nicht-souveränen Deutschlands ohne legitime Verfassung, fügt die Kaiserreichs-Flaggenfarben Schwarz-Weiß-Rot in seinen Telegram-Kanalnamen ein, hängt sich eine entsprechende Flagge an die Zimmerwand über seinen Computer. Doch dann interessiert er sich zunehmend für Verschwörungsideologien mit antisemitischen Anteilen.
Ob Hildmann schon vor seiner Radikalisierung 2020 antisemitische Ressentiments pflegte, ist nicht bekannt. Ab Sommer 2020 gewannen antisemitische Dog Whistles (dt. Andeutungen, vgl. Belltower.news) auf seinem Kanal an Bedeutung. Das heißt: Hildmann entwickelt quasi online live Hass auf alles Jüdische und äußert diesen, aber noch nicht offen, sondern über beliebte Codes und Andeutungen (vgl. Belltower.News): Das können Falschinformationen und Lügen sein, die statt von Jüd:innen und Juden von „den Rothschilds“ oder „George Soros“ reden, aber antisemitische Motive wie „Strippenzieher“, „geheim agierende Eliten“ oder „Kindermorde“ beinhalten, die den „Großen Austausch“ (vgl. Belltower.News) oder den „Great Reset“ (vgl. Belltower.News) organisieren sollen. Diese Verschwörungserzählungen sind in der Querdenken-Szene insgesamt beliebt, noch mehr bei den Fans von QAnon, die Hildmann zunächst umwirbt, später aber selbst als Teil einer satanistisch-jüdischen Weltverschwörung ansieht. Dann schreibt Hildmann zunehmend von „Illuminaten“ und „Freimaurern“, „Kulturmarxisten“ und „Satanisten“ – weitere Chiffren für Jüd:innen und Juden, illustriert mit Memes und Karikaturen, die bereits einem „Stürmer“-Stil nahe kommen. Während Antisemitismus-Expert*innen und Hildmann-Fans diese Codes mit Leichtigkeit entschlüsseln, bekommt die Amadeu Antonio Stiftung im Dezember 2020 noch die Anfrage von SpiegelTV, den Antisemitismus von Attila Hildmann zu erklären. Daraus entsteht ein Beitrag, in dem sich Hildmann selbst als „ultra rechts“ darstellt. Kurz nach Ende der Dreharbeiten – und nach Hausdurchsuchungen in seinem Haus in Brandenburg – setzt Attila Hildmann sich in die Türkei ab (vgl. Belltower.News).
Konsequenzen der Zivilgesellschaft
Denn Attila Hildmanns Hetze hat durchaus Konsequenzen: Er verliert im Laufe von 2020 Social Media-Präsenzen auf größeren Plattformen (z.B. Instagram) oder zumindest werden seine Videos und Beiträge mit politisch extremen Inhalten gelöscht (z.B. Facebook, YouTube). Er verliert die Vertriebswege für seine veganen Produkte und Bücher – zahlreiche Handelsketten und Versandhandel wollen keinen Hildmann-Produkte mehr im Programm. Es bleiben Hildmanns eigene Website – und der Shop des rechtsextremen NPD-Funktionärs Sebastian Schmidtke (vgl. Belltower.News), der für Hildmann aber inzwischen ein akzeptabler Partner ist.
Konsequenzen der Strafverfolgung?
Fehlen die Konsequenzen der Strafverfolgung. Anlässe bietet Hildmanns Telegram-Kanal einige: Mord- und Gewaltaufrufe, Verleumdungen und Beleidigungen gegen Menschen, die nicht in sein Weltbild passen, Verwendung verbotener Symbole, Holocaustleugnung. Zahlreiche Monitoring-Gruppen beobachten Hildmanns Treiben, zeigen Aussagen wie Holocaustleugnungen-, Mord- oder Gewaltaufrufe an oder sagen Betroffenen Bescheid, denn Beleidigung etwa kann nur die beleidigte Person selbst anzeigen. So hat auch Volker Beck erstmals von Hildmanns „Todesstrafen“-Aufrufen gegen ihn erfahren – und diese angezeigt, ebenso wie weitere Gewaltaufrufe, die folgten. „Da Hildmann zu der Zeit in Brandenburg wohnte, haben die Berliner Behörden den Vorgang nach Brandenburg geschickt. Das LKA Brandenburg hat die Anzeigen an die brandenburgische Staatsanwaltschaft geschickt, und diese hat sich sehr darin versteift, dass die Bedrohungen im Konjunktiv ausgesprochen gewesen wären und damit nicht strafbar seien. Das sehe ich anders. Es ist ein generelles Problem an: Es ist gängige juristische Praxis, wenn eine Aussage auf mehrere Arten interpretiert werden kann, und eine davon ist nicht strafbar, wird das Verfahren eingestellt. Doch im Internet ist heute alles öffentlich. Solche Aussagen stoßen auf Resonanz und werden so verstärkt. Hier bräuchte es dringend Staatsanwaltschaften, die neu denken und Aussagen stärker kontextualisieren: Wie ernst ist eine Aussage gemeint, wie oft wird sie wiederholt, in welchen Zusammenhängen und Öffentlichkeiten?“
Hildmann erlebt keine strafrechtliche Konsequenz aus seinem Handeln. Erst als die Generalstaatsanwaltschaft Berlin den Fall an sich zieht, wird ein Haftbefehl ausgestellt. Vollstreckt werden kann er nicht mehr: Attila Hildmann verlässt Deutschland, wie Indizien seines Online-Verhaltens zeigen, schon im Januar 2021. Er gibt an, neben der deutschen auch die türkische Staatsbürgerschaft zu besitzen und nimmt deshalb an, erst einmal unbehelligt in der Türkei bleiben zu können. Dabei fühlt Hildmann sich so sicher, dass er sich auf Twitter noch über die Generalstaatsanwaltschaft Berlin lustig macht.
