Die Gründe für die Auswanderung von Roma in Bulgarien vor allem in westliche Staaten der EU, darunter auch die Bundesrepublik, liegen einerseits in der Hoffnung auf bessere ökonomische Perspektiven in den Aufnahmestaaten. Andererseits ist es der manifeste Rassismus der (weißen) Bevölkerungsmehrheit, der ebenfalls für die Emigration verantwortlich ist.
Die Zahl der in Bulgarien lebenden Roma ist schwer zu rekonstruieren. Laut den Angaben der letzten Volkszählung aus dem Jahre 2011 gibt es offiziell 325.000 Roma, was knapp fünf Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Da aber davon auszugehen ist, dass die Befragten aus Angst vor Diskriminierung ihre eigene Identität häufig leugnen, ist eine deutlich höhere Zahl wahrscheinlich.
Rassismus gegen Roma
Rassismus gegen Roma hat eine jahrhundertealte Tradition, der je nach historischen Begebenheiten mal stärker und mal schwächer ausgeprägt war. Vor allem nach dem Ende des kommunistischen Regimes in Bulgarien sehen sich die Roma in Bulgarien durch gewalttätige rassistische Ausschreitungen bedroht. Ressentiments wegen ihrer Hautfarbe, Sprache und Kultur gehört für die Roma in Bulgarien genauso wie diskriminierende Behandlungen durch Behörden, Polizei und Justiz zum Alltag.
Die Rechtsbeihilfe für Roma (Human Rights Project/Legal Defense of the Gypsies) listet eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen auf. Darin ist immer wieder von unverhältnismäßigen und brutalen Reaktionen der Polizei bei Bagatellvergehen von Roma die Rede. In der Nacht vom 19.6.2003 wurden mehrere Roma in einer Bar in Dobrich von Polizeibeamt_innen, die dort die Personalien überprüften, brutal zusammengeschlagen. Einige Roma erlitten Rippenbrüche, einer Frau wurde eine Pistole in den Mund geschoben.
In Sofia und anderen Städten bildeten sich dem Ende des Sozialismus militante rassistische Gruppen zumeist von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, die Jagd auf Roma machten. Am 29.10.1992 attackierte eine Gruppe von Student_innen der Lovech-Sportschule drei Roma in einer Diskothek. Drei Tage später starb ein Rom an einer durch die Schläge verursachten Gehirnblutung. Am 31.10.1993 wurde der Roma-Club in Varna überfallen und das Mobiliar zerstört. Im Winter 1992/93 wurde bettelnde Roma-Straßenkinder von Student_innen einer Elite-Hochschule systematisch verprügelt.
Im Spätsommer 2007 wurde bei einer Schlägerei zwischen Roma und weißen Jugendlichen aus der Bevölkerungsmehrheit in der Kleinstadt Samokow ein 17-jähriger Rom zu Tode geprügelt, was die örtlichen Behörden als normale Schlägerei zwischen Jugendlichen ohne jeglichen rassistischen Hintergrund herunterspielten.
Die Unruhen von 2011
Kurz vor den bulgarischen Präsidentschaftswahlen 2011 kam es zu den schlimmsten rassistischen Ausschreitungen gegen die Minderheit der Roma seit Jahrzehnten. Nachdem ein Rom in der Stadt Katuniza, 160 Kilometer östlich von Sofia, für den Tod eines 19-Jährigen Jugendlichen aus der Bevölkerungsmehrheit verantwortlich gemacht worden war, kam es zu pogromartigen Ausschreitungen durch rechte Gewalttäter_innen. Mehrere Häuser und Autos des Beschuldigten wurden in Brand gesetzt. Fußballhooligans aus dem benachbarten Plovdiv schlossen sich den gewaltsamen Ausschreitungen an. Bei Auseinandersetzungen mit den angerückten Sicherheitskräften starb ein 16-jähriger Junge angeblich an Herzversagen, fünf Menschen wurden verletzt. Die Polizei nahm rund 400 Randalierer_innen fest. Zudem wurde der Rom selbst festgenommen. Ihm wurde vorgeworfen, den Jugendlichen absichtlich überfahren zu haben. Verschiedene Roma-Organisationen warfen der Polizei vor, zu spät gegen die Randalierer_innen eingegriffen zu haben. Tatsächlich verstanden die Rechten die zögerliche Haltung der staatlichen Ordnungskräfte als Freibrief für weitere rassistische Ausschreitungen gegen Roma und andere Minderheiten. In der Folgezeit weiteten sich die Ausschreitungen gegen Roma auf ganz Bulgarien aus.
