Entgegen vieler Vorurteile wollen sich Jugendliche mit der Shoah auseinandersetzen. Die Frage ist nicht ob, sondern wie. Um das Menschheitsverbrechen in seiner Komplexität besser zu verstehen, können außerschulische Lernorte, wie Jugendclubs oder auch das Internet helfen. Zwei pädagogische Materialien zeigen beispielhaft, wie eine intensive, spezifische und außerschulische Auseinandersetzung aussehen und wie sie zur Antisemitismusprävention beitragen kann.
Regelmäßig sind mittlerweile Erinnerungsorte und Gedenkstätten Ziele von antisemitischen Angriffen, wie zuletzt im brandenburgischen Wulkow. Dort wurde in der ersten Februarhälfte die Tafel eines Gedenksteins gestohlen, der an ein ehemaliges Außenlager des Ghettos Theresienstadt erinnert. Die Frage, ob und wie solche Angriffe verhindert werden können, liegt nahe. Die konkrete Antwort oftmals nicht. Ein Anfang kann in der Schule gemacht werden, wo sich Jugendliche häufig das erste Mal mit der Shoah auseinandersetzen. Doch genau dort und dadurch werden hohe gesellschaftliche Erwartungen an die Jugendlichen gestellt. Einen Beitrag zur Geschichtsvermittlung und gleichzeitigen Prävention von Antisemitismus kann historisch-politische Bildungsarbeit leisten. Bildungsformate dieser Art können vielfältig stattfinden, beispielsweise durch Workshops im Unterricht oder außerschulisch in Jugendclubs und Vereinen. Zunehmende Beliebtheit erfahren auch online zugängliche pädagogische Begleitmaterialien von Gedenkstätten.
Post-Shoah-Antisemitismus außerschulisch begegnen
Die Online-Ausstellung „Jugend im KZ” klärt über die Situation und die Schicksale von Kindern und Jugendlichen in den Konzentrationslagern Buchenwald und Mittelbau-Dora auf. Das pädagogische Material besteht aus drei Modulen, in denen sich Schüler*innen mit Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus, den Biografien der verfolgten Kinder und Jugendlichen und der sensiblen Nutzung von Online-Ausstellungen und Internetquellen beschäftigen. Pädagogische Fachkräfte können die Module für die jeweilige Gruppe und die Bedürfnisse der Teilnehmenden anpassen und bekommen im Material selbst Anregungen dazu.
„Fußballer im Fokus” bietet einen Projekttag für Jugendliche mit drei Workshops, in denen sie sich zuerst anhand eines Zeitstrahls mit Politik und Fußball auseinandersetzen und in den anderen beiden Workshops konkret mit Biografien von Fußballern, die verfolgt wurden, arbeiten und sich mit der Erinnerung an diese Spieler beschäftigen. Ein Beispiel stellt dort der jüdische Fußballer Julius Hirsch dar. Er war einer der erfolgreichsten deutschen Fußballer vor dem Ersten Weltkrieg und mittlerweile wurde sogar ein Preis nach ihm benannt, der jährlich vom DFB an Personen, Projekte oder Initiativen verliehen wird, die sich öffentlich gegen Diskriminierungen jeglicher Art positionieren. Weiterführend gibt das Material Ideen zur Auseinandersetzung im eigenen Fußballverein oder in der eigenen Stadt. Gemeinsam mit dem Fußballverein Borussia Dortmund entwickelten die Arolsen Archives, ein internationales Zentrum über NS-Verfolgung mit dem größten Archiv zu den Opfern und Überlebenden der Shoah, dieses pädagogische Material.
Die Auseinandersetzung mit antisemitischen Kontinuitäten ist innerhalb beider Materialien nicht geplant. Je nach Fachkraft ist es aber möglich, vertiefend und weiterführend zu arbeiten und damit auch Antisemitismusprävention stärker in den Blick zu nehmen. Beide Materialien bewegen sich nah an den Lebensrealitäten der Teilnehmenden. Sowohl durch einen regionalen Bezug als auch durch das Teilen der gleichen Freizeitaktivität ensteht Empathie zu den Schicksalen der Verfolgten.
Im Gespräch mit Belltower.News kommentiert Nils Weigt, Gedenkstättenpädagoge und aktiv im Arbeitskreis und Erinnerungsort Wulkow, mit Blick auf seine eigene pädagogische Praxis: „Mein Ziel ist es immer, die Biographien der Häftlinge sichtbar zu machen, damit die Jugendlichen sich in die Person hineinversetzen können und das Individuum sehen, das eine Geschichte und Gefühle hat wie sie. Anhand der Biographien der Häftlinge des Theresienstädter Außenlagers sieht man zum Beispiel die Diversität von ‚jüdischen’ Erfahrungen. Die Anführungszeichen deshalb, weil viele von ihnen zu Juden gemacht wurden. Sie galten als Juden, obwohl sie sich selber gar nicht so gesehen haben. Wieder andere waren zionistisch oder betrachteten sich vor allem als Tschechen, obwohl sie zu Hause deutsch sprachen.”
Schule und Studien
Oft wird auf die Schule verwiesen, die eine Basis von Wissen über Geschichte und politische Bildung vermitteln und gleichzeitig den Schüler*innen ethische Grundsätze näherbringen soll. Denn hier findet in der Regel eine erste Auseinandersetzung mit der Shoah und den nationalsozialistischen Verbrechen statt. Immer wieder wird auch über einen verpflichtenden Gedenkstättenbesuch in der Schulzeit diskutiert, der Empathie mit den Opfern der Shoah herstellen soll. Nils Weigt bemerkt im Gespräch: „Erwachsene haben sehr große Erwartungen an so einen Gedenkstättenbesuch von Jugendlichen. Ich bin sehr skeptisch, was man in einer zweistündigen Führung eigentlich überhaupt erreicht. In mehrstündigen Formaten sieht es da schon besser aus.”
