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Argumente So funktioniert die türkisch-islamische Staatsideologie als Quelle für Antisemitismus

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Symbolbild türkische Flagge. (Quelle: pixabay / www_slon_pics)

In der Türkei hat sich seit über 100 Jahren eine Staatsideologie formiert, in der der Hass gegen Nicht-Muslime, die Ablehnung des Westens und das Streben nach einer homogenen türkischen Nation, in der die Einheit von Glaube, Sprache und Abstammung erreicht werden sollte, zentrale Säulen sind. Diese Staatsideologie hat seit etwa 40 Jahren einen stärker islamischen Charakter erhalten.

Die türkisch-islamische Staatsideologie stellt in der Türkei das hegemoniale „Wissen“ dar und wird in Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen gelehrt und weiter reproduziert. Auch in Politik, Gesellschaft und Medien ist diese Ideologie vorherrschend und erhält nur wenig Widerrede. Ganze Generationen sind mit dieser Staatsideologie aufgewachsen und haben so eine zutiefst antidemokratische und antipluralistische Weltsicht erhalten, in der die positiven Bezugspunkte nicht in der Moderne, sondern in den idealisierten und fantasierten Urzeiten der türkischen Nation und des Islams liegen.

Auch unter den türkischsprachigen Muslimen in Deutschland ist diese Staatsideologie wirkmächtig. Es ist kaum überraschend, dass Menschen, die mit diesen Narrativen aufwachsen, sich davon nur schwer lösen können. Erschwerend kommt hinzu, dass durch die faktische Kontrolle der türkischen DITIB-Moscheen in Deutschland durch die türkische Religionsbehörde die türkische Staatsideologie immer wieder ungestörten Einfluss auf die türkischsprachigen Muslime nehmen kann.

Aber der größte negative Faktor hierbei ist die Indifferenz der deutschen Politik und der deutschen Gesellschaft. Bis heute werden die türkischsprachigen Muslime, aber auch andere Muslime, nicht als Teil der einen gemeinsamen Gesellschaft in Deutschland angesehen, sondern als Außenstehende oder gar als Fremde. Weder können so die Interessen der türkischsprachigen Muslime erkannt werden, noch ist ihre adäquate Partizipation möglich.

Ebenfalls findet keine Auseinandersetzung mit den Weltbildern und Denkmuster der türkischsprachigen Muslime statt und stattdessen werden, wenn es zu Konflikten kommt, diese Konflikte als „fremd“ deklariert, die keinen Platz in Deutschland hätten. Aber der erste richtige Schritt wäre es zu verstehen, dass es sich hierbei nicht um exotische oder „fremde“ Konflikte handelt, sondern dass sie eine Folge des Nationalismus sind, der sich in verschiedenen Ländern unterschiedlich formiert hat – und gleichzeitig fast immer einen antidemokratischen und antipluralistischen Kern besitzt.

Auch die Feststellung, dass der türkische Nationalismus als eine Quelle für antisemitische Narrative fungiert, muss ist keineswegs eine Bestätigung der Behauptung vom „importierten Antisemitismus“ sein. Es geht nicht darum, die Verantwortung für Judenfeindschaft in Deutschland zu externalisieren.

Vielmehr zeigt sich, dass der türkische Nationalismus in Deutschland sich im Kontext der hiesigen Gesellschaft aktualisiert und verändert hat und diese Ideologie keineswegs außerhalb Deutschlands steht, sondern eine der zahlreichen nationalistischen Ideologien hierzulande ist. Aus dem türkischen Nationalismus in der Türkei selbst sind indes verschiedene Narrative in die aktuelle Ideologieform übertragen und reformiert worden, die für Verschwörungsideologien und antisemitische Hassreden relevant sind. Einige dieser Narrative sollen exemplarisch beleuchtet werden.

Die türkische „Dolchstoß“-Legende und ihre Folgen

Eines der historisch relevanten Narrative des deutschen Antisemitismus ist die deutsche „Dolchstoß“-Legende, wonach Jüdinnen*Juden u.a. für die Niederlage des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg die Schuld tragen würden, weil sie angeblich die kämpfenden Truppen hinterrücks erdolcht hätten.

