„Unsere Politiker und Politikerinnen wollen nicht hinschauen und nicht hinhören“, sagte İsmet Tekin bei der ersten Pressekonferenz des Solidaritäts-Netzwerks von Angehörigen, Betroffenen und Überlebenden rechter, rassistischer, antisemitischer Morde und Gewalt aus ganz Deutschland. Die Pressekonferenz fand anlässlich des dritten von der Bundesregierung ausgerufenen nationalen Gedenktages für Opfer terroristischer Gewalt statt. İsmet Tekin ist Überlebender des rechtsterroristischen Anschlags von Halle vom 9. Oktober 2019.
Bereits seit den Anschlägen in den 1990er Jahren kommen Angehörige und Überlebende rechter, rassistischer und antisemitischer Morde und Gewalttaten in Deutschland zusammen, tauschen sich aus, geben sich gegenseitig Halt und Rat. Nach den Morden des NSU hat sich diese Vernetzung verstärkt und seit 2022 trifft sich das Solidaritätsnetzwerk regelmäßig. Tekin verwies auf diese zum Teil Jahrzehnte langen solidarischen Verbindungen von Angehörigen und Überlebenden: „Alles, was ihr hier seht, ist Kraft, Wut, Mut und Hoffnung. Das ist nicht einfach zustande gekommen, das hat sich über Jahre angesammelt.“
Anlass für die Pressekonferenz bot die hochoffizielle „Gedenkveranstaltung an die Opfer terroristischer Gewalt“, die dieses Jahr zum dritten Mal unter der Schirmherrschaft des Beauftragten der Bundesregierung für die Anliegen von Betroffenen von terroristischen und extremistischen Anschlägen in Berlin stattfand. Doch zu dieser Veranstaltung wurde nur eine kleine Auswahl der Angehörigen und Überlebenden des Netzwerkes eingeladen. Bereits 2023 hatten die Betroffenen dies in einem offenen Brief an die Regierung und den Beauftragten kritisiert. Konsequenzen hatten diese Mahnungen allerdings offenbar keine.
Ayşe A, die den Nagelbombenanschlag des NSU am 9. Juni 2004 auf die Kölner Keupstraße überlebte, dazu: „Die meisten Opfer, die ich persönlich aus der Erinnerungs- und Vernetzungsarbeit kenne, sind nicht eingeladen worden, weil der deutsche Staat sie nicht als Opfer von rechter Gewalt anerkennt. Dies finde ich enttäuschend und respektlos.“
„Wenn ich nicht eingeladen werde“, so Aynur Satır, „bedeutet das für mich, dass Sie von mir als Betroffene nichts hören und nichts wissen wollen. Ich lasse mich aber nicht zum Schweigen bringen. Es reicht, dass immer noch rassistische Gewalt passiert. Anschläge, Polizeigewalt, junge Menschen, die ermordet werden. Wofür muss das immer wieder passieren?“ Da der rassistische Anschlag am 26. August 1984 in Duisburg, bei dem Satır sieben Familienmitglieder verlor, als solcher bisher nicht offiziell anerkannt wurde, mache sie immer wieder die Erfahrung von staatlicher Seite, „dass meiner Perspektive keine Wichtigkeit gegeben wird.“
Mamadou Saliou Diallo, dessen Bruder Oury Jalloh am 7. Januar 2005 in Dessau in Polizeigewahrsam ermordet wurde, forderte, dass der Gedenktag „ein Tag für alle Opfer von Gewalt in Deutschland sein [sollte]. Es geht nicht um eine Kategorisierung, Trennung oder Privilegierung der Opfer untereinander. Alle Opfer haben die gleichen Schmerzen, die gleichen Leiden und der Staat muss dies verstehen.“ Angehörige der Ermordeten von Polizeigewalt werden beim Gedenktag an Terroropfer übrigens von vornherein ausgeschlossen.
Yasemin Kılıç kritisierte daher, dass ein Tag, der „die verschiedenen Opfergruppen unter dem Schirmbegriff ‚Terror‘ gleichsetzt, nicht spezifisch genug [ist]. Ein solcher Tag wird den individuellen Herausforderungen und Bedürfnissen der Opfer nicht gerecht.“ Kılıç verlor ihren Sohn Selçuk am 22. Juli 2016 beim rassistischen Terroranschlag am Olympia-Einkaufszentrum in München.
