Seit den frühen Mittwochmorgenstunden sind zahlreiche Beamt*innen im Einsatz. In zwölf Bundesländern durchsuchten sie die Wohnungen und Grundstücke von 39 Mitgliedern der Artgemeinschaft. Laut Tagesschau beschlagnahmten die Ermittler*innen das Vereinsvermögen und sicherten Beweise.
Erst vergangene Woche ging das Innenministerium mit einer Razzia gegen die rechtsextreme und militante Bruderschaft „Hammerskins” vor und verbot die Gruppe. Nun folgt die Artgemeinschaft.
Aber was ist das für eine Gruppe?
Die „Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V.“ ist eine pseudo-religiöse, völkische, neuheidnische, rechtsextreme und neonazistische Organisation in Deutschland, eingetragen beim Amtsgericht Berlin-Charlottenburg. Vereinsmitglied kann nur werden, wer die „nordisch-fälische Menschenart“ verkörpert. Mitglieder müssen außerdem das „Artbekenntnis“ und das „Sittengesetz unserer Art“ bejahen und dürfen keiner anderen Religionsgemeinschaft angehören. „Art“ steht hier synonym für „Rasse“. Das Symbol der Artgemeinschaft ist dieIrminsul. Zur Zeit der Nationalsozialisten wurde die Irminsul zu einem Gegensymbol zum christlichen Kreuz. Neben der Irminsul dient auch der Adler, der einen christlichen Fisch angreift, als Logo, das auch markenrechtlich auf die Artgemeinschaft eingetragen ist.
Die Fachjournalistin und Expertin Andrea Röpke warnt seit Jahren vor der Gruppe. „Die Artgemeinschaft bringt völkische, orthodoxe, fundamentale, Nationalsozialisten mit der militanten Szene aus dem subkulturellen Milieu des Rechtsextremismus zusammen.“ Es sei eine unberechenbare Szene, die unter dem Dach einer angeblich naturreligiösen Gemeinschaft ihre Treffen abhält.
Historie: „Blut-und-Boden-Ideologie“ der Nazis
Zentral für die Ideologie der Artgemeinschaft sind völkische Ansichten und die Ablehnung dermodernen Gesellschaft. Bereits im Kaiserreich formierten sich anti-moderne Bewegungen, die um die Existenz des „germanischen Urvolks“ fürchteten. Wobei als Motoren der Moderne „die Juden“ ausfindig gemacht wurden. Um das vermeintlich „deutsche Urvolk“ zu erhalten, wurde in der Weimarer Republik der Bund „Artam“ 1926 gegründet. Dieser Siedlungsbund propagierte ein autarkes und bäuerliches Leben in den deutschen Ostprovinzen. Die „Blut-und-Boden-Ideologie“ wurde später ein zentrales Element des Nationalsozialismus. 1934 wurde der Bund Artam in die Hitlerjugend eingegliedert.
Nachdem die Alliierten Nazideutschland besiegt hatten, wurden viele völkische Vereine in den 1950er Jahren neu gegründet. Ein positiver Bezug auf den Nationalsozialismus musste vermieden werden. So ist die Blut-und-Boden-Ideologie, die beim „Bund Artam“ noch offen propagiert wurde, bei der Artgemeinschaft etwas weniger offensichtlich. Aus strategischen Gründen geben sie vor, eine religiöse Verbindung zu sein.
SS-Mitglied Wilhelm Kusserow formulierte 1934 das rassistische und antisemitische „Nordische Artbekenntnis“, nachdem er 1927 die „Nordische Glaubensgemeinschaft“ gegründet hatte. 1951 gründete er dann die Artgemeinschaft. Später übernahm der mittlerweile verstorbene Holocaust-Leugner, NPD-Funktionär und Spiritus Rector der Neonazis, Jürgen Rieger, den Vorsitz der Artgemeinschaft. Lange Jahre führte der ehemalige Magdeburger Kameradschaftsaktivist Jens Bauer den Verein. Am 09. Juni 2023 wurde ins Vereinsregister eingetragen, dass er nicht mehr Leiter ist. Er selber will schon seit dem Jahre 2021 nicht mehr Vorsitzender und seit Dezember 2021 nicht mehr Mitglied des Vereins „Artgemeinschaft e.V.“ gewesen sein.
Die Religion der Artgemeinschaft: Ablehnung der Moderne, Rassismus und Antisemitismus
Religion beschreibt die Artgemeinschaft als „Erkenntnis dessen, was wir heilig zu halten haben“: Das wäre dann beispielsweise die „Erhaltung der Art“ und die Bewahrung des „genetischen Erbes“. In einer Welt mit einer „Vielzahl von Rassen und Völkern“ könne dies nur in „einer eigenen Religionsgemeinschaft“ umgesetzt werden. Ihr Volksverständnis ist biologistisch. Deutschsein, gar die deutsche Rasse, definiert sich bei ihnen über das Blut, über die Vorfahren. Menschen, die seit Generationen in Deutschland leben, deren Großeltern jedoch beispielsweise aus der Türkei kamen, sind für sie trotz ihres deutschen Passes keine Deutschen.