„Ataka“ organisierte die Proteste
Vor allem die extrem rechte Partei Ataka organisierte die Proteste in der Hoffnung, bei den anstehenden Präsidentschafts- und Kommunalwahlen am 23.10.2011 Stimmengewinne verbuchen zu können. Mehrere tausend Menschen gingen in insgesamt 14 Städten auf die Straße, in den Nächten weiteten sich die Proteste dann zu Gewaltexzessen aus. Nach Zusammenstö ßen mit der Polizei wurden in Blagoewgrad zum wiederholten Male Dutzende von Gewalttäter_innen festgenommen. Zuvor hatten rechte Skinheads Jugendliche das lokale Roma-Viertel angegriffen. In den Tagen nach den Ausschreitungen in Katuniza demonstrierten in der Hauptstadt Sofia bis zu 2.000 Menschen. Vor allem Jugendliche zogen wiederholt mit rassistischen und nationalistischen Parolen wie „Z*** zu Seife“ oder „Alle Z*** raus“ durch die Straßen und liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. In Plovdiv bewarfen rechte Skinheads ein von Roma bewohnten Haus mit Steinen und Knallkörpern und wurden erst durch die Polizei daran gehindert, das Gebäude zu stürmen. In Varna verletzte ein jugendlicher Rechter eine Romni am Kopf, die ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.
Die landesweiten Unruhen in Bulgarien führten zu massenhaften Festnahmen in mehr als einem Dutzend Städten. Beamt_innen internierten mehr als 160 Menschen und konfiszierten kleine Sprengsätze, Messer und Schlagstöcke. Die rassistisch motivierten Auseinandersetzungen gelten in dem ärmsten Land der Europäischen Union als die schwersten Krawalle seit 1997. Damals löste eine Wirtschaftskrise mit folgender Hyperinflation Unruhen aus. Die Proteste wurden erstmals in den sozialen Netzwerken im Internet organisiert. Die bulgarische Polizei beobachtete mehrere Facebook-Gruppen, in denen Rassist_innen gegen Roma agitierten. Im Internet wurden vorsätzlich Mitteilungen über angeblich durch Roma begangene Verbrechen verbreitet, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat.
Die Regierung negiert politische Ursachen der Gewalt
Der Vorsitzende von Ataka, Volen Siderov, bezeichnete in einer Rede vor dem Präsidentenpalast die „Islamisierung“ und die „Z***isierung“ als die eigentlichen Probleme Bulgariens. Weiterhin verlangte er den Abriss der Roma-Siedlungen in den Städten und die Wiedereinführung der Todesstrafe. Die regierende konservative GERB wies wider besseren Wissens Einschätzungen zurück, es habe sich bei den jüngsten Ausschreitungen um Gewalt zwischen „ethnischen Volksgruppen“ gehandelt und verwies jeden rassistischen Hintergrund in das Reich der Spekulation. Der Präsidentschaftskandidat der GERB, Rosen Plevneliev stellte fest: „Das waren rein kriminelle Taten und keine ethnischen Spannungen“.
Zum Autor
Der Verfasser, Politikwissenschaftler und Publizist Michael Lausberg, Dr. phil, studierte Pädagogik, Philosophie, Politikwissenschaften und Neuere Geschichte sowie den Aufbaustudiengang Interkulturelle Pädagogik an den Universitäten Aachen, Köln und Amsterdam. Er promovierte an der RWTH Aachen mit einer Arbeit mit dem Titel „Die extreme Rechte in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Seit 2007 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Regelmäßige Veröffentlichungen im Migazin, DISS-Journal, bei Kritisch Lesen und in der Tabula Rasa.