In der Mitte steht ein stilles, rundes Wasserbecken, der heute den klaren Sommerhimmel spiegelt, aber zugleich bodenlos erscheint, als läge der finstere Abgrund der deutschen Geschichte darunter. Aus den Bäumen ringsherum erklingt eine melancholische Geigermelodie. Der sonst grüne Rasen wird von Steinstücken durchstochen, auf denen Orte der nationalsozialistischen Vernichtung eingraviert sind: Auschwitz, Dachau, Neuengamme.
Das Denkmal, im Schatten des Reichstagsgebäudes nebenan, erinnert an den Porajmos – den Völkermord an den Sinti* und Roma* Europas. Etwa 500.000 von ihnen wurden während des Nationalsozialismus ermordet – in Konzentrationslagern, durch Massenerschießungen, Giftgas, Hunger und grausame pseudomedizinische Versuche. Dass aber auch an dieses Kapitel des Holocausts erinnert wird, war im Nachkriegsdeutschland alles andere als selbstverständlich. Erst 1982 – knapp 40 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes – erkannte die Bundesrepublik Deutschland den Völkermord an Sinti* und Roma* überhaupt an. Das Recht auf Entschädigung, moralische sowie materielle, wurde vielen Überlebenden verwehrt. Antiziganistische Diskriminierung bleibt für die Community bis heute bitterer Alltag.
Auch das Recht auf Erinnern musste hart erkämpft werden. Erst 2012 wurde das Denkmal in Berlin eingeweiht, nach jahrzehntelangen Kämpfen. Der Gedenkort, der vom israelischen Bildhauer Dani Karavan gestaltet wurde, wurde als Ensemble aus Skulptur, Klang und umgebender Natur konzipiert, als Ort der inneren Anteilnahme. Ein symbolisches Grab, das die Opfer nie hatten. Und auch mal ein Schauplatz für Protest: 2016 wurde das Denkmal von rund 60 Sinti* und Roma* besetzt, denen Abschiebung drohte. Das Denkmal ist zudem eine gut besuchte Sehenswürdigkeit: Heute stehen Tourist*innen und Schulklassen Schlange in der Sonne, um über die Geschichte des Porajmos zu lernen.
Doch kaum zehn Jahre nach seiner Eröffnung ist das Denkmal in Gefahr: Eine neue S-Bahn-Linie, die S21 oder „City-S-Bahn“, soll den Berliner Hauptbahnhof mit dem Potsdamer Platz verbinden – laut Deutscher Bahn eines der wichtigsten Zukunftsprojekte für den öffentlichen Nahverkehr in Berlin. Die entscheidende Frage ist nur: wie?
Inzwischen gibt es dreizehn Vorschläge der Deutschen Bahn für die Trasse. Gegen eine Streckenführung und Baustelle direkt am Bundestag hat dessen Baukommission aber bereits ein Veto eingelegt. So landete der Vorschlag auf dem Tisch, dass die S-Bahn-Trasse direkt unter dem Denkmal verlaufen soll. Der schwer erkämpfte Gedenkort könnte sich also nun jahrelang in eine Baugrube mit Bohrern und Baggern verwandeln. Und das würde ein würdevolles Gedenken nahezu unmöglich machen.
Die Sinti*-und-Roma*-Community ist alarmiert. „Es hat zum Beginn der Planungen keinerlei Kontakt mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gegeben“, kritisiert Herbert Heuß, wissenschaftlicher Leiter des Zentralrats, gegenüber Belltower.News. Er habe erst im März 2020 davon erfahren, zuvor habe die Deutsche Bahn allein mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas verhandelt. Seitdem sitzt auch der Zentralrat am Tisch mit dem Land Berlin, der Deutschen Bahn und der Stiftung Denkmal. Und seitdem sei die Kommunikation „regelmäßig und gut“.
Zu einem akzeptablen Ergebnis ist es aber bislang nicht gekommen, die endgültige Entscheidung steht noch aus. Wer hier überhaupt ein Veto-Recht hat, bleibt unklar. „Gleichwohl müssen Bahn und Senat jetzt mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und Stiftung Denkmal und gegebenenfalls anderen NGOs zu einer Einigung kommen“, so Heuß. „Oder aber es gibt keine S21“. Dafür dürfe am Ende nicht Sinti* und Roma verantwortlich gemacht werden, warnt Heuß, wie es jetzt bereits in Kommentaren in den sozialen Medien zu lesen war.