Wichtig wäre das allemal, denn menschenfeindliche Meinungen sind auf dem Vormarsch. Die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2023 zieht eine erschreckende Bilanz: Extrem rechte Einstellungen haben unter Erwachsenen im Vergleich zu den vorherigen Jahren deutlich zugenommen; Antisemitismus, Diktatur und auch die Verharmlosung des Nationalsozialismus gewinnen immer mehr an Zustimmung. Jugendliche unter 18 werden allerdings nicht befragt.
Um die geht es im Multidimensionalen Erinnerungsmonitor V, einer Studie aus 2022, in der Menschen aus verschiedenen Altersgruppen zur Erinnerungskultur mit dem Fokus auf die Zeit des Nationalsozialismus befragt wurden. Über die Hälfte der Befragten sagen demnach, dass sich zukünftige Generationen an die Zeit des Nationalsozialismus am ehesten erinnern sollen. Zum Vergleich: Der Themenkomplex mit der zweithöchsten Nennung umfasst die historischen Ereignisse rund um die Wiedervereinigung und kommt in der Befragung auf 25,3 Prozent. In der Altersgruppe zwischen 16 und 30 Jahren lehnen außerdem im Vergleich zu den vorherigen Befragungen immer mehr Menschen die Aussage ab, dass es Zeit wäre, einen Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit zu ziehen. Auf einer Skala von 1 (lehne stark ab) bis 5 (stimme stark zu) lag die durchschnittliche Antwort der 16-30-Jährigen 2020 bei 2,59. In der aktuellen Befragung liegt der Durchschnitt bei 2,17.
Zusätzlich dazu gaben die Befragten an, dass ihre eigene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus größtenteils durch Medien, wie Filme oder Bücher und durch Gespräche mit Freund*innen oder der Familie stattfände. Daraus lässt sich schließen, dass Jugendliche durchaus daran interessiert sind, sich mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.
Historisch-politische Bildungsarbeit und Post-Shoah-Antisemitismus
Die historisch-politische Bildungsarbeit kann einen großen Teil zur Aufklärung und Auseinandersetzung über und mit der Zeit des Nationalsozialismus beitragen. Politische Hintergründe werden behandelt, kritisch hinterfragt und kontextualisiert. Konkret können sich Schüler*innen beispielsweise mit den Nürnberger Gesetzen von 1935 beschäftigen und sich so mit der rechtlichen Grundlage zur Verfolgung von Jüdinnen*Juden sowie dem Antisemitismus während der Shoah auseinandersetzen. Dabei können auch rechtsextreme und antisemitische Kontinuitäten in den Blick genommen werden.
In der historisch-politischen Bildungsarbeit geht es um mehr als nur um Wissensvermittlung. Ziel ist es, Bezüge ins Jetzt herzustellen, die Geschichte zu verstehen und aus ihr zu lernen. Ein regionaler Bezug, aber auch einer zur Lebensrealität der Jugendlichen kann dabei hilfreich sein. Im Gespräch sagte Nikolas Lelle, Leiter der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus, dazu: „Historisch-politische Bildungsarbeit kann Grundlage und Motor sein, sich gegen Antisemitismus zu positionieren. Aufarbeitung des Nationalsozialismus und Antisemitismuskritik sind verwoben und gehören zusammengedacht. Ein kritischer Blick auf das NS-System kann neben einem Verständnis für Demokratie auch darin bestärken, die Relativierung der Shoah und geschichtsrevisionistische Aussagen abzulehnen.”
Dieser sogenannte Post-Shoah-Antisemitismus, zu der auch die deutsche Schuldabwehr und die Leugnung des Holocausts gehört, setzte unmittelbar nach der Shoah ein, also mit dem Ende der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs. Bis heute hält sich der Mythos, dass die meisten Deutschen im Widerstand agiert und keine Mitschuld an der Ermordung von sechs Millionen europäischer Jüdinnen*Juden hätten. Die erste MEMO-Studie aus dem Jahr 2018 unterstreicht diesen Fakt. Fast 70 Prozent der Befragten gaben an, dass ihre Vorfahren während des Zweiten Weltkriegs keine Täter*innen waren. Weitere 18 Prozent glaubten sogar, dass ihre Vorfahren potenziellen Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung geholfen hätten. Tatsächlich waren es etwa 0,3 Prozent der deutschen Bevölkerung, die das wirklich getan haben.
Besonders deutlich ist die Schuldabwehr rechtsaußen. . Während der Proteste gegen die Corona-Politik äußerte zum Beispiel Attila Hildmann, Jüdinnen*Juden hätten selbst Schuld an der Shoah, hätten sie gar mitfinanziert und wollten die „deutsche Rasse“ auslöschen.Alexander Gauland, damaliger Spitzenkandidat der AfD, forderte 2018 beim sogenannten „Kyffhäusertreffen“ des rechtsnationalen „Flügels“ der AfD, dass man „den Deutschen“ die zwölf Jahre Nationalsozialismus nicht mehr vorhalten solle, da sie die eigene Identität heute nicht mehr betreffen würden. Solch Schlussstrich-Forderungen beinhalten, sowohl die Opfer der Shoah zu vergessen als auch rechte Kontinuitäten zu ignorieren.
Lelle bemerkt: „Es bleibt also auch aufgrund aktueller Äußerungen wichtig und notwendig zu verstehen, was Antisemitismus ist und wie er sich äußert. Zu verstehen, wie Antisemitismus historisch in Erscheinung tritt, kann dabei helfen, sich gegen gegenwärtigen Antisemitismus zu positionieren.”