Es ist ein sonniger Freitagabend, 15. April 2021. Die „Querdenken“-nahe Gruppierung „Buchen steht auf“ protestiert auf dem Marktplatz der Stadt Buchen (Neckar-Odenwald-Kreis). Ein älterer Mann tritt ans Mikrofon und erklärt: „Mein Name ist Arno und ich bin im Widerstand!“ Seinen Redebeitrag widmet er dem Vegankoch Attila Hildmann. In seinem Telegram-Kanal (ca. 115.000 Abonnent*innen) hetzt Hildmann seit Monaten im Stile der NS-Propagandazeitung „Der Stürmer“ gegen den Juden. In unzähligen Posts behauptet er, der Jude wolle die Menschheit durch die „Giftspritze“ vernichten. Aufgrund seiner antisemitischen und nationalsozialistischen Hetze ermittelt die Bundesanwaltschaft in hunderten Fällen.
Aber der Redner sagt, er verstehe nicht, warum Hildmann „in die rechte Ecke“ gestellt werde – und ergänzt: „Ich hab’ keine Ahnung!“ Es ist aus seiner Sicht nachvollziehbar, dass Hildmann „immer aggressiver“ geworden sei. Schließlich seien, so klagt der Redner, seine Produkte aus dem Sortiment zahlreicher Filialen genommen worden. Der Vegankoch wurde „wirtschaftlich zerstört“. Dass Hildmann ein Antisemit und Neonazi ist, der die Shoah leugnet und Hitler verehrt, ist kein Thema. Anmelder*innen und Besucher*innen der Kundgebung bleiben ruhig. Einzig der Moderator kommentiert, Hildmann habe „sich ein bisschen in die falsche Ecke entwickelt“.
Der ältere Mann betont in seiner Rede, er habe schon vieles über Hildmann gelesen. In diversen Telegram-Kanälen. Auch im Telegram-Kanal der Gruppierung „Buchen steht auf“ sind bereits Beiträge von Hildmann gepostet worden. Im Nachgang der Veranstaltung tauschen sich Mitglieder des Kanals über die Rede des Mannes aus. Ein Mitglied ist traurig, dass die Rede „den ganzen Zeitungsartikel [in der Lokalpresse, TB] dunkel eingefärbt hat“. Andere finden die Rede „großartig“ oder betonen, dass die Meinung gehört werden müsse. Der Redner selbst schreibt im Kanal über Hildmann: „Ich vertrete nicht seine Ansichten und verharmlose sie auch nicht.“ Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Positionen Hildmanns findet nicht statt.
Das hat System. Denn: Die Durchsicht des gesamten „Buchen steht auf“-Kanals, der Mitte Februar 2021 gegründet wurde, zeigt, dass der Kanal keineswegs ein Diskussionsforum fundierter Argumente ist. Die meisten Inhalte werden ohne inhaltliche Debatte, ohne Widerspruch in den Kanal weitergeleitet. Das gilt auch für extrem rechte und verschwörungsideologische Inhalte. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, derartige Inhalte zu löschen. Aber das geschieht nicht. Im Gegenteil: Führende Köpfe, die löschen könnten, verbreiten die Inhalte seit Wochen selbst.
Ein Beispiel: Christa-Maria Ellenberger. Sie, Mitte 20, ist eine Co-Initiatorin der Proteste. Bereits im Herbst 2020 hat Ellenberger die große Bühne gesucht: Nachdem sie Mitte Oktober 2020 im Rahmen einer „Querdenken“-Demonstration in Stuttgart gesprochen hatte, gab sie dem extrem rechten Compact-Magazin ein ausführliches Interview. Ellenberger war die offizielle Inhaberin des Kanals – bis Kritik an ihren Positionen und an den extrem rechten Inhalten des Kanals laut wurde. Der Kanal besteht im Wesentlichen aus Desinformationen und Verschwörungserzählungen. Die Quellen reichen vom Verschwörungsideologen Ken Jebsen bis hin zu Compact und PI-News. Ellenberger selbst bewarb u.a. mehrere Compact-Beiträge und den Kanal des österreichischen Ablegers der antisemitisch-verschwörungsideologischen „QAnon“-Sekte. „Q“ bzw. „QAnon“, eine anonyme Person aus den USA, behauptet, eine globale Elite entführe, foltere und ermorde Kinder, um aus deren Blut eine Verjüngungsdroge zu gewinnen. Der Verschwörungsmythos knüpft an die antijüdische Ritualmordlegende aus dem Mittelalter an. Im Zuge der öffentlichen Kritik verließ Ellenberger den Kanal, aber kehrte nach wenigen Tagen zurück. Nun ist sie nicht mehr die Inhaberin des Kanals, aber die stille Rückkehr offenbart: Die Distanzierungen von der extremen Rechten, die vonseiten der Gruppierung im Zuge der öffentlichen Kritik geäußert wurden, sind strategischer Natur. Sie sollen offenbar die Anschlussfähigkeit an die Breite der Gesellschaft gewährleisten.
