Kaum ein anderes gesellschaftspolitisches Feld wird derart massiv, aber gleichzeitig unbemerkt angegriffen wie die Gleichstellungs-, Geschlechter- und Familienpolitik. Gegen deren Umsetzung richtet sich der Antifeminismus, eine Weltanschauung sowie (zumeist organisierte) Form von Gegenwehr, die gegen Frauenrechte und die Gleichberechtigung aller Geschlechter kämpft. Antifeminismus ist eine politische Strategie und die Grundlage für Handlungen. Er wendet sich in Wort und Tat gegen Frauen und LGBTQIA+ oder Einrichtungen und Organisationen, die sich für Gleichstellung, gegen Sexismus oder für die Stärkung geschlechtlicher, körperlicher und sexueller Selbstbestimmung einsetzen.
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Bisher fehlten ein systematischer Überblick und ein zivilgesellschaftliches Monitoring, die antifeministische An- und Übergriffe abbilden, um die Öffentlichkeit für die oftmals von ihr unbemerkten Vorfälle sensibilisieren zu können. Seit Februar 2023 können Vorfälle und Betroffenenerfahrungen aus diesen Bereichen nun an die Meldestelle Antifeminismus übermittelt werden. Als zivilgesellschaftliches Dokumentations- und Unterstützungsnetzwerk will die Meldestelle antifeministische Vorfälle in Deutschland systematisch erfassen und auswerten. Sie hat sich damit zum Ziel gesetzt, die Auswirkungen des breiten gesellschaftlichen Antifeminismus sichtbarer zu machen. Betroffene können auf Wunsch weiterführende Informationen und Unterstützung erhalten.
Antifeminismus: Weltanschauung und politische Strategie
Mit Antifeminismus ist nicht eine Meinung für oder gegen „den Feminismus“ gemeint, sondern eine Weltanschauung sowie eine (zumeist organisierte) Form von Gegenwehr. Er äußert sich in Einstellungen und Verhaltensweisen, die gegen die Umsetzung von Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit gerichtet sind. Antifeminismus beschreibt also die Ablehnung oder teilweise organisierte Opposition gegen Frauenrechte und die Gleichberechtigung aller Geschlechter.
„Die Verbreitung und die Auswirkungen antifeministisch motivierter Angriffe werden dramatisch unterschätzt und kleingeredet“, erklärt Judith Rahner von der Amadeu Antonio Stiftung. Das heißt auch: Die Dunkelziffer dürfte riesig sein. Die gemeldeten Fälle belegen, dass „über Antifeminismus politisch Engagierte und Organisationen eingeschüchtert und bedroht werden, aber auch digitale, verbale und körperliche Angriffe erleben”, erklärt Rahner. Das hat direkte Konsequenzen für die Betroffenen, aber schlussendlich auch auf Gesellschaft und Demokratie: „Wenn sich Frauen und queere Menschen aus Politik, Journalismus und Aktivismus wegen der Angriffe aus der Öffentlichkeit zurückziehen, müssen wir von einer handfesten Bedrohung für Demokratie und gesellschaftliche Teilhabe sprechen.“ Daraus ergeben sich Forderungen an Politik und Sicherheitsbehörden. Denn die sind es, die den Schutz von Lokalpolitiker*innen, Engagierten und auch Gleichstellungsbeauftragten gewährleisten müssten, bekräftigt Rahner.
Durchschnittlich mehr als zwei valide Meldungen pro Tag
Das Angebot der Meldestelle wurde seit ihrem Start zum 1. Februar 2023 kontinuierlich genutzt. 814 der eingegangenen Meldungen sind als valider Vorfall bzw. verifizierte Betroffenen-Meldung dokumentiert worden. 372 dieser Meldungen wurden als antifeministischer Vorfall eingeordnet. Die anderen Meldungen zeigen ein weites Feld an Vorfällen und Schilderungen von Betroffenen aus dem Bereich geschlechtsspezifische Gewalt auf (211) sowie Vorfälle, die unter der Kategorie Sexismus, Diskriminierung, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (231) zusammengefasst werden.
Häufigste Motive Frauen- und Queerfeindlichkeit
Gemeldet wurden Gewalt, Bedrohungen, Beleidigungen, aber auch Sachbeschädigungen, sowie Benachteiligung und antifeministische Mobilisierung. Frauenfeindliche, misogyne oder sexistische Botschaften (167) und Angriffe auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt (149) sind mit Abstand die häufigsten Sendungsinhalte der als antifeministisch eingeordneten Vorfälle, wobei bei den Vorfällen mit Blick auf die Botschaften Mehrfachzuordnungen möglich sind.
