Im September dieses Jahres feierten die Bewohner*innen des Familienlandsitzprojekts „Goldenes Grabow“ ein Herbstfest. Dabei hatten sie unter anderem Besuch von Mitgliedern der sogenannten „Artgemeinschaft“, einem völkischen Siedlungsprojekt in der Region Güstrow, das sich laut Selbstbeschreibung an germanisch-nordische Menschen richtet und dem ein rassistisches Sittengesetz zugrunde liegt. Das „Goldene Grabow“ gilt als einer der ersten Familienlandsitz Projekte der „Anastasia“-Bewegung in Deutschland. Die Anhänger*innen, deren Interesse auf den ersten Blick in einer alternativen und nachhaltigen Lebensweise auf dem Land zu liegen scheint, berufen sich in ihrer Lebensweise auf die zehnbändige Romanreihe des russischen Autors Wladimir Megre rund um die in der russischen Taiga lebenden Anastasia. Bei genauerer Betrachtung sind dessen Bücher jedoch geprägt von Antisemitismus, Rassismus und Frauenfeindlichkeit.
Wer ist Anastasia?
In seinen Romanen schildert Megre seine angeblichen realen Begegnungen mit Anastasia in der russischen Taiga und berichtet über ihre gemeinsamen Unterhaltungen bis hin zur Zeugung zwei gemeinsamer Kinder. Der Autor lässt in seinen Büchern Anastasia selbst zu Wort kommen, um ihre Weisheiten an die Leser*innen zu tragen. Wer ihrer Philosophie folge, könne dieselben Fähigkeiten erlangen, wie Anastasia selbst: die höchste Gedankengeschwindigkeit, Allwissenheit, Telepathie und weitere übernatürlichen Fähigkeiten. Megre nutzt die weibliche Hauptfigur in seinen Romanen, um diese „als Frau“ über Themen wie Geburt, Erziehung und Sexualität sprechen zu lassen. Um seiner auf diese Weise vermittelten antisemitischen, rassistischen und antifeministischen Ideologie Nachdruck zu geben, betont Megre immer wieder die angebliche Echtheit der Anastasia:
„Alles, was ich in meinen Büchern schreibe, habe ich entweder selbst gesehen oder erlebt oder von Anastasia gehört. Alle Geschehnisse sind reale Ereignisse aus meinem Leben (…). Mystifizieren Sie Anastasia nicht zu sehr (mich schon gar nicht)! Ansonsten verwandeln Sie sie von einem zugegebenermaßen nicht ganz gewöhnlichen Menschen in ein ganz außergewöhnliches Wesen. Vielleicht ist ja gerade sie ein normaler Mensch, und wir sind unnormal.“ (Band 4: Anastasia – Schöpfung)
Der objektivierende männliche Blick
Megre beschreibt Anastasia als „junge, tadellos gebaute Frau mit langem, goldblondem Haar. Sie war von außergewöhnlicher Schönheit. (…) Alles an dieser Taiga-Lady war attraktiv und bezaubernd.“ So wird selbst die allwissende Anastasia letztendlich objektiviert und auf ihr sexualisiert dargestelltes Äußeres reduziert.
Der Objektivierung in der Darstellung von Anastasia folgt ein Vergewaltigungsversuch des Autors im Roman. In der Beschreibung ihrer ersten gemeinsamen Begegnung, folgert Megre, dass ihr Kleidungsstil sicherlich darauf ausgelegt sei „die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu lenken“ und sieht die Aufgabe eines Mannes daher darin „ihr den Hof zu machen und gegen Gottes Gebote“ zu verstoßen. Dies nicht zu tun, sei in seiner Wahrnehmung eine Beleidigung der Frau, die sich ja schließlich für den Mann auf diese Weise gekleidet habe. In seinem Versuch, seinen eigenen Ansprüchen und „Gottes Geboten“ gerecht zu werden, zieht er sie an sich heran und kommentiert, sie habe „kaum