Was ist mit dem NetzDG?
Und damit hat er offenbar Recht. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat eine Anfrage von Belltower.News zum Ermittlungsstand auch nach einer Woche nicht beantwortet (mehr erfuhr auch tagesschau.de nicht). Da Hildmanns Straftaten online stattfinden, könnte das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) greifen. Denn wenn Plattformen strafbare Inhalte nach Meldungen nicht löschen, soll eine Meldung nach NetzDG zumindest zu Strafzahlungen gegen das Netzwerk führen. Hier wäre das Telegram. Leider interessiert sich Telegram nicht für das NetzDG, löscht und sperrt fast keine Accounts und keine Postings, auch die von Attila Hildmann nicht. Auf Nachfrage von Belltower.News antwortet eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums: „Dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sind Initiativen, den Telegram-Kanal von Attila Hildmann zu schließen, nicht bekannt. Ein Kontakt zwischen dem BMJV und dem Anbieter Telegram besteht nicht.“ Weiter führt die Sprecherin aus: „Das Bundesamt für Justiz, das als Verwaltungsbehörde für den Vollzug des NetzDG zuständig ist, erhält indessen vereinzelt Beschwerden von Nutzerinnen und Nutzern, die Inhalte von Herrn Hildmann in sozialen Netzwerken zum Gegenstand haben.“ Dann werde versucht, gegen den Poster vorzugehen, gegen das Netzwerk aber nicht. Hier ist also auch keine Konsequenz zu erwarten.
Warum es gefährlich ist, dass Hildmann weiter hetzen kann
Seit Attila Hildmann sich der Strafverfolgung entzogen hat und mutmaßlich sozial noch isolierter als zuvor in Türkei sitzt, verwendet er keine Chiffren mehr für seinen Judenhass und auch seine Verehrung für den mörderischen Antisemitismus Adolf Hitlers muss er nun nicht mehr verbergen. Er verkündete seinen Fans, er sei nun ein „stolzer echter Nazi“ und ruft zum Widerstand gegen die „Judenrepublik BRD“ auf. Regelmäßig werden Hitler und Goebbels zitiert. Holocaust-Verharmlosung und –Leugnung gehören zum Standardprogramm. Fast jeder Post richtet sich gegen „Juden“, die „Juden-BRD“ oder gern auch „Judenschwuchteln“, um den Antisemitismus noch mit ebenso tiefsitzender Homofeindlichkeit zu kombinieren.
Hildmann hat währenddessen zwar Kanal-Abonennt:innen verloren, aber rund 112.000 Follower sind noch da. Und die sind nicht in der Türkei, sondern größtenteils in Deutschland, und sie sind bereit zu handeln. Fans posten etwa Hakenkreuze aus Hildmanns veganer Bolognese, expliziteste antisemitische Memes und Grafiken im Stil der rechtsterroristischen Atomwaffen Division.
Mehr noch: Wenn Hildmann Menschen oder Orte in seinem Kanal markiert, treten die Fans in Aktion. Nachdem Hildmann 2020 den Pergamonaltar auf der Berliner Museumsinsel als „Thron Satans“ beschrieben hatte, der zerstört werden müsse, kam es im Oktober 2020 zu Säureattentaten auf den Altar und 70 andere Kunstwerke im Pergamon-Museum (vgl. Belltower.News). Jüngst, vor einem Monat, traf es ein Berliner Geschäft, das sich gegen eine Pandemieleugner-Demonstration positioniert hatte und von Hildmann als digitales Angriffsziel benannt wurde. Tagelang dauerte das Bereinigen der Social Media-Präsenzen von Hasskommentaren und das Entfernen politisch motivierter Negativbewertungen, lähmte die Betreibenden in ihren Handlungsmöglichkeiten und hatte so direkte Konsequenzen für Menschen in Deutschland, die sich für Demokratie engagieren und dafür als Feindbilder markiert werden.
Volker Beck, der weiterhin regelmäßig von Hildmann attackiert wird, sagt: „Wer weiß, wie der sich entwickelt hätte, wenn er frühzeitig eine Geldstrafe bekommen hätte – vielleicht wäre seine Selbstradikalisierung dann nicht so sprunghaft geschehen. Aber jetzt ist es schwierig, gegen ihn vorzugehen, seit er in der Türkei ist. Man hätte seiner durchaus habhaft werden können. Aber die Behörden haben offenbar viel falsch gemacht. Mit der Unterstützung von HateAID versuche ich auch zivilrechtlich gegen ihn vorzugehen.“
Vielleicht könnte die Justiz ihr Versagen bei Hildmann auch als Ansporn sehen, wenigstens bei seinen Fans genauer und schneller zu ermitteln. Denn viele von ihnen sind in Deutschland und sind hier gefährlich.