Dass die Welt still steht, um das Leben von Menschen zu retten, ist ein gutes Zeichen für die Menschheit. Es könnte auch ganz anders sein und der Schutz von Schwachen gar nicht zählen. Aber genau das wollen wir nicht. Das Leben ist wichtiger, das Leben aller, egal wer sie sind. Um diese Ethik wirklich in der Realität zu leben, braucht es, was die Juden einen „wahren Menschen“ nennen. Was das ist?
In der Tradition des Judentums steht das Leben, das Lebendige, über allen Geboten. Wenn es um ein Menschenleben geht, ist alles andere nebensächlich. Weder Politik noch Religion sind in diesem Moment wichtiger. Denn es heißt: „Wenn ein Mensch stirbt, stirbt eine ganze Welt.“ Jedes einzelne Individuum ist einzigartig in seinen Erfahrungen, Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen. Jeder Mensch ist eine ganze Welt und darum unverzichtbar. Im Judentum gibt es keine Verheißung auf ein späteres Leben nach dem Tod, deshalb ist die Gegenwart, das Lebendige, das Diesseitige so bedingungslos schützenswert.
Ein wahrer Mensch zu sein, beinhaltet diese Einzigartigkeit. Es bedeutet, das Beste am Gegenüber zu schätzen, zu bewundern und hervorzuheben. Ein Mensch, ein wahrer Mensch, jemand, der oder die gerecht handelt, anderen Menschen hilft – am besten so, dass sie sich selbst helfen können – also jemand der sozial, warmherzig, zugewandt handelt.
„Ein Mensch“ ist eine Bezeichnung, die eine Person besonders würdigt. Diese Redewendung kommt aus dem Jiddischen und wird überall auf der Welt benutzt. Heutzutage ist es üblich, auf diese Weise mit einer gewissen ehrfürchtigen Anerkennung über jemanden zu sprechen. „Ein Mensch“ heißt es nicht nur in Gegenden, in denen viele Juden und Jüdinnen leben, der Begriff ist längst in die Alltagssprache eingegangen. Er illustriert in wunderbarer Weise, was Menschsein und Menschlichkeit bedeutet bzw. bedeuten sollte.
Ein wahrer Mensch kann jeder sein. In jeder Situation neu.
In der Zeit von Corona wird von allen viel erwartet. Auf Abstand bleiben und dabei ein Mensch sein. Das eigene Verhalten, die eigene Verantwortung wahrzunehmen als etwas, das man selbstverständlich tut – für andere und für sich selbst.
Wenn die Situation schwieriger wird, die Leute ungeduldiger, die Anspannungen und Beschuldigungen größer, wird sich zeigen, ob jemand menschlich bleibt und auch über den eigenen Schatten springen kann. Deshalb ist es anständig und eben menschlich, nicht nur die eigenen Interessen zu sehen oder die der eigenen Gruppe, sondern auch die Not derer wahrzunehmen, die es besonders schwer haben.
Die Situationen in den Unterkünften von Geflüchteten ist an vielen Orten schwer. Auf engem Raum leben Menschen, die sich fürchten. Sie fürchten sich vor der Krankheit, aber auch davor, dass ihre Angehörigen außerhalb Deutschlands leiden müssen. Sie fürchten sich vor Krieg, vor Abschiebung und vor einer hasserfüllten Atmosphäre, die ihnen auch hier begegnet. An sie zu denken, sie zu unterstützen, gerade jetzt, erfordert ein Mensch zu sein.
Das gleiche gilt für andere Gruppen wie Wohnungslose oder Menschen mit Behinderungen. In Krisen brechen Vorurteile oft wieder auf, die man überwunden geglaubt hat. Ausgegrenzte in der Gesellschaft fühlen sich in einer solchen Krise ohnmächtig, isoliert und ausgeliefert. Das muss aber nicht so sein. Deshalb ist es umso wichtiger, ein wahrer Mensch zu sein und die eigenen Beschränkungen zu überwinden und sich zu kümmern.
Alte Menschen im Betreuten Wohnen und in Pflegeheimen sind in diesen Tagen ganz besonders von der Corona-Krise betroffen – nicht nur als Risikogruppe: Die soziale Isolation trifft sie besonders hart. Ein Mensch zu sein, bedeutet hier: In Kontakt bleiben, zuhören, und so gut wie es geht, am Telefon oder per Videochat Nähe und Unterstützung geben.
Gefährlich ist die Situation auch für Betroffene von häuslicher Gewalt. Für sie ist die eigene Wohnung kein Schutzraum, vielmehr sind sie darauf angewiesen, möglichst viel Zeit außerhalb der eigenen vier Wände verbringen zu können – in der Schule, am Arbeitsplatz, im Hort. Bereits jetzt zeigen erste Studien, dass häusliche Gewalt in den letzten Wochen rund um den Globus massiv zugenommen hat. Diese Menschen brauchen jetzt ganz besonders unsere Unterstützung: Offene Türen, aufmerksame Ohren, ein offenes Herz.
Dass Menschen viel Zeit zu Hause und im Netz verbringen, führt aber auch dazu, dass Verschwörungsideologien und Hate Speech Hochkonjunktur haben. Zivilcourage heißt jetzt mehr denn je, rechtsextremen, rassistischen und antisemitischen Mobilisierungen in den sozialen Netzwerken entschieden entgegenzutreten. Nicht zuletzt der Terroranschlag in Hanau zeigt, dass Verschwörungserzählungen tödlich enden können. Deshalb: #Be A Mensch! Achten Sie auf sich und kümmern Sie sich um diejenigen, die am Rande stehen. Seien Sie großzügig, geduldig, hilfsbereit – nicht nur in der eigenen Familie. Seien Sie ein Mensch. Und bleiben Sie gesund.