Eine Chronologie der Ereignisse von Robert Andreasch & Lara Schultz, Varnsdorf.
Rumburk, Freitag, 26. August 2011
Jaroslav Sykáček ist Bürgermeister von Rumburk und Sozialdemokrat. Für den Abend hat er die 11.000 Einwohnerinnen und Einwohner der nordböhmischen Stadt zu einer öffentlichen „Versammlung gegen Gewalt und Kriminalität” aufgerufen. Als Anlass dient eine fünf Tage zurückliegende Schlägerei zwischen Jugendlichen vor der Diskothek „Modrá hvězda“, deren Hintergründe noch im Unklaren liegen, an der aber auch Roma beteiligt gewesen sein sollen. Die Kundgebung, zu der 1.500 Menschen kommen, eskaliert, als Sykáček das Mikrofon an Josef Mašín übergibt, dem er kurz zuvor noch eine gegen Roma gerichtete Demonstration verboten hatte. Mašín, Anführer der hauptsächlich bei Facebook aktiven antiziganistischen Gruppe „Občanský odpor“ („Bürgerlicher Widerstand“), fordert die Zuhörenden auf, Schluss zu machen mit dem Zuzug von „nicht Anpassungsfähigen“. Das Publikum grölt zuerst Parolen, unter anderem „Čechy Čechům” („Tschechien den Tschechen”) und „Cikáni do práce” („Zigeuner, geht arbeiten”), schließlich entwickelt sich aus der Kundgebung ein aggressiver, antiziganistischer Aufmarsch. Die Versammelten ziehen los, drei Stunden lang suchen sie in der Stadt nach Roma, die sie jagen können. Erst als sie am Haus einer Romafamilie den Zaun einreißen und beginnen, damit die Fensterscheiben einzuwerfen, hat die Polizei endlich genug Einsatzkräfte zusammengezogen, um die Marodierenden zu stoppen. Ivan Motýl von der tschechischen Roma-Organisation „ROMEA“ wird Augenzeuge der Angriffe, später berichtet der Geschichtslehrer auf der Homepage seiner Organisation, dass er an die „Kristallnacht“ von 1938 habe denken müssen, als der aufgehetzte Mob auch den jüdischen Gebetsraum in Rumburk zerstört hatte.
Die Berichterstattung deutscher Medien ähnelt in den Folgetagen, so die Ereignisse überhaupt erwähnt werden, den Behauptungen des Mobs: Im „Schluckenauer Zipfel” genannten Landstrich werde die „Gewaltbereitschaft der jungen Roma und ihrer Banden“, immer größer, schreibt die F.A.Z., bei „Welt online” werden in einem Artikel „ rassistisch motivierte Übergriffe von Roma“ beklagt.
Freitag, 2. September 2011
Eine Woche nach den Ausschreitungen von Rumburk nehmen im nur sechs Kilometer entfernten Varnsdorf 500 Bürger*innen an einem unter dem Titel „Der Topf läuft über“ beworbenen Aufmarsch teil. Anmelder ist der durch eine spektakuläre Betrugsserie in Tschechien prominent gewordene Kriminelle Lukáš Kohout. Schon bei der Auftaktkundgebung auf dem Edvard-Beneš-Platz ruft Kohout die Menge per Megafon dazu auf, zu den Roma-Unterkünften zu gehen. Er wird daraufhin verhaftet, doch zu spät: Die Menschenmenge setzt sich in Bewegung. Einem Großaufgebot der Polizei gelingt es, die Brücken über den Fluss Mandava, der als natürliche Sperre dient, zu blockieren. Nach einstündiger Diskussion mit den Einsatzkräften löst sich die an den Absperrungen gestoppte Demonstration langsam auf. Aus einem ursprünglich für 21 Uhr noch angesetzten Marsch mit „Lampions und Fackeln“ wird nichts mehr.
Samstag, 3. September 2011
Am nächsten Vormittag fährt auf dem Beneš-Platz in Varnsdorf ein von der deutschen und tschechischen Polizei gemeinsam beschafftes Überwachungsmobil seine Kameras und Antennen aus. Erneut wird ein Großaufgebot der Polizei zusammengezogen, denn die neonazistische Gruppe „Svobodná mládež” („Freie Jugend”), eine Parallelstruktur des neonazistischen Kameradschaftsnetzwerks „Národní odpor” („Nationaler Widerstand”), hat einen Aufruf zu Aktivitäten verbreitet. Es gibt jedoch keine Anmeldung und auch über den Zeitpunkt einer eventuellen Aktion kursieren nur Gerüchte in der Stadt.
