In der Nacht vom 08. auf den 09. Februar 2014 hat eine Gruppe von bis zu 20 Neonazis mehr als zehn Menschen einer Kirmesgesellschaft in Ballstädt (Thüringen) brutal überfallen und teils schwer verletzt. Das Gemeindehaus wurde dabei komplett verwüstet. Ballstädt ist ein Ortsteil der Landgemeinde Nessetal im Landkreis Gotha in Thüringen, etwa 700 Menschen wohnen dort. Vor dem Überfall engagierten sich viele Bewohner*innen als Teil einer demokratischen Zivilgesellschaft gegen das so genannte „Gelbe Haus“ im Zentrum des Ortes. Das Haus wurde 2013 durch Thüringer Neonazis gekauft und zum Treffpunkt für die national und international vernetzte lokale Neonaziszene. 13 Männer und eine Frau wurden vor dem Landgericht Erfurt wegen schwerem Hausfriedensbruch und gemeinschaftlicher schwerer Körperverletzung angeklagt. Das Verfahren ist eines der größten Prozesse gegen Neonazi-Gewalttaten der letzten Jahre. Am 24. Mai 2017 wurden neun Männer und eine Frau zu Haftstrafen verurteilt, vier Angeklagte erhielten Freisprüche. Die Urteile fielen härter aus, als von der Staatsanwaltschaft gefordert, jedoch wurde das rechte Tatmotiv nicht berücksichtigt, es sei „keine Nazi-Tat“ gewesen, so der Richter. Dabei wiesen u.a. die Biografien, das Umfeld und die Vorstrafen der Angeklagten sowie die zur Schau gestellte Neonazi-Symbolik während des Prozesses darauf hin, dass die Tat politisch motiviert war. Auch Tatumstände und die Wahl des Tatortes sprechen dafür. Der Überfall diente der Einschüchterung und damit als Versuch, zivilgesellschaftliches Engagement vor Ort zu unterbinden. Das machten die Betroffenen auch in ihren Zeug*innenaussagen vor Gericht deutlich.
Das Urteil war bis jetzt nicht rechtskräftig, da beim Bundesgerichtshof ein Revisionsverfahren zur Prüfung von Rechtsfehlern lief. Anfang Mai diesen Jahres, also drei Jahre nach dem Urteilsspruch, wurde das Urteil durch den Bundesgerichtshof aufgehoben. Die fehlerhafte Arbeit des Erfurter Landgerichts ist ein fatales Signal für die Betroffenen und ein weiteres Beispiel für unzumutbare und mangelhafte gerichtliche Aufarbeitung rechter Gewalt und rechten Terrors in Deutschland.
Rachel Spicker und Enrico Glaser sprachen mit Robert Friedrich von der Beratungsstelle ezra für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen und Kristin Pietrzyk, Nebenklagevertreterin von zwei Betroffenen im Ballstädtverfahren darüber, warum das Urteil aufgehoben wurde, was das für Betroffene bedeutet und über Kontinuitäten rechter Gewalt und rechten Terrors in Deutschland.
Warum wurde das Urteil durch den Bundesgerichtshof aufgehoben und warum hat der BGH drei Jahre für diese Entscheidung gebraucht?
Robert Friedrich: Der BGH hat das Urteil wegen so genannter schwerwiegender Formfehler aufgehoben. Der BGH hat beispielsweise keine Zweifel bezüglich des Tatgeschehens oder der Täter*innenschaft der Angeklagten. Vielmehr geht es um handwerkliche Fehler, die bei der Urteilsfindung und -begründung gemacht wurden. Daher verlangt der BGH eine Neuverhandlung.
Kristin Pietrzyk: Konkret geht es um Fehler in der schriftlichen Urteilsabfassung. Beispielsweise wird in der Urteilsabfassung die Aussage eines Mitangeklagten herangezogen, der mit seinen Schilderungen andere Angeklagte belastet und sich selbst entlastet hat. Das Gericht glaubt seinen Ausführungen, mit denen er andere belastet hat, aber nicht den Angaben, die ihn selbst entlasten. Das Gericht kommt hier zu unterschiedlichen Bewertungen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Angeklagten. Das ist nicht untypisch, muss aber natürlich hinreichend begründet werden und das ist nicht geschehen. In einem anderen Fall wurde ein DNA-Gutachten, auf das sich die Verurteilung unter anderem gestützt hatte, nicht ausführlich genug zitiert. Es wurde versäumt zu erläutern, was das DNA-Gutachten genau bedeutet, was gefunden worden ist, wie es ausgewertet wurde und warum sich das Gericht auf dieses Gutachten stützt. Das waren reine Formalia, die dort nicht erfüllt wurden. Auch trägt das Landgericht die Verantwortung dafür, dass der Revisionsprozess solange gedauert hat, denn die Revisionsbegründungen wurden schlichtweg monatelang nicht an den BGH weitergeleitet.
