Hate Speech, Desinformation und Propaganda im Internet haben direkte negative Auswirkungen auf Minderheiten in ihrem Alltag. Die Zahlen für LGBTIQ*-Feindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus erreichen 2023 ihre bisherigen Höchststände. Immer wieder wird deutlich: Hass im Netz führt zu Hass auf der Straße. „Manchmal auch noch am gleichen Tag“, sagt Kati Becker, Koordinatorin der Berliner Register.
Immer höhere Zahlen in Berlin
Im Durchschnitt wurden pro Tag 14 Vorfälle bei den Berliner Registern dokumentiert. Propaganda ist mit 54 Prozent aller Vorfälle die größte Kategorie, 19 Prozent sind Beleidigungen und Bedrohungen, Fälle von struktureller Benachteiligung haben einen Anteil von zehn Prozent, Angriffe machen 6 Prozent der Gesamtzahl aus.
28 Prozent aller Vorfälle sind rassistisch motiviert, 21 Prozent antisemitisch. 13 Prozent waren der Verharmlosung des Nationalsozialismus und 15 Prozent der rechten Selbstdarstellung zuzuordnen – die einzige Kategorie in der es 2023 weniger Fälle als im Vorjahr gab. zehn Prozent der Vorfälle richteten sich gegen politische Gegner*innen und neun Prozent waren LGBTIQ*-feindlich motiviert – eine Kategorie in der sich die Fallzahlen im Vergleich zum Vorjahr von 239 zu 464 Fällen fast verdoppelte haben.
Niedrige Hemmschwellen
Trotz des krassen Anstiegs dürften die Zahlen nur die Spitze des Eisberges sein. Anne Schaar, Sprecherin von L-Support, einem Berliner Anti-Gewaltprojekt, das vor allem LGBTQI*-Personen zur Seite steht, geht von einem Dunkelfeld von über 90 Prozent aus. Die 464 Fälle sind auch das Ergebnis mehrerer Kampagnen aus den letzten Jahren, die sich gegen die Gleichstellung queerer Menschen richteten.
Dazu gehörten im Jahr 2023 der „Stolzmonat“ und die Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz. „Die Hemmschwelle ist niedriger als in den Vorjahren“, erklärt Schaar. Zudem seien queere Menschen und ihre Symbole öffentlich sichtbarer geworden. Es werden Regenbogenfahnen an vielen Orten gezeigt, gleichgeschlechtliche Paare leben offener als früher in und die Zahl an trans* Personen steigt.
Antisemitismus im ganzen Stadtbild
Antisemitische Vorfälle sind mit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober sprunghaft angestiegen. 2022 zählten die Berliner Register 810 Fälle, 2023 sind 1.113. 62 Prozent dieser Vorfälle wurden danach erfasst – darunter 22 Angriffe, fast 200 Beleidigungen oder Bedrohungen und 75 Sachbeschädigungen. Ruth Hatlapa von RIAS Berlin, der Recherche und Informationsstelle Antisemitismus, berichtete, dass der starke Anstieg schon begann, „während die Massaker der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung noch durchgeführt wurden“.
Vorfälle gibt es überall. Hatlapa beschreibt, wie junge Männer am Tag des Massakers lauthals in öffentlichen Verkehrsmitteln verlautbarten, dass sie sich „eine Million Opfer“ wünschten. Schon kurz nach dem 7. Oktober flogen zwei Molotow-Cocktails gegen ein jüdisches Gemeindezentrum in Berlin. RIAS dokumentierte selbst „massenhaft antisemitische Schmierereien“, so Hatlapa und beklagt eine „enorme Erschütterung des Sicherheitsgefühls“ in jüdischen Communitys. Die Omipräsenz von Antisemitismus auf der Straße, den Universitäten, an Schulen, selbst im Nahverkehr führt auch dazu, dass sich Jüdinnen*Juden immer seltener trauen, ihr Jüdischsein nach außen zu tragen: „Jüdisches Leben findet in Berlin weniger öffentlich statt und ein Aufschrei der Öffentlichkeit bleibt aus,“ berichtet Hatlapa.
Rassismus durch die Jahreszeiten
2023 gab es auch mehr rassistische Vorfälle als im Vorjahr, 2022 waren es 1.132 in ganz Berlin, ein Jahr später zählen die Register 1.459 mal Rassismus. Auch bei diesen Zahlen wird deutlich, dass der öffentliche Diskurs und die unterschiedlichen Debatten – etwa rund um Silvester oder im Sommer um Freibäder – einen Einfluss auf rassistische Ressentiments haben. Die Verknüpfung von sozialen Problemlagen mit Migration, schürt und bestätigt Angst und Hass gegenüber Geflüchteten oder migrantischen Menschen.
2023 gab es mehr rassistische Angriffe und Bedrohungen oder Beleidigungen und auch mehr strukturelle Benachteiligungen. Damit sind zum Beispiel Diskriminierungen bei der Job- oder Wohnungssuche gemeint.
Resilienz im Shitstorm
Doch Stimmungsmach und Anfeindungen haben 2023 auch die Registerstellen selbst getroffen. Ein mehrwöchiger Shitstorm an dem sich unterschiedlichste rechtsalternative Medien und Einzelpersonen beteiligten und der schlussendlich auch in Teile der Mainstreammedien schwappte. In Telegramgruppen, in YouTube-Videos und in Artikeln wurde behauptet, die Berliner Register würden Denunziationslisten führen und Daten von politischen Gegner*innen sammeln. Es sind Falschbehauptungen, die nur sehr schwer richtig gestellt werden können, weiß Koordinatorin Kati Becker: „Das ist als hätte man gar nichts gesagt. Man kann das nicht stoppen.“
Der Shitstorm machte Strategien deutlich: Politische Akteur*innen, die sich gegen die extreme Rechte stark machen, sollen aus der Online-Öffentlichkeit vertrieben werden, um so den demokratischen Diskurs einzuschränken. Das bedeute es braucht mehr Bewusstsein für den Umgang mit Desinformation und Online-Hetze, sagt Becker: „Wir müssen uns für die Zukunft wappnen. Die Gesellschaft muss sich in ihrer Breite mit Manipulation, Desinformation und der Funktionsweise sozialer Netzwerke auseinandersetzen: Politik, Medien, Verwaltung, Wirtschaftsunternehmen, Bildungseinrichtungen, soziale Organisationen und jede*r Einzelne. So kann langfristig Hass, Spaltung und Gewalt auf der Straße zurückgedrängt werden.“