Die Positionen und strategischen Distanzierungen von „Buchen steht auf“ lassen sich in ähnlicher Form in den übrigen Querdenken- und Querdenken-nahen Gruppierungen im Nordosten Baden-Württembergs beobachten. Inzwischen hat sich pro Landkreis eine relevante Gruppierung herauskristallisiert. Die regionalen Dynamiken sind recht unterschiedlich:
- „Querdenken 793 – Bad Mergentheim“ (Main-Tauber-Kreis) veranstaltete bereits im Mai 2020 die ersten Kundgebungen, aber konnte über die Monate hinweg keine regelmäßigen Proteste etablieren. Bis heute fanden etwa 15 Versammlungen statt.
- „Querdenken 794 – Öhringen“ (Hohenlohekreis) und „Querdenken 791 – Schwäbisch Hall“ (Landkreis Schwäbisch Hall) gründeten sich erst im Herbst 2020, aber können seitdem einen harten Kern mobilisieren. Die Gruppierungen protestieren wöchentlich. Bis heute fanden etwa 30 Versammlungen in Öhringen und 35 Versammlungen in Schwäbisch Hall statt.
- In den vergangenen Wochen zeichnet sich in Schwäbisch Hall ein Wandel ab. Die regionalen Dynamiken hängen von mehreren Faktoren ab: von der Mobilisierungskraft des Telegram-Kanals und der lokalen Veranstalter*innen, von der Einbindung einer Gruppierung in lokale, regionale und überregionale Netzwerke, von der Art und Weise (Qualität/Quantität) der lokalen Berichterstattung – und nicht zuletzt von den Teilnehmenden der Versammlungen.
- Mit „Buchen steht auf“ (Neckar-Odenwald-Kreis, etwa 10 Versammlungen) und „MenschenWürde 2020“ (früher: „Querdenken 795 – Crailsheim“, etwa 15 Versammlungen) agieren zwei Gruppierungen mit strategischer Distanz zum „Querdenken“-Label. Nach der öffentlichen Kritik an „Querdenken“-Gründer Michael Ballweg und der „Querdenken“-Beobachtung durch den baden-württembergischen Inlandsgeheimdienst ist das Label aus der Sicht einiger Coronaleugner*innen verbrannt.
- Im Vorfeld der Landtagswahlen in Baden-Württemberg (März 2021) wurden die beiden Parteien „dieBasis“ und „WiR2020“ im Nordosten Baden-Württembergs aktiv.
Was sämtliche Gruppierungen und Parteien – abseits unterschiedlicher Labels und Mobilisierung – eint, sind die Inhalte und Quellen in den Telegram-Kanälen. Die Kanäle sind der Dreh- und Angelpunkt der Gruppierungen. Streckenweise zeichnet sich in den Kanälen die Stimmung der Mitglieder ab. Einige Mitglieder radikalisieren sich und verbreiten Aufrufe zum „Volksaufstand“. Die Zeit friedlicher Proteste sei vorüber. Wohin die kontinuierliche Radikalisierung führen wird, ist bislang unklar. Daher bleibt ein zivilgesellschaftliches Monitoring der Gruppierungen dringend erforderlich. Auf der Straße und insbesondere in den Telegram-Kanälen.