Der lange Prozess und das fehlende rechtskräftige Urteil waren bereits eine enorme Belastung für die Betroffenen – was bedeutet die Aufhebung des Urteils für sie?
Kristin Pietrzyk: Für meine Mandant*innen ist es schwer, immer noch nicht abschließen zu können. Bei ihnen macht sich das Gefühl breit, dass die Neonazis gewonnen haben. Die jahrelange Unklarheit und Straffreiheit trägt dazu bei, dass das Machtgefälle zwischen der örtlichen Zivilgesellschaft und der Neonazi-Szene und damit die Spannungen im Ort bestehen bleiben.
Robert Friedrich: Für die Betroffenen ist die Aufhebung des Urteils ein Schock und der worst case. Fast alle wohnen in unmittelbarer Nachbarschaft der Angeklagten. Da das Urteil nicht rechtskräftig war, waren sie bis jetzt immer wieder der Situation ausgesetzt, den Angeklagten tagtäglich über den Weg zu laufen. Sie werden permanent an die Tat und an die Straflosigkeit der Täter*innen erinnert. Das ist bereits eine große Belastung. Sie hatten gehofft, dass sich nach dem Urteilsspruch etwas verändert, dass der Ort zur Ruhe kommt, dass sie zur Ruhe kommen können. Das ist nicht eingetreten. Das „Gelbe Haus“ wird immer noch als reger Treffpunkt genutzt. Die Angeklagten und die örtliche Neonazi-Szene scheinen durch Straflosigkeit, das nicht rechtskräftige Urteil und nun die Aufhebung des Urteils gestärkt aus dem Ganzen hervorzugehen. Das ist ein unzumutbarer Zustand für die Betroffenen und die demokratische Zivilgesellschaft vor Ort.
Und was bedeutet die Neuverhandlung?
Robert Friedrich: Jeder Gerichtsprozess stellt eine ungewohnte und herausfordernde Situation dar und ist besonders unangenehm, wenn die Betroffenen auf engstem Raum in Anwesenheit der hier extrem rechten Angeklagten und deren Verteidigung ihre Aussagen machen müssen. Die Neuverhandlung bedeutet, dass sowohl die Verletzten als auch weitere Zeug*innen, also insgesamt um die zwanzig bis dreißig Personen, erneut ihre Aussagen machen müssen. Alle Emotionen und Unsicherheiten, die sie mit der Tat und dem Prozess verbunden haben, werden jetzt durch die Urteilsaufhebung wieder präsent. Besonders enttäuscht sind sie über die schlechte Arbeit und mangelnde Sorgfalt des Landgerichts Erfurt, der Grund, dass sie sich erneut diesen unangenehmen Situationen aussetzen müssen. Wir können hier durchaus von einer sekundären Viktimisierung sprechen, also einer zweiten Opferwerdung, hervorgerufen durch das Landgericht Erfurt mit seiner fahrlässigen und schlechten Arbeit. Die Bedürfnisse der Betroffenen nach Aufklärung, Sicherheit, Unterstützung sind nicht ausreichend berücksichtigt worden. Sie fühlen sich vom Gericht im Stich gelassen und sind resigniert. Das Vertrauen in rechtsstaatliche Strukturen ist hier massiv geschwächt worden.
Kristin Pietrzyk: Den Betroffenen ist bewusst, dass eine weitere Zeitverzögerung in der Verurteilung dazu führen kann, dass die Strafen für die Angeklagten geringer ausfallen. Der Zeitverzug spielt den Neonazis in die Hände und das hat allein das Landgericht Erfurt zu verantworten. Es ist verständlich, dass meine Mandant*innen deshalb auch skeptisch einer Neuverhandlung entgegenblicken und Vertrauen verloren haben.
Welche Punkte habt ihr damals bei der Urteilsverkündung kritisiert? Habt ihr Hoffnung, dass diese Aspekte bei einem erneuten Verfahren berücksichtigt werden?