„Wir haben wiederholt erklärt, dass der maximale Schutz des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas gewährleistet sein muss“, betont Heuß. Auch die Position des Denkmal-Künstlers Dani Karavan müsse respektiert werden, jede Entscheidung müsse mit seinen Erben abgestimmt werden. Vor dessen Tod 2021 erklärte sich der Bildhauer sogar bereit, sein Werk notfalls selbst zu verteidigen – auch unter Einsatz seines eigenen Körpers. Doch gleichzeitig sei die neue S-Bahnlinie notwendig, räumt Heuß vom Zentralrat ein: „Die deutschen Sinti und Roma sind selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft und deshalb muss hier gemeinsam mit Bahn, Senat und dem Deutschen Bundestag eine sichere Trassenführung gefunden werden, die das Denkmal maximal schützt.“
Auch Jana Mechelhoff-Herezi, Leiterin der Erinnerung an Sinti und Roma bei der Stiftung Denkmal, hat an Sitzungen mit der Bahn und dem Land Berlin teilgenommen. Doch ihr Ton ist kritischer: „Ich finde es ganz schön bemerkenswert, wie überhaupt diese Diskussion geführt wird“, sagt sie Belltower.News – „eben im Verborgenen“. Auch sie kritisiert, dass die Betroffenen nicht frühzeitig eingebunden worden seien. Und sie moniert eine mangelnde Sensibilität gegenüber der Sinti*-und-Roma*Community: „Es wird immer gesagt, die historische Verantwortung sei bewusst, aber man müsste eben diese ‚unterschiedlichen Interessen‘ abwägen“. Alles nur leere Phrasen?
Dass der Zentralrat sich womöglich kompromissbereit zeigt, gefällt nicht allen. Und nach Außen wird wenig kommuniziert. Andere Sinti*-und-Roma*-Organisationen kritisieren mangelnde Transparenz, sie fühlen sich im Dunkeln gelassen. „Von der Politik heißt es, man habe mit ‚der Community‘ gesprochen“, sagt Irene Eidinger, Pressesprecherin vom Bündnis BARE, das „Berliner Bündnis gegen Antiziganismus und für Roma* Empowerment“, im Gespräch mit Belltower.News. „Das ist aber de facto überhaupt nicht der Fall. Wir sind mit anderen Verbänden und Initiativen sehr gut vernetzt und niemand weiß, was da vereinbart wurde.“
Kritik kam etwa vom 2020 gegründeten Aktionsbündnis „Unser Denkmal ist unantastbar!“, einem Zusammenschluss von 26 Organisationen und Vereinen von Sinti* und Roma*, unterstützt von EU-Abgeordneten, Stiftungen, Kirchenvertreter*innen und Gedenkstätten. „Das Aktionsbündnis möchte keine Zugeständnisse machen, die unser Denkmal in seiner Integrität antasten“, heißt es in einer Stellungnahme. Das Aktionsbündnis favorisiere keine der vorliegenden Trassenführungen, sondern möchte ausschließlich das Denkmal maximal schützen: „Es ist nicht unsere Aufgabe, eine Trassenführung zu finden.“ Auch wird der Zentralrat kritisiert: Vorsitzender Romani Rose habe eine gemeinsame Stellungnahme abgelehnt und mache Zugeständnisse, um im Gegenzug seine langjährige Forderung nach einem Informations- und Dokumentationszentrum zu realisieren. Vorwürfe, zu denen sich der Zentralrat auf Anfrage nicht äußern will.
Selbst wenn nur Bäume dem Bauvorhaben weichen müssten, würde ein wichtiger Bestandteil des Denkmalensembles fehlen, warnen Kritiker*innen der Pläne. „Auch sie gehören dazu, sie sind integraler Bestandteil davon. Man hat das von den Bäumen her gedacht“, erklärt Mechelhoff-Herezi von der Stiftung Denkmal. Und selbst bei einem Tunnelbau wäre die unmittelbare Umgebung zerstört, beklagt BARE-Sprecherin Eidinger: „Das ist ein massiver Eingriff“. Alleine schon das Vorhaben sei „ein historischer Tabubruch“, führt Eidinger fort. „Das Denkmal darf nicht zur Disposition stehen – und schon gar nicht der Nachfolgerin der Reichsbahn, die während der NS-Zeit mit Transporten von Roma*, Sinti* und anderen Opfergruppen nach Auschwitz und in andere Konzentrationslager Profit machte.“
Gegen diese Vorwürfe will sich die Deutsche Bahn verteidigen. Auf Anfrage von Belltower.News betont ein Bahn-Sprecher, dass das Unternehmen sich seit seiner Gründung mit der Geschichte der Deutschen Reichsbahn im Nationalsozialismus kritisch auseinandergesetzt habe und sich für aktive Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen engagiere. „Das Denkmal steht in keinem Fall zur Disposition“, sagt er. „Die DB ist sich selbstverständlich der herausragenden Bedeutung der Gedenkorte für die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes nahe dem Reichstag und dem Brandenburger Tor bewusst.“
Die Deutsche Bahn beschreibt die bisherigen Gespräche mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas als „konstruktiv“. „Verbesserungen“ seien in die Planung eingearbeitet worden, die unter anderem die Zugänglichkeit des Denkmals und den Austausch der Wildblume dort durchgehend gewährleisten. Von ursprünglich zwei geplanten Baugruben in direkter Nähe zum Denkmal werde nun auf eine verzichtet werden, heißt es.