Ausgewählte Fallbeispiele in der Chronik Antifeminismus
Unter den Fällen sind 12 Meldungen antifeministisch motivierter physischer Gewalt, wie der Angriff auf eine Frau, die ohne Vorwarnung zu Boden gestoßen und als „Lesbenfotze“ beschimpft wird. Unter den 16 erfassten Sachbeschädigungen sind Vorfälle wie ein Brandanschlag auf eine lesbische Fraueninitiative sowie eine Regenbogenflagge auf einem Bahnhofsvorplatz, die durch eine Hakenkreuzflagge ersetzt wurde. 133 Vorfälle von digitaler Gewalt umfassen beispielsweise die namentlich adressierten E-Mails mit frauenfeindlichen Beschimpfungen an Mitarbeiterinnen städtischer Einrichtungen oder Vergewaltigungsandrohungen gegen Klimaaktivistinnen in Online-Kommentaren.
Meldestelle im Visier
Über 1.000 mal wurde das Meldeformular benutzt, um Angriffe gegen die Meldestelle selbst sowie gegen die Amadeu Antonio Stiftung und ihre Mitarbeitenden zu übermitteln. Ein großer Teil dieser Meldungen bedient sich selbst antifeministischer und anderer menschenfeindlicher Motive.
Die Arbeit der Meldestelle wurde viel diskutiert. Fehlannahmen und in den Debatten verbreitete Desinformationen über die Ziele der Meldestelle waren regelmäßig Thema. Um Desinformationen und Meinungsmache etwas entgegenzusetzen, hatten das Team der Meldestelle und die Amadeu Antonio Stiftung Klarstellungen veröffentlicht. Wichtig ist dabei auch nach einem Jahr immer noch: Die Anliegen und Analysen des Monitorings stellen immer die Erfahrungen und Schilderungen Betroffener ins Zentrum. Die Auswertung von Meldungen erfolgt ausschließlich anhand anonymisierter Daten, personenbezogene Daten Dritter werden nicht gespeichert.
Antifeminismus digital und analog
Betroffene, die 2023 das Angebot der Meldestelle nutzten, waren u.a. Gleichstellungsbeauftragte und Mitarbeitende von Beratungsstellen, Verbände, NGOs, zivilgesellschaftliche Initiativen, (feministische) Aktivist*innen, Expert*innen, Fachpersonen aus den Bereichen Gleichstellung, Anti-Diskriminierung und Geschlechterforschung sowie Social Media-Nutzende. Vorfälle ereignen sich häufig im digitalen Raum, aber auch aus jedem Bundesland kamen Meldungen – sie zeigen, dass antifeministische Vorfälle bundesweit und in allen Sphären unserer Gesellschaft geschehen.
Zahlen und Fakten sowie tiefergehende inhaltliche Analysen werden ausführlich im Lagebild dargestellt. In einer qualitativen Auswertung werden zahlreiche Vorfälle konkret geschildert und nach Angriffsdimensionen, wie beispielsweise antifeministisch motivierte Bedrohung, Beleidigung, Sachbeschädigung oder Hate Speech und Mobilisierung, eingeordnet und kontextualisiert. Anschließend widmet sich das Lagebild einer Art „Tiefenbohrung“ zu fünf aktuellen antifeministischen Diskursen und Entwicklungen. Anhand von Monitoring-Daten und Recherchen aus dem Jahr 2023 werden das Ausmaß und die Qualität digitaler Angriffe auf Politiker*innen, die Rolle von Antifeminismus im Gaming, die Verbindung des Phänomens zu Queerfeindlichkeit und seine Verbreitung auf Plattformen wie TikTok in tiefergehenden Analysen beschrieben.
Besondere Aufmerksamkeit gilt der Aneignung feministischer Themen durch die sogenannte Neue Rechte. Diese Abschnitte geben Einblicke in die strategische Ausrichtung antifeministischer Akteur*innen und ihre Wirkungen auf die Gesellschaft. Abschließend zeigt das Lagebild einige konkrete Handlungsmöglichkeiten und Erfordernisse dafür auf, nicht nur auf die Herausforderungen zu reagieren, sondern auch präventiv tätig zu werden. Mit diesem ersten Report soll ein vertieftes Verständnis für die Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit Antifeminismus gefördert und gleichzeitig Wege der Prävention und Intervention aufgezeigt werden.