Indoktrinierung der Kinder: „Arier-Züchtung“
Mehrmals im Jahr richtet die Artgemeinschaft Lager und Brauchtumsveranstaltungen aus. Viele richten sich direkt an den Nachwuchs. Seit Jahren warnen Beobachter*innen der Szene vor der Indoktrinierung von Kindern durch völkische Bewegungen wie der Artgemeinschaft. „Die Kinder, die ständig zu Netzwerktreffen und Brauchtumsveranstaltungen mitgenommen werden, sind für die Demokratie und weltoffene Gesellschaft kaum noch zu erreichen“, warnt Röpke. Hier wird rassistisches und antisemitisches Gedankengut speziell an Kinder weitergegeben. In diesen Gemeinschaften findet eine „Arier-Züchtung“ statt. Rieger sprach auch von „Super-Ariern“. Rieger und die Artgemeinschaft wollen – wie der Nazi-Verein Lebensborn – Germanen erschaffen: Blaue Augen, blonde Haare, soldatische Disziplin und Aufopferungsbereitschaft für die nationalsozialistische Sache.
Völkische Siedler*innen sind keine militanten Nazis im klassischen Sinn. Sie fallen weniger mit gewalttätigen Übergriffen auf. Ihr Projekt ist langfristig. Der völkische Lebensstil gestaltet das ganze Leben. Die Strategie der Siedler*innen ist es, langfristig Strukturen zu erschließen und vor Ort akzeptiert zu werden. Der ländliche Raum ist ihr Aktionsraum.
Die völkische Landnahme professionalisiert sich
Ein Vorzeigeprojekt der Szene ist etwa die völkische Landnahme in und um die sächsische Gemeinde Leisnig bei Leipzig. Mindestens seit 2018 leben hier die militanten Neonazis Christian Fischer, Lutz Giesen und Mario Matthes mit ihren Ehefrauen und Kindern in völkischen Gemeinschaften. Die Neonazis wollen, dass weitere Kamerad*innen ihren Beispielen folgen und auf dem ostdeutschen Land Höfe kaufen, um weiße-völkische Siedlungsprojekte zu gründen. Dazu haben sie das Projekt „Zusammenrücken in Mittelsachsen“ gegründet, um anderen Neonazis Unterstützung beim Umzug anzubieten. Auch im Raum Leisnig kam es am Mittwochmorgen zu Razzien.
Die völkische Siedler-Bewegung will sich im ländlichen Raum niederlassen, um dort ihre Idealvorstellung der „Volksgemeinschaft“ im Kleinen umzusetzen. Abseits von staatlichen Strukturen versuchen die rechtsextremen Siedler*innen hier, eigene Netzwerke aufzubauen und bereits bestehende Gefüge zu unterwandern. Sie zielen darauf ab, vor Ort eine Vormachtstellung und so politischen Einfluss zu erlangen. Oftmals zieht es Rechtsextreme, die einst auf der Straße aktiv waren, mit Beginn der Elternschaft in völkische Gemeinschaften.
„Stiftungswerk“: Hat sich die Artgemeinschaft auf ein Verbot vorbereitet?
Andrea Röpke hält das Verbot zwar für richtig, aber auch für längst überfällig. „Die Verbindungen ins militante und terroristische Milieu haben ja gezeigt, dass die Gemeinschaft gefährlich ist.“ So fanden nicht nur Mitglieder von „Blood & Honour“ sowie „Combat 18“ dort Unterschlupf, bis 2011 war auch der Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke Mitglied, bis ihm wegen ausgefallener Zahlungen gekündigt wurde, so Endstation rechts. Selbst Neonazis aus dem NSU-Unterstützer-Kreis haben bei der Artgemeinschaft Unterschlupf gefunden. Ralf Wohlleben wohnte etwa nach seiner Verurteilung im NSU-Komplex in Bornitz in Sachsen-Anhalt. Dort wohnt auch sein „Kamerad“, der damalige Kopf der Artgemeinschaft, Jens Bauer.
Ferner hofft Röpke, dass die Behörden aus den Fehlern vergangener Verbote lernt. „Die Erfahrungen der Heimattreue Deutsche Jugend und zuvor der Wiking-Jugend haben gezeigt, dass die Aktivist*innen einfach unter anderem Namen weiter machen.“ Möglicherweise hat sich die Artgemeinschaft bereits auf ein Verbot vorbereitet. Röpke vermutet, dass von Aktivist*innen bereits eine ähnliche Stiftung gegründet wurde, unter dem Namen „Stiftungswerk – Zukunft – Heimat“.
Andrea Röpke: Artgemeinschaft ist keine abgeschottete Sekte
Das Vereinsverbot sei seit über einem Jahr vorbereitet worden, heißt es in einer Mitteilung des Innenministeriums vom Mittwoch. Weiter heißt es dort: „Mit der Artgemeinschaft verbieten wir eine sektenartige, zutiefst rassistische und antisemitische Vereinigung.“ Diese Einschätzung teilt Röpke nicht. Sie versteht die Artgemeinschaft nicht wie das Innenministerium als abgeschottete Sekte. „Im Gegenteil. Die Artgemeinschaft ist immer auch ein Sammelbecken gewesen für verbotene und von Verboten bedrohten militanten Organisationen.“
Röpke hofft darüber hinaus, dass das Verbot nicht einfach nur ausgesprochen wird. “Nun müsste Aufklärungsarbeit erfolgen und Präventionsarbeit geleistet werden.” Denn obwohl die Artgemeinschaft nun verboten wurde, leben die völkischen Familien ja nach wie vor auf den Dörfern und versuchen, die Landnahme voranzutreiben. Menschen vor Ort, die sich gegen diese Demokratie- und Menschenfeinde wehren, müssen besser unterstützt werden.