Viel Spielraum habe die Deutsche Bahn aber nicht – aufgrund umfangreichen unterirdischen Bauwerken wie U-Bahn-Tunnel, Straßentunnel und Tunnelanlagen des Bundestags. „Für die möglichen Varianten bleibt nur ein sehr schmaler Korridor bestehen, in dem sich auch das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma befindet“, sagt der Sprecher. Gleichzeitig befinde sich die Deutsche Bahn in einer sehr frühen Planungsphase für den Bauabschnitt. Vor Ende der 2020er Jahre sei ein Baubeginn nicht vorgesehen, so der Bahnsprecher. So lange hin ist das aber nicht mehr.
Beauftragt wurde die neue S-Bahn vom Land Berlin. Und in der zuständigen Senatsverwaltung für Umwelt und Mobilität gibt es inzwischen einen Personalwechsel. Die Planung wurde noch unter Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) begonnen. Seit Dezember 2021 hat Bettina Jarasch (Grüne) das Amt übernommen, die die Streckenführung nun persönlich betreut, wie es von der Senatsverwaltung heißt. Eine Anfrage von Belltower.News konnte die Senatsverwaltung vor Redaktionsschluss aus Kapazitätsgründen nicht beantworten. In einer E-Mail an Petra Rosenberg, leitende Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg, verspricht Jarasch, mehr Transparenz zu schaffen. In der E-Mail, die Belltower.News vorliegt, heißt es, Jarasch habe das Denkmal bereits besucht – mit Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, der ihr die verschiedenen Probleme und Betroffenheiten erklärt habe, die sich durch den geplanten S-Bahn-Bau ergeben.
Anders als von der Deutschen Bahn behauptet, schreibt Jarasch, dass die Planung mittlerweile „weit gediehen“ seien: „Es ist viel Zeit ins Land gegangen“. Aber sie betont auch, dass es noch keine endgültige Festlegung auf eine bestimmte Variante gebe. Die Baukommission des Bundestags habe zwar die Trassenvarianten abgelehnt, die direkt am Reichstag verlaufen würden. Dennoch sind seit der Bundestagswahl 2021 neue Abgeordnete dort Mitglied, die laut Jarasch das Recht haben sollten, in einer so zentralen Frage eine eigene Entscheidung zu treffen. Auch plane Jarasch zeitnah eine größere Runde mit Vertreter*innen der Sinti*-und-Roma*-Community sowie weiteren relevanten Akteur*innen, heißt es. Dort soll über den Stand der Gespräche und Planungen berichtet werden, um gemeinsam nächste Schritte und Handlungsoptionen zu besprechen.
Jana Mechelhoff-Herezi von der Stiftung Denkmal kennt die E-Mail von Jarasch und begrüßt die Einstellung der neuen Mobilitätssenatorin. „Da ist neue Bewegung reingekommen, das sind alles völlig neue Töne“. Irene Eidinger, Pressesprecherin von BARE, bleibt aber skeptisch. Die E-Mail von Mobilitätssenatorin Jarasch sei „nebulös“, klinge zunächst vertrauenerweckend – „aber im Grunde genommen steht da ja nichts drin, was Klarheit schafft“. Einladungen an Jarasch und die Senatsverwaltung für Mobilität, an einer Podiumsdiskussion zum Thema im Berliner Club ://about blank teilzunehmen, blieben lange unbeantwortet, kritisiert Eidinger. „Man hätte das schon sensibler handhaben können“.
Am Ende scheinen sich alle irgendwie einig zu sein – das Land Berlin, die Deutsche Bahn, der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und der Rest der Community. Das Denkmal sei als Gedenkort unentbehrlich, müsse maximal geschützt werden. Nur weichen die Vorstellungen davon, was das konkret bedeutet, voneinander stark ab.
In der Zwischenzeit wird das Denkmal bald zehn Jahre alt. Im Oktober wird eine Feierstunde mit dem Zentralrat und der Stiftung Denkmal stattfinden: Bundespräsident Steinmeier ist als Redner eingeladen, neue Informationstafeln werden eingeweiht. „Die hohe Zahl von Besuchern am Denkmal zeigt, wie wichtig dieser Ort heute für die Angehörigen der Minderheit und für die gesamte Gesellschaft geworden ist“, resümiert Herbert Heuß vom Zentralrat. In diesem Punkt wenigstens dürften alle am Verhandlungstisch ihm Recht geben.