Vor dem ehemaligen „Hotel Sport“, einer heruntergekommenen Massenunterkunft für Romafamilien im Süden der Stadt, versammeln sich zu dieser Zeit zusätzlich zu den dort lebenden 120 Männer, Frauen und Kinder noch Roma aus anderen Ghettos der Region. Es habe Absprachen gegeben, gemeinsam die Unterkünfte zu schützen, erzählt Vilém, der die solidarischen Aktivitäten mitkoordiniert hat. In der Mittagssonne sitzt er mit tschechischen Nachbarinnen und Nachbarn auf einer Bank vor einem benachbarten Wohnblock. Auf die Frage, wie diese die Situation am Vortag empfunden haben, gibt es nur ausweichende Antworten: „Dazu können wir nichts sagen, wir waren gestern nicht zuhause.“ Als Vilém in einer benachbarten Kneipe Zigaretten kaufen will, kommt er mit leeren Händen wieder heraus: „Sie hatten Kippen, aber sie haben gesagt, ich soll zu den Vietnamesen gehen.“
Kurz vor 17.00 Uhr kreist ein Helikopter der Polizei über der 16.000-Einwohner-Stadt, in der etwa 500 Roma leben. Er durchbricht gewissermaßen die Ruhe vor der Sturm, denn rund um den Beneš-Platz treffen innerhalb von wenigen Minuten mehr und mehr Bürgerinnen und Bürger ein. Eine Kundgebung gibt es nicht, stattdessen macht sich die schnell auf über 1.200 Menschen angewachsene Menge im Laufschritt auf ganzer Straßenbreite auf den Weg. An der offensichtlich von Masse und Tempo überraschten Polizei geht es vorbei in Richtung eines Wohnblocks an der Varnsdorfer „Roten Kirche“, in dem ausschließlich Romafamilien wohnen.
Die Stimmung der Menge, die ja gerade Roma zu jagen beabsichtigt, erscheint zunächst eher ausgelassen als aggressiv. Unter den Teilnehmenden in bunten Sommerklamotten sind gleichermaßen Frauen und Männer, Alte und Jugendliche. Viele junge Familien haben ihre kleinen Kindern mitgebracht. Nur wenige rechte Hools und „Autonome Nationalisten“ sind dabei, deutsche Neonazis sind gar nicht über die Grenze gekommen. Lukáš Kohout ist auch wieder da und führt an der Spitze den Zug der Menge an. Mit Sprints durch Vorgärten und dem Klettern über Zäune versuchen viele, die nun aus Kleinbussen springenden, behelmten Spezialeinheiten der tschechischen Polizei zu umgehen.
Wenige Meter vor dem Roma-Wohnblock gelingt es den schwer bewaffneten Anti-Riot-Polizisten gerade noch, eine kleine Absperrkette zu bilden. Die Menge schwenkt davor tschechische Fahnen und stimmt erst ein wütendes Pfeifkonzert, dann die Nationalhymne „Kde domov můj“ („Wo ist meine Heimat”) an. Einige Jugendliche sind richtiggehend enttäuscht, dass das schon alles gewesen sein soll. Am Freitag in Rumburk, so sagen sie offen, sei es viel besser gewesen, da hätten sie ungehindert zu den Roma-Unterkünften gehen und „Zigeuner in die Gaskammern“,„schwarze Säue“ und „wir werden Euch bei lebendigem Leib verbrennen“ rufen dürfen.
Doch die heutige Aktion in Varnsdorf ist noch gar nicht zu Ende, im Gegenteil: In kleinen und größeren Gruppen ziehen die Bürger*innen erneut weiter. Ihr nächstes Ziel ist wie am Vortag wieder das „Hotel Sport” im Süden der Stadt. An der wichtigsten Brücke über die Mandava, die von der Polizei in allerletzter Sekunde noch abgeriegelt werden kann, kommt es zu Auseinandersetzungen, als die vorderen Reihen erfolglos versuchen, die Polizeikette zu durchbrechen. Immer wieder ruft die nun tobende Menge „Zigeuner ins Gas!“ Nach kurzer Zeit des lautstarken Protests macht sich die Menge erneut auf den Weg, die Absperrungen zu umgehen. An der nächstgelegenen Brücke lässt die Polizei zusätzlich einen Wasserwerfer auffahren.