Eine vergleichbare Erzählung entwickelte sich wenige Jahre zuvor im Osmanischen Reich, Bündnispartner Deutschlands im Ersten Weltkrieg, ebenfalls  um die eigenen Misserfolge und Niederlagen zu erklären. Die türkische „Dolchstoß“-Legende bleibt auch deswegen bis heute wirkmächtig, weil sie durch die Staatsführungen sowohl im Osmanischen Reich als auch in der Republik Türkei zur offiziellen Erklärung für die Kriegsniederlagen wurde. Darüber hinaus wurde daraus ein Erklärungsmuster für viele andere Fälle. Es entwickelte sich dementsprechend zu einer gängigen Praxis, für real existierende oder vorgestellte Probleme Verschwörungen der äußeren und inneren Feinde gegen die türkische Nation, verantwortlich zu machen.

Insofern sind die Äußerungen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, dass der US-Philanthrop George Soros der „Strippenzieher“ hinter den Gezi-Protesten 2013 gegen die türkische Regierung sei, wenig überraschend, wenn man die Geschichte der türkischen „Dolchstoß“-Legende kennt. Erdogan hatte jedoch bei der Konstruktion seiner Verschwörungserzählung ein zentrales Problem: Zwar konnte er den äußeren Feind relativ einfach benennen, aber beim inneren Feind wurde es schwieriger. Denn der innere Feind wird im türkischen Nationalismus immer noch als nicht-muslimisch markiert und die Gezi-Protestierenden ließen sich schlecht als Christ*innen oder Jüdinnen*Juden markieren.

„Dönme“, die Erzählung über die Krypto-Jüdinnen*Juden

Mit diesem „Problem“ hatten auch schon frühere türkische Nationalist*innen zu kämpfen,  was angesichts des verschwindend kleinen Anteils von Christ*innen und Jüdinnen*Juden in der heutigen Türkei wenig überraschend ist. Und sie haben auch eine Lösung entwickelt, die darauf setzt, Menschen, die nicht jüdisch sind, zu Krypto-Jüdinnen*Juden zu erklären. Sie behaupten dabei, dass die sogenannten „Dönme“, eine kleine Gemeinschaft von Jüdinnen*Juden, die im 17. Jahrhundert im Osmanischen Reich zum Islam konvertiert sind (aber im nicht-öffentlichen Bereich jüdische Bräuche noch eine Zeitlang weiter pflegten), heute Politik, Gesellschaft und Medien in der Türkei kontrollieren würden.

Weil die „Dönme“ sich dabei nicht als Jüdinnen*Juden zu erkennen geben, sondern so auftreten würden, als seien sie Muslime, können türkische Nationalist*innen jeden verdächtigen ein „Dönme“ zu sein und der Gegenbeweis ist schlicht nicht zu leisten. Wenn Krypto-Jüdinnen*Juden, die sich als Muslime ausgeben, sich verschworen haben, um die Türkei aus dem Schatten heraus zu kontrollieren, wie das antisemitische Narrativ besagt, wie kann dann bewiesen werden, dass dies nicht stimmt? Jeder Hinweis, der dieses Narrativ in Frage stellt, würde von den türkischen Nationalisten als ein Trick der „Dönme“ markiert werden, die weiter ihre Verschwörung geheim halten wollen.

Anschlussfähigkeit und Räume der Sagbarkeit

Obwohl das „Dönme“-Narrativ keineswegs unbekannt ist und Staatspräsident Erdogan grundsätzlich nicht davor zurückschreckt, antisemitische Narrative zu bedienen, hat Erdogan zwar mit der Hetze gegen George Soros eine antisemitische Aktualisierung der „Dolchstoß“-Legende geliefert, aber die „Dönme“-Erzählung für sich nicht genutzt. Die Gründe dafür liegen darin, welche Narrative staatlich und damit gesamtgesellschaftlich etabliert und akzeptiert sind.

Während die „Dolchstoß“-Legende faktisch zur Staatsdoktrin in der Türkei wurde, ist dies im Falle der „Dönme“-Erzählung nicht der Fall. Die Räume der Sagbarkeit sind für diese Erzählung deutlich eingeschränkt; so können Autor*innen dieses Narrativ bedienen, Fernsehmoderator*innen darüber sprechen, als sei es real. Zum offiziellen Narrativ wird es jedoch nicht und keine relevante politische Partei wird darüber ihre Kampagnen betreiben.

Die antisemitische Erzählung über die „Dönme“ wird zugelassen und toleriert, aber nicht aktiv eingesetzt von der Staatsführung. Das macht deutlich, dass der staatliche Umgang mit Verschwörungsideologien und antisemitischen Narrativen entscheidend dafür ist, ob sie politisch wirksam sind oder nicht. Zivilgesellschaftliche Initiativen können solche Ideologien der Ungleichheit und Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nicht wirksam bekämpfen, wenn sie von staatlichen Institutionen in Stich gelassen oder behindert werden.


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