Robert Friedrich: Der brutale Überfall in Ballstädt war keine Kneipenschlägerei oder eine Auseinandersetzung zwischen Jugendlichen, wie es so oft heißt. Im Gegenteil, viele der Betroffenen haben sich dazu entschlossen, gegen die Raumergreifungsstrategie der Neonazis, gegen deren Immobilienkauf und ihre Aktivitäten im Ort zu protestieren und deutlich zu machen, dass das mit ihren demokratischen Werten nicht vereinbar ist. Ein so klares und beeindruckendes Engagement findet sich eher selten in ländlichen Räumen. Die Neonazis wollten sie davon abbringen und zum Schweigen bringen. Das Gericht sah trotz dieser politischen Motive damals „keine Nazitat“, die rechte Gesinnung der Angeklagten habe für die Tat und damit auch für die Kammer und ihr Urteil keine Rolle gespielt. Die Nichtanerkennung von politischen Tatmotiven kann ebenfalls zu einer sekundären Viktimisierung beitragen. Daher wäre es zentral für die Betroffenen, dass in einem neuen Verfahren das politische Tatmotiv anerkannt und im Urteil berücksichtigt wird.
Kristin Pietrzyk: Die Tat von Ballstädt war eine klassische rechte Botschaftstat. Das hat das Landgericht in seinem ersten Urteil nicht nur ignoriert. Es hat sogar den Betroffenen noch eine Teilschuld zugeschrieben, in dem in den Urteilsgründen ausgeführt wurde, dass das zivilgesellschaftliche Engagement der Bewohner*innen von Ballstädt gegen das „Gelbe Haus“ ein provokantes Verhalten gegenüber den Täter*innen gewesen sei. Das ist eine klassische Täter-Opfer-Umkehr. Hier zeigt sich sehr deutlich, dass die damalige Kammer mit dem Prinzip der Extremismustheorie zu einer falschen und fatalen politischen Bewertung des Überfalls gekommen ist. Der neue Anlauf bietet daher auch die Chance, die Tat als das zu bewerten was sie war: Nämlich der Versuch von Neonazis, eine regionale Hegemonie aufzubauen und auch mit Mitteln der Gewalt durchzusetzen. Bei den damaligen Ermittlungen wurde auch der Ruf laut, nach §129a, also wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung, zu ermitteln und anzuklagen. Dazu ist es nicht gekommen, aber das wird auch nicht Gegenstand der Neuverhandlung sein. Die Anklage wird nicht geändert, sondern das Verfahren wird lediglich wiederholt.
Wie ordnet ihr diesen Prozess in die Entwicklung rechter und rechtsterroristische Gewalttaten und Strafprozesse der letzten Jahre ein?
Robert Friedrich: Die extrem rechte Strategie der Einschüchterung durch brutale Gewalt – gefolgt von der Straflosigkeit der Täter*innen – hat in Ballstädt leider teilweise Erfolg. Die Zivilgesellschaft wurde eingeschüchtert und hat auch vom Gericht keine Rückendeckung erhalten. Damit wird das Vertrauen der Betroffenen rechter Gewalt in Institutionen des Rechtsstaates untergraben. Nazis werden bestärkt und deren Sympathisant*innen nicht abgeschreckt, sie können vielmehr den Eindruck gewinnen, das ohnehin nicht konsequent vorgegangen wird und daraus Selbstbewusstsein ziehen. Dieses fatale Signal, dadurch dass unzureichend aufgeklärt wird oder Prozesse scheitern, teilt das Ballstädt-Verfahren mit anderen großen Verfahren gegen Neonazis, z.B. mit dem NSU-Prozess und den teilweise niedrigen Strafen, mit dem eingestellten Verfahren gegen das Aktionsbüro Mittelrhein oder dem Verfahren zum Wehrhahn-Anschlag.
