Laut der Generalstaatsanwaltschaft Berlin und dem Berliner Antisemitismusbeauftragten Florian Hengst haben Straftaten gegen Jüdinnen*Juden 2022 wieder zugenommen. Insgesamt habe es 691 Verfahren gegeben, das sind 30 mehr als 2021. Wem diese Zahlen nicht schon erschreckend genug sind, kann einen Blick in die Kommentarspalten unter den entsprechenden Meldungen werfen: Hier grassieren Antisemitismus, Rassismus und Relativierungen.
Florian Hengst spricht gegenüber der dpa von einem „signifikanten Anstieg“ der antisemitischen Straftaten: „Antisemitismus kommt im alltäglichen Leben vor und ist in Teilen der Gesellschaft tief verwurzelt.“ Besonders weist der Antisemitismusbeauftragte auf die Demonstrationen der Corona-Maßnahmen-Kritiker*innen hin. Immer wieder hefteten sich Teilnehmende gelbe „Judensterne“ mit der Aufschrift „ungeimpft“ an, um sich selbst mit verfolgten Jüdinnen*Juden im Nationalsozialismus zu vergleichen. Auch Slogans wie „Impfen macht frei“ machten die Runde. Ebenfalls eine Relativierung des Nationalsozialismus. Der Slogan „Arbeit macht frei“ war eine gern genutzte Toraufschrift an Konzentrationslagern.
Seit Jahren steigen die Zahlen in Berlin an. 2019 gab es in der Hauptstadt noch 386 Verfahren, 2020 waren es bereits 417, 2021 gab es 661 Verfahren. Wichtig ist dabei zu bemerken, dass es sich um Verfahren und keineswegs um Anzeigen oder Vorfälle handelt. Es geht also lediglich um die Fälle, bei denen tatsächlich Anklage erhoben wurde. Die Dunkelziffer bei antisemitischen Übergriffen, Beleidigungen und NS-Relativierungen dürfte bedeutend höher ausfallen.
Die Recherche und Inforationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Berlin hat dementsprechend nur zwischen Januar und Juni 2022 450 antisemitische Vorfälle registriert. Dabei handelt es sich um neun Angriffe, zehn Sachbeschädigungen, zehn Bedrohungen, 417 Fälle von verletzendem Verhalten und vier Massenmailings mit antisemitischem Inhalt. Für das Jahr 2021 zählte RIAS 1.052 Meldungen. Auch eine Umfrage der EU-Grundrechtsagentur von 2018 gibt einen Eindruck auf mögliche Dunkelziffern. 79 Prozent der befragten Jüdinnen*Juden in Deutschland, die in den vorangegangenen fünf Jahren beleidigt, angegriffen oder belästigt wurden, hatten auf eine Anzeige verzichtet.
Wie diese Nachricht in der deutschen Öffentlichkeit ankommt, zeigt ein Blick in die Kommentarspalten der Medien, die über den erneuten Antisemitismus-Anstieg in Berlin berichtet haben. Dabei wird deutlich: Die Kommentator*innen setzten sich nur selten mit Antisemitismus auseinander. Vielmehr dominieren Schuldabwehr, Rassismus und der Einfachheit halber noch mehr Rassismus.
Antisemiten sind immer die anderen
Niemand will gerne Antisemit sein. Deswegen müssen selbstverständlich „die Anderen“ schuld an den neuen Höchstwerten in Berlin sein. Der Lieblingsvorwurf lautet hier: importierter Antisemitismus. Zahllose Kommentator*innen glauben, dass antisemitische Straftaten ausschließlich von Migrant*innen, Geflüchteten oder generell Nicht-Deutschen begangen werden.
Kombiniert wird das alles mit Rassismus und aktuellen Diskursstrategien. Kommentator*innen verlangen die Vornamen der mutmaßlichen Täter*innen, um ganz sicher zu sein, dass keine – in ihren Augen – „echte Deutsche“ unter den angeklagten Antisemit*innen sind.
Israel ist am Antisemitismus schuld
Der Antisemitismusbeauftragte der Staatsanwaltschaft hatte angemerkt, dass Jüdinnen*Juden „in bösartiger Weise“ für Dinge verantwortlich gemacht würden, mit denen sie nichts zu tun hätten. Die Geschichte wiederholt sich unmittelbar. Denn für die Kommentator*innen ist eigentlich Israel schuld am deutschen Antisemitismus.
Manche der Kommentator*innen gehen weiter und schrecken auch nicht vor unmittelbarem Antisemitismus wie aus dem Lehrbuch zurück. Skrupellose „jüdische Bankiersdynastien“ beuten die Welt aus, kombiniert mit israelbezogenem Antisemitismus entsteht so die perfekte Entlastung für Berliner Antisemitismus.
Lernrenitenz
Besonders erwähnt der Antisemitismusbeauftragte die Verschwörungsgläubigen aus dem „Querdenken“-Umfeld, die immer wieder durch NS- und Holocaustrelativierungen auffallen. Die Pandemieschutzmaßnahmen werden mit dem Nationalsozialismus verglichen, Anti-Maßnahmen-Aktivist*innen sehen sich selbst als die Erben von Widerstandskämpfer*innen oder behaupten, die Maßnahmen seien vergleichbar mit den mörderischen Repressionen gegen Jüdinnen*Juden während des Nationalsozialismus. Was daran das Problem ist, kommt nicht bei allen an. Einige Kommentator*innen machen einfach dort weiter, wo sie aufgehört haben.
Realitätsverlust
Einige Kommentator*innen scheinen sich allerdings komplett von der Realität verabschiedet zu haben und bringen Whataboutism auf ein neues Level. Dabei handelt es sich um die Strategie, vom eigentlichen Thema abzulenken, in dem auf ein anderes umgeschwenkt wird. Zum Beispiel von antisemitischen Vorfällen in Berlin hin zu angeblicher Diskriminierung von Russ*innen. Andere Kommentator*innen wollen von Antisemitismus gleich gar nichts wissen, sondern fordern, jugendliche Klimaaktivist*innen stärker strafrechtlich zu verfolgen.
Der Blick in die Kommentarspalten ist wie so oft auch ein Blick in den Abgrund. Statt darüber nachzudenken, was gegen den grassierenden Antisemitismus getan werden kann, bestätigen viele Kommentator*innen lediglich das Grundproblem. Sie ignorieren Antisemitismus, wehren jegliche Verantwortung ab und suchen die Schuld für Übergriffe, Beleidigungen und Hass woanders, statt vor der eigenen Haustür. Im Kampf gegen Antisemitismus bleibt noch viel zu tun.