Am Rand einer AfD-Veranstaltung am Wochenende in Henstedt-Ulzburg bei Hamburg wird es für Gegendemonstrant*innen lebensgefährlich: Zwei Anhänger der rechtsradikalen Partei fahren in einem großen Pickup-Truck mutmaßlich gezielt in eine Menschenmasse auf dem Gehweg. Dort wollen Menschen gegen die Partei demonstrieren. Der Truck rast schnell, der Fahrer lenkt seinen Wagen scheinbar absichtlich auf die Demonstrant*innen. Sie versuchen auszuweichen, doch einige werden von der Motorhaube erwischt und weggeschleudert. Fünf Gegendemonstrant*innen werden mit Prellungen und Schürfwunden verletzt, eine von ihnen schwer. Die Frau muss ins Krankenhaus, wo sie bis Sonntagabend bleiben wird. Wegen der Prellung am Oberkörper kann sie schwer atmen. Einem Augenzeugen zufolge soll eine Polizistin gesagt haben, die Frau hätte tot sein können. Das „Hamburger Bündnis gegen Rechts“ spricht von versuchtem Mord.
Doch später wird die Polizeidirektion Bad Segeberg den Vorfall in ihrer Pressemitteilung herunterspielen. So wird aus einem Mordversuch lediglich ein Verkehrsdelikt. In ihrem Statement heißt es: „Demonstranten der rechten und linken Szene gerieten außerhalb des Veranstaltungsgeländes aneinander. Dabei wurde im Rahmen eines Verkehrsunfalls eine Person der linken Szene schwer verletzt.“ Die Staatsanwaltschaft in Kiel ermittele nun wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gegen den Unfallfahrer. Der Beschuldigte sei zudem nach einer ersten Befragung wieder auf freiem Fuß. Ob der mutmaßliche Täter bereits polizeibekannt ist, wollte die Polizei bislang nicht bestätigen.
Die Pressemitteilung der Polizei wird vom antifaschistischen Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus“ stark kritisiert. Ein Augenzeuge, der im Bündnis aktiv ist, weist die Darstellung der Polizei in einem Statement der Gruppe zurück: „Es ist für mich ganz klar, der Fahrer hat beschleunigt, ist auf den Fußgängerweg und wollte Menschen überfahren. Das heißt, er hat in Kauf genommen uns zu töten!“
Der Vorfall ereignete sich nach einer Diskussionsveranstaltung der AfD im „Bürgerhaus“ im schleswig-holsteinischen Henstedt-Ulzburg, einer Gemeinde im Kreis Segeberg. Dort sprach Jörg Meuthen, Bundesvorsitzender der Partei, über die „wirtschaftlichen Folgen der Corona–Krise“. Die abgelegene Ortwahl mag praktische Gründe haben: Der AfD fällt es oft schwer, Eventräume zu mieten.
Aber auch in Henstedt-Ulzburg wird der Protest an diesem Samstag laut: Die Veranstaltung wird ab 14:30 Uhr von einer Gegendemonstration mit über 200 Menschen begleitet, darunter auch die Gruppe „Omas gegen rechts“. Zum Veranstaltungsbeginn treffen im Zufahrtsbereich des „Bürgerhauses“ 60 antifaschistische Protestierende auf Veranstaltungsbesucher*innen der AfD. Zwar kommt es der Polizei zufolge hier zu „Pöbeleien und Handgreiflichkeiten“. Diese Auseinandersetzung sei allerdings friedlich verlaufen, wie es eine Teilnehmerin der MOPO danach schilderte. Mit dem Autoangriff haben diese Zusammenstöße nichts zu tun, was allerdings in der Pressemitteilung der Polizei nicht deutlich wird.
Erst später um 18:30 Uhr, nachdem die AfD-Veranstaltung beendet ist, kommt es zu dem Autoangriff. Laut dem Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus“ werden vier Männer auf der Gegendemonstration beobachtet, die rechte Sticker kleben und rechte Parolen skandieren. Sie werden von der Versammlungsleiterin von der Kundgebung verwiesen. Zwei der Männer steigen dann in einen VW Amarok Pickup-Truck und fahren auf die Demonstrierenden los.
Danach eskaliert die Situation weiter: Ein Warnschuss wird von der Polizei abgegeben. Wie es dazu kommen konnte, ist bislang unbekannt. In der Pressemitteilung der Polizei heißt es: „In der Folge kam es zu Aggressionsdelikten gegenüber Beteiligten und Polizeibeamten, die die Abgabe eines polizeilichen Warnschusses erforderten.“ Gegen welche „Beteiligte“ diese Aggressionsdelikten gerichtet waren und wie der Einsatz einer scharfen Pistole auf einer Demonstration überhaupt gerechtfertigt werden könnte, bleibt unklar.
Rechtsextreme Autoangriffe gegen antifaschistische Demonstrant*innen sind kein neues Phänomen. Bereits in den 1980er Jahren wurden Autos als Waffe Rechtsextremer genutzt. Auch in den USA gab es bereits mehrere sogenannte „Vehicle Ramming Attacks“ aus dem rechtsextremen Spektrum gegen antirassistische Demonstrant*innen – in Ferguson, Nashville, Charlottesville, Los Angeles und vielen anderen Städten. Seit Mai 2020 haben mindestens 68 Menschen „Black Lives Matter“-Protestierende in Autos überfahren. Die Täter sind oft Neonazis oder Mitglieder der „Ku Klux Klan“, doch in sieben Fällen saßen Polizist*innen hinter dem Steuer. „Run Them Over“ ist schon längst zu einem Meme in rechtsextremen Online-Kreisen geworden. Auch der Attentäter von Halle hatte auf der Flucht einen Mann mit seinem Auto absichtlich angefahren. Der Generalbundesanwalt wertet den Angriff in der Anklageschrift allerdings als Verkehrsvergehen.
Dass die Polizei den jüngsten Autoangriff in Henstedt-Ulzburg als „Verkehrsunfall“ darstellt, ist fatal. Denn es verharmlost eine tödliche Strategie von Rechtsextremen, ihre politischen Gegner*innen wortwörtlich mundtot zu machen. Und es zeigt, dass auf die menschenverachtenden Worte der AfD gewaltvolle Taten folgen.