Kristin Pietrzyk: Bei den Verfahren der letzten Jahre (z.B. NSU, Ballstädt, Oldschool Society, Gruppe Freital, Weiße Wölfe Terrorcrew, Revolution Chemnitz) beobachten wir die Tendenz, dass Angeklagte, die aus gefestigten, über Jahre gewachsenen Neonazi-Strukturen kommen, weniger harte Urteile erhalten, siehe zum Beispiel André Eminger im NSU-Verfahren. Vielmehr zeigt sich, dass insbesondere diejenigen Angeklagten harte Strafen erhalten, die sich schnell radikalisieren und dann zur Tat schreiten, wie beispielsweise bei der Gruppe Freital oder in Teilen bei der Gruppe Revolution Chemnitz. Dabei zeigt sich, dass insbesondere Angeklagte aus gefestigten Neonazi-Strukturen auf die Unterstützung durch militante Neonazi-Netzwerke zurückgreifen können. Musikveranstaltungen, eigene Gastronomie- und Handwerksbetriebe, der Besitz von eigenen Immobilien, all das sind zentrale Bestandteile gefestigter Neonazi-Strukturen und für die Ausgestaltung der politischen Praxis entscheidend. Sie stellen die ideologische und finanzielle Basis für die Szene dar und spielen bei der Planung und Ausführung von Taten eine wichtige Rolle, wie nicht zuletzt der NSU zeigt. Daher ist es so wichtig, das Umfeld von Täter*innen, die Netzwerke und die ideologischen Verbindungen und damit die Tatmotive bei den Gerichtsverhandlungen zu thematisieren und beim Strafmaß zu berücksichtigen.
Wie geht es jetzt weiter?
Kristin Pietrzyk: Aktuell warten wir auf die Terminvorschläge des Landgerichts. Jetzt wird es Aufgabe einer anderen Strafkammer des Erfurter Landgerichts sein, ein neues Verfahren zu eröffnen und dafür zu sorgen, dass eine Verhandlung auch in Pandemiezeiten organisierbar und durchführbar ist, die Kapazitäten dafür sind vorhanden. Aus Sicht der Betroffenen sind drei Punkte zentral: Dass es ein schnell beginnendes Verfahren gibt, die Tatmotivation richtig erkannt und eingeordnet wird und dass das Gericht auch während der Verhandlung durchgreift, wenn ihnen die Angeklagten durch z.B. ständiges zu spät kommen auf der Nase herumtanzen.
Robert Friedrich: Eine Wiederaufnahme des Verfahrens, also eine komplette Neuverhandlung, heißt für die Zeug*innen, dass sie ihre Aussagen sechs Jahre nach dem Übergriff erneut machen müssen. Für die Betroffenen ist es wichtig, dass die Neuverhandlung möglichst schnell über die Bühne geht, damit sie endlich Klarheit haben und abschließen können. Wir versuchen sie dabei weitgehend zu unterstützen und organisieren bestärkenden Austausch zwischen den Betroffenen.
Wie sieht die Unterstützung aus?
Robert Friedrich: Verschiedene Initiativen haben beim ersten Prozess solidarische Aktionen organisiert, es gab Kundgebungen vor dem Gericht und viele Engagierte, die den Prozess immer wieder besucht haben und während der Verhandlungstage und den für die Betroffenen sehr belastenden Zeug*innenaussagen vor Ort waren. Das ist eine nicht zu unterschätzende Stütze bei dem sehr schweren Gang, den sie da gehen müssen. Auch wenn sie während ihrer Zeug*innenaussagen die Leute im Publikum nicht sehen können, weil sie mit dem Rücken zu ihnen sitzen, ist es gut zu wissen, „da sind Menschen, die sind einfach nur da für mich“. Das mag erstmal banal klingen, aber diese Form der Solidarität und Anteilnahme zeigt den Betroffenen, dass sie ernst genommen und gehört werden. Zusätzlich wurde damals eine unabhängige Prozessbeobachtung organisiert, die das Verfahren und das Verhalten der Prozessbeteiligten kritisch begleitet, Berichte zu den Prozesstagen sowie Einschätzungen der Nebenklagevertreter*innen veröffentlicht hat. Solidaritätsaktionen und eine kritische Prozessbeobachtung wären auch für eine Neuverhandlung extrem wichtig. Ganz grundsätzlich gilt es natürlich, zivilgesellschaftliches und demokratisches Engagement in ländlichen Räumen unbedingt zu stärken, die aktiven Leute müssen dafür Anerkennung und Unterstützung erfahren – das gilt für Ballstädt wie für anderswo.
Kristin Pietrzyk: Das Ballstädt-Verfahren zählt mit zu den größten juristischen Auseinandersetzungen gegenüber der Neonazi-Szene der letzten Jahre. Für die Betroffenen war die Anteilnahme durch Prozessbeobachter*innen, Journalist*innen und Initiativen aber auch durch verschiedene Politiker*innen unglaublich wichtig und bestärkend. Ich würde mir wünschen, dass es auch bei der Neuverhandlung solidarische Aktionen und eine breite öffentliche Aufmerksamkeit gibt.