Gleich zu Beginn des Treffens betont Patrycja Kowalska, die als Unterstützerin im Netzwerk aktiv ist, dass auch die Betroffenen und Unterstützer*innen eine Spaltung der Gesellschaft verspüren und immer wieder deutlich wird, dass Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus gegeneinander ausgespielt werden. Diesen Tendenzen stellt sich das Netzwerk entschieden entgegen: „Wir lassen uns nicht spalten – wir halten dagegen“
Das bekräftigt auch Naomi Henkel-Guembel, Überlebende des antisemitischen und rassistischen Anschlags von Halle 2019: „Trotz der aktuellen Versuche, uns zu spalten und Allianzen zu brechen, ist es entscheidend, dass wir in dieser Zeit zusammenhalten. Wir weichen nicht zurück. Es ist wichtig, uns immer wieder daran zu erinnern, wie essenziell unser Zusammenhalt ist. Unsere Stärke liegt darin, nicht nachzugeben und füreinander einzustehen, um eine Gesellschaft zu formen, die rechten und menschenfeindlichen Ideologien keinen Raum gibt.“ Wie Henkel-Guembel betonten viele weitere Angehörige und Überlebende den Zusammenhalt in ihren Beiträgen. So auch auch Sibel İşini, die einen Brandanschlag auf ihre Wohnung am 21. Oktober 2021 in Solingen überlebte. Trotz eindeutiger Hinweise auf ein rassistisches Motiv bleibt die Tat unaufgeklärt und unbeachtet. Umso deutlicher bleiben Sibel İşinis Worte in Erinnerung: „Wir werden nicht schweigen und wir werden unsere Stimme immer erheben.“
Das Netzwerk fordert von Seiten der Regierung und des Opferbeauftragten eine klare Kommunikation darüber, warum manche Betroffene eingeladen werden und andere nicht. Es mangele an Transparenz und partizipativem Gestaltungswillen.
Dabei betonen die anwesenden Betroffenen immer wieder, dass es wichtig sei, dass ihnen zugehört werde. Wenn dies nicht geschehe, füge es sich nur in ein eine lange Kette von Diskriminierung ein. Yasemin Kılıc ergänzt, wie schwierig die Jahre nach dem Anschlag in München waren, wie sehr es an Unterstützung mangelte und wie sie heute sich immer noch mit einer Fülle an bürokratischen Anforderungen auseinandersetzen müssen, um die Unterstützung zu erhalten, die sie so dringend benötigen.
Auch İbrahim Arslan kritisiert die Regierung im Umgang mit Betroffenen: „Die Bundesregierung muss einfach akzeptieren, dass sie den Dreiklang von Wissen, Können und Haltung nur im Zusammenhang mit Betroffenen erfassen können. Nur im Dialog mit dem Wissen der Betroffenen funktionieren Aufklärungen.“ Arslan kämpft als Überlebender des rassistischen Brandanschlags in Mölln am 23. November 1992 mit seiner Familie seit Jahrzehnten für die Zentrierung der Betroffenenperspektive.
Dass politisches Handeln seitens der Regierung dringend nötig ist, formuliert auch Melek Bektaş prägnant: „Wer gedenken will, soll aufklären.“ Am 5. April 2012 wurde ihr Sohn Burak Bektaş in Berlin erschossen. Die Hinweise verdichten sich auf ein rassistisches Tatmotiv – trotz unzureichender Ermittlungen und der Verschleppung von Aufklärung. Melek Bektaş fordert: „Ich will von den verantwortlichen Behörden den Mörder meines Sohnes. Das ist das Einzige, was ich zu sagen habe.“
Anstelle von Symbolpolitik wünschen sich die Betroffenen Aufklärung und strukturelle Veränderungen. Henkel-Guembel fordert Aufrichtigkeit von den staatlichen Entscheidungsträger*innen, welche die Realität und somit die aktuellen Missstände sowie die Wurzeln der Verbrechen anerkennt. Wie auch viele der Mitredner*innen betont sie die Wichtigkeit des Zusammenhalts innerhalb des Netzwerkes: „Der Lärm unserer Solidarität ist lauter als die Stimmen des Hasses“