Über den noch weiter südlich gelegenen Bahnhof Varnsdorf gelingt es schließlich mehreren hundert Bürgern, doch direkt auf das „Hotel Sport” zuzumarschieren. Keine 50 Meter vom Haus der Roma entfernt kann die Polizei die gefährliche Masse erst aufhalten. Zwölf Angreiferinnen und Angreifer werden verhaftet, darunter eine Frau wegen ihres T-Shirts mit „Oživte Hitlera“ („Hitler wiederbeleben“)-Aufschrift. Bis in die Nachtstunden kommt es durch die aufgehetzte Menge zu einer Vielzahl von Schmähungen und Provokationen gegenüber den vor ihrer Unterkunft stehenden Roma. Vor allem für die etwa 60 Kinder im Haus ist das ihnen unbegreifliche Geschehen besonders traumatisch, schildert Maria, die einige Jahre in Deutschland gelebt hat und nun mit ratlosem Gesicht vor dem Haus auf die nur wenige Meter entfernt pöbelnden Einwohnerinnen und Einwohner schaut.
In diesem Jahr hat es in der Tschechischen Republik schon einige antiziganistische Aufmärsche gegeben. Etwa alle zwei Monate meldet die tschechische Neonazipartei „Dělnická strana sociální spravedlnosti “ („Arbeiterpartei der sozialen Gerechtigkeit“, DSSS) Demonstrationen an, die stets provokativ durch Romasiedlungen führen, zuletzt unter anderem in Nový Bydžov , Krupka und Přerov. In ihren Mobilisierungsvideos, auf Flyern und mit T-Shirt-Aufdrucken kokettieren die tschechischen Neonazis dabei häufig mit der Chiffre „Litvínov“, dem Namen der böhmischen Kleinstadt, in der Hunderte vermummte Neonazis im Herbst 2008 die bisher schwersten militanten Angriffe auf eine Romasiedlung führten.
Gegen die neonazistischen Demonstrationen in Nový Bydžov, Krupka und Přerov organisierten Parteien und zivilgesellschaftliche Gruppen Gegenaktionen und Blockadeversuche. In Přerov waren Vertreter*innen der Menschenrechtsorganisation „Človĕk v tísni“ („Menschen in Not“) zum Schutz der Roma angereist und hatten zudem in einem der Roma-Hinterhöfe eine Gegenveranstaltung mit Musik organisiert. Beim Neonaziaufmarsch „gegen die Invasion der Fremdarbeiter“ am 1. Mai 2011 in Brno war es dem breit getragenen Bündnis „Brno blockiert“ gelungen, den Zugang zum Romaviertel so zu versperren, dass die Neonazis umgeleitet werden mussten. Gegen die antiziganistischen Aktionen der letzten Tage im Dreiländereck Tschechien-Polen-Deutschland gab es im Gegensatz dazu keinerlei Gegenproteste von zivilgesellschaftlichen oder antifaschistischen Gruppen. Weder der Bürgermeister von Varnsdorf, die lokale sozialdemokratische noch die grüne Partei in der Region wollte sich bisher gegen die antiziganistischen Angriffe stellen.
Ausblick: Samstag, 10. September 2011
Am 10. September 2011, einem Samstag, könnte die Situation in Nordböhmen erneut eskalieren. Von der Pogromstimmung begeistert, hat die DSSS einen antiziganistischen Aufmarsch in Nový Bor und weitere öffentliche „Protestversammlungen“ in Rumburk und Varnsdorf angemeldet. Die deutsche Neonaziszene ruft ebenfalls zur Teilnahme an diesen Aktionen auf, darunter der dem neonazistischen „Freien Netz Süd” und der NPD nahestehende „deutsch-böhmische Freundeskreis” aus Bayern und Sachsen. Auch im neonazistischen „Thiazi”-Forum wird mittlerweile online ins tschechisch-deutsche Grenzgebiet mobilisiert. Userin „Skadi-Freya” schreibt, sie wünsche „den Kammerjägern dort viel Glück und Mut bei der Jagd nach dem Ungeziefer und allzeit einen unzerbrechlichen Knüppel!”
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).