Im NSU-Komplex nehmen die Frauen als Hinterbliebene der Opfer und Angehörigen des NSU eine spezifische Rolle in der Aufarbeitung ein. Darin werden sie nicht nur als Nebenklägerinnen sichtbar. Sie sind Kleinunternehmerinnen, Mütter, Trauernde, Ehefrauen und Töchter. Welche Folgen und Kontinuitäten aus dem NSU hervorgehen, wird mit Blick auf verschiedene Positionen deutlich. Sie zeigen, dass der NSU-Komplex auch nach dem Prozess in München gesellschaftlich relevant bleibt und nicht aus einem kollektiven Gedächtnis verschwinden darf.
Unterschiedliche Perspektiven auf den NSU-Komplex sollen Forderungen und Leerstellen in der Aufarbeitung sichtbar machen. Im Interview reflektiert Ayşe Güleç, Mitinitiatorin des NSU-Tribunals 2017 (http://www.nsu-tribunal.de/ ) und Teil der Initiative 6. April (https://initiative6april.wordpress.com/ ) in Kassel, über Leerstellen der Aufarbeitung, Kämpfe der Angehörigen um die Anerkennung ihrer Analysen und die Bedeutung von Erinnerungspolitik.
Lydia Lierke führte das Interview mit Ayşe Güleç
Seit wann beschäftigen Sie sich mit dem NSU-Komplex und wie kam es dazu?
Ayşe Güleç: Meine ehemalige Arbeitsstelle ist nicht weit vom damaligen Internetcafé der Familie Yozgat, in dem Halit ermordet wurde, entfernt. Ich verließ am 6. April 2006 am späten Nachmittag gegen 17 Uhr mein Büro auf dem Weg nach Hause. Dieser Weg führte mich täglich über die Haltestelle, die jetzt Halitplatz heißt. Auf dem Weg dahin sah ich bereits eine große Gruppe trauernder Frauen, Kinder und Männer vor dem Internetcafé stehen. Als ich mich der Gruppe näherte, erfuhr ich, dass Halit Yozgat, den ich auch persönlich kannte, erschossen wurde.
Kurz darauf begleitete ich auf meinem Weg zum Bahnhof die Demo mit dem Titel „Kein 10. Opfer“, an der über 3000 Menschen teilnahmen, um mit Schildern, Plakaten und Redebeiträgen darauf aufmerksam zu machen, dass hinter der Mordserie an neun migrantischen Kleinunternehmern ein rassistisches Tatmotiv stehen muss. Seit dem Tag, an dem Halit ermordet wurde, begleiteten mich und viele andere Anspannung und Unruhe. Ich konnte nicht recht begreifen, was passiert ist, ich wollte wissen wer die Mörder*innen sind und warum das Wissen der Angehörigen der Opfer darüber, dass hinter den Morden ein rassistisches Motiv steht, in den Ermittlungen keine Beachtung fand.
Auf der Demonstration sprachen İsmail Yozgat, der Vater von Halit, und Semiya Şimşek, die Tochter von Enver Şimşek, deren Vater am 9.September 2000 in Nürnberg vom NSU erschossen wurde, über ein weiteres Problem des Rassismus. Sie wiesen darauf hin, dass ihnen nicht zugehört wird und dass sie wie Täter*innen behandelt werden, obwohl sie die Opfer sind, da ihnen nicht zugehört wird und gesellschaftliche Empathie für ihre Situation fehlt. Das ist ein sehr wichtiger Hinweis: Das was sie mit dem NSU erlebt haben, macht nicht nur auf den strukturellen und institutionellen Rassismus in der Gesellschaft aufmerksam. Darin steckt auch eine Dimension von epistemischer Gewalt. Eine Gewalt gegenüber denen, die etwas sagen, aber denen nicht zugehört wird, ihnen der Schmerz nicht anerkannt wird: das ist die Gewalt nach der Gewalterfahrung. Nach jedem Mord wurden alle Familien verdächtigt, gegen sie wurde ermittelt mit den schlimmsten rassistischen Methoden, die man sich überhaupt vorstellen kann. Sie wurden kriminalisiert und durch die Verdächtigungen innerhalb ihres eigenen Umfelds selbst isoliert. Das alles hat mich sehr beschäftigt.
Was hat sich für die Betroffenen geändert, als der NSU bekannt wurde?
Nachdem der NSU bekannt und öffentlich wurde, erfuhren die Familien Aufmerksamkeit. Sie wurden zu Empfängen eingeladen und wurden angehört. Bedeutend war aber, dass sie auf den Gedenkveranstaltungen über ihre eigenen Erfahrungen, Analysen und Forderungen öffentlich sprechen konnten. Das war ein wichtiger Schritt, da sie ihrem Wissen endlich Gehör verschaffen konnten. 2012 nahm ich mit einigen Freund*innen an der ersten Gedenkveranstaltung für Halit teil. Damals stellte İsmail Yozgat in seiner Rede das erste Mal seine Forderung nach der Halitstraße. Dort, im Haus wo sein Sohn geboren, gelebt und ermordet wurde, sollte die Holländische Straße zu Halitstraße umbenannt werden. Auf diese Forderung gab es sehr merkwürdige Reaktionen bei den Anwesenden der Gedenkveranstaltung. Gesten wie Augenrollen, Aufpusten und leichtes Kopfschütteln. Meine Freunde und ich haben uns sehr gewundert und uns gefragt, was das zu bedeuten hat. Die Reaktion der Menschen hatte uns sehr entsetzt, so dass wir uns dazu entschlossen, die Forderungen der Familie zu unterstützen. Wir gründeten die Initiative 6. April, die bis heute aktiv ist. So habe ich begonnen, mich intensiv mit dem NSU-Komplex zu beschäftigen. Wir haben angefangen, den Kontakt mit der Familie zu suchen und organisierten Veranstaltungen zur Aufklärung über den NSU-Komplex. Später bin ich dann auch nach München gefahren, um den NSU-Prozess zu beobachten.
Welche Rolle nimmt die Familie Yozgat in der Aufarbeitung des NSU-Komplexes ein?
Die Eltern von Halit, Ayşe und İsmail Yozgat, waren in den Gerichtsverhandlungen, aber auch bei den Gedenkveranstaltungen immer sehr aktiv und sprachen öffentlich über Themen, die ihnen wichtig waren. Immer wieder fragten sie, warum der damalige Verfassungsschützer Andreas Temme während des Mordes an Halit im Internetcafé anwesend war. Dieser behauptet, dass er Halit beim Verlassen des Internetcafés nicht gesehen habe. Die Analyse der Eltern ist sehr wichtig und wurde trotz dessen, dass Temmes Aussage nicht stimmen kann, nicht im Gerichtssaal aufgegriffen. Für eine lückenlose Aufklärung wäre das jedoch notwendig gewesen.
Das migrantisch-situtierte Wissen der Angehörigen der Mordopfer und der Überlebenden der Nagelbomenanschläge ist sehr zentral. Das bedeutet, dass diejenigen, die von Rassismus betroffen sind, nicht nur Zeug*innen eines Unrechts sind, sondern Expert*innen in ihren Analysen und Perspektiven. Für eine Aufarbeitung des NSU wären die Analysen und das Wissen der Betroffenen fundamental wichtig gewesen. Um den NSU in seiner ganzen Komplexität zu erfassen, hätte ihr Wissen in den Ermittlungen handlungsweisend sein müssen. Jedoch wurde das weitgehend ignoriert.
Wie schätzen Sie die Darstellung Ayşe Yozgats in den Medien ein?
Die Form der medialen Darstellung verkennt, welche Rolle die Frauen in der NSU-Aufarbeitung haben und bedient rassistische Stereotype über muslimische Frauen. Viele Bilder von Ayşe Yozgat zeigen sie im Hintergrund ihres Mannes, zurückhaltend und mit gesenktem Kopf. Aber ihre Handlungen sind andere: sie war die erste und einzige Person von allen Angehörigen der Mordopfer, die das Wort direkt an die Hauptangeklagte richtete. Das war der 42. Verhandlungstag. Sie appellierte an die Hauptangeklagte endlich einmal zu reden und das Schweigen zu brechen. Sie sagte: „Ich bin eine Frau – sie sind eine Frau. Ich bin Mutter, ich bin aber auch trauernde Mutter, bitte reden Sie!“. Das war ziemlich ergreifend, wenn man sich die Situation in diesem Gerichtssaal vorstellt, der Raum hat keine Fenster nach außen, er ist wie eine Kapsel, zu eng für die vielen Prozessbeteiligten unter denen die Gruppe der Betroffenen als Nebenkläger*innen mit ihren Anwält*innen die größte Gruppe bildete. Keiner der Personen, die aussagten, konnte und wollte die Angeklagte anschauen. Ayşe Yozgat war so klar und klug, als sie sich direkt an die Hauptangeklagte wendete und sie darum bat zu sprechen: „Ich kann nicht mehr schlafen und wenn sie sich ins Bett legen, denken sie daran, dass ich nicht mehr schlafen kann.“. Das war eine sehr wichtige und mutige Ansprache.
Wo werden die Rollen der Frauen in der Aufarbeitung des NSU-Komplex sichtbar?
Wenn ich mir den NSU-Prozess aus einer kritischen, feministischen Perspektive anschaue, dann sind es vor allem die Frauen, die den Kampf um Aufklärung führen.
Die Frauen sind Mütter, Ehefrauen oder Töchter der Ermordeten und sie sind als Nebenkläger*innen aktiv geworden. Sie sind außerdem diejenigen, die bei den Gedenkveranstaltungen sprechen. Trauerarbeit wird als etwas Intimes begriffen, dennoch machten sie ihre Trauerarbeit politisch, indem sie öffentlich darüber sprechen. Sie schreiben über ihre Erfahrungen des Verlustes und darüber was dieser Verlust bedeutet. Sie schlossen sich zusammen und organisierten die Demonstrationen wie in Dortmund und Kassel 2006 bereits vier Jahre vor dem öffentlich werden des NSU. Zusammen mit ihren Anwält*innen sind sie die treibenden Kräfte in der Aufarbeitung.
Elif Kubasik war zum Beispiel diejenige, die vor dem Ende der Verjährungsfrist der sogenannten „Konfetti-Aktion“ Klage einreichte. Dabei ging es um den damaligen Referatsleiter des Verfassungsschutzes „Lothar Lingen“. Er ordnete an, sieben Akten von V-Leuten aus der Thüringer Nazi-Szene zu vernichten. Ihr haben wir es zu verdanken, dass die restlichen Akten wegen der Verjährungsfrist nicht verschwinden.
Wie schätzen Sie die politische Situation nach Ende des NSU-Prozesses ein?
An diesem Tag war ich selbst in München, das war ein Schlag ins Gesicht. Es wurde nochmals deutlich, dass das Gericht in München kein Interesse daran hat, den NSU-Komplex aufzuklären. Stattdessen wurde an der sogenannten Trio-These festgehalten und daran, dass es keine weiteren Helfer*innen gab.
Aber aufgrund der Recherchen und des Wissens der Familien, ihren Anwält*innen und der antirassistischen und antifaschistischen Arbeit wissen wir, dass es um den NSU herum viele Informant*innen gab, die für den Verfassungsschutz gearbeitet haben. Wir wissen, dass der Verfassungsschutz wie auch Ermittlungsbehörden Teil des Komplexes sind. Wir wissen aus den Erfahrungen und aus den Erzählungen der Überlebenden der Nagelbombe und den Angehörigen der Mordopfer, dass die Polizei und deren rassistische Ermittlungsmethoden als Teil des staatlichen Apparats kritisch zu behandeln sind. Auch die Medien berichteten rassistisch. Das Ende des NSU-Prozesses in München war daher ein trauriger Tag. Die Familien haben viel daran gearbeitet, den Untersützer*innenkreis des NSU sichtbar zu machen und das ist ihnen auch gelungen, dennoch wurden sie nicht angeklagt.
Sicherlich werden einige der Familien mit ihren Anwält*innen weitere Schritte überlegen und angehen. Die Familien sind immer noch aktiv, sie werden weiter öffentlich gedenken, auch wenn viele Kommunen inzwischen sagen, der Prozess sei beendet und damit auch das Recht zu gedenken. Trotzdem werden die Angehörigen weiterhin dafür kämpfen, Gerechtigkeit zu erfahren.
Welche gesellschaftliche Auseinandersetzung ist notwendig, damit die Forderungen der Betroffenen erfüllt werden?
Zum Glück gibt es weiterhin NSU-Watch, investigative, arbeitende Personen und Journalist*innen, die die gesamte Nazi-Szene beobachten werden. Außerdem gibt es die verschiedenen Initiativen, die in allen Städten entstanden sind und sich verbunden haben. Aus bundesweiten Bewegung heraus entstand das z.B. Tribunal „NSU-Komplex auflösen!“ und „Kein Schlussstrich“. Gemeinsam werden wir bundesweit auch weiterhin für lückenlose Aufklärung und für die Forderungen der Betroffenen des NSU kämpfen. Und wir werden daran arbeiten, dass Straßen und Plätze endlich zur Halitstraße und der Platz in der Keupstraße Herkesin Meydanı, zum Platz für Alle werden! Daran halten wir fest und fordern, dass die Holländische Straße zu Halitstraße umbenannt wird.
Vor 13 Jahren am 6. April wurde Halit Yozgat ermordet und auch dieses Jahr gibt es wieder eine Demonstration und die Gedenkveranstaltung am Halitplatz in Kassel. Was würden Sie sich an diesem Tag in Bezug auf eine zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung wünschen?
Offiziell hat die Stadt Kassel von einer Gedenkenveranstaltung mit den Angehörigen Abstand genommen. Bis 2017 war es so, dass die Stadt das Gedenken koordinierte. Letztes Jahr sagte der neue Oberbürgermeister der Stadt Kassel das Gedenken ab. Das folgt der Logik, dass mit dem Ende des Gerichtsverfahrens auch das öffentliche Gedenken beendet sei. Das kann natürlich nicht sein, weil wir weiter Halit gedenken wollen. Das Gedenken kann nicht abgesagt werden. Ich wünsche mir, dass auch zukünftig breite Teile der Kasseler Bevölkerung und darüber hinaus zu der Gedenkveranstaltung kommen. Halit war unser Kollege, unser Freund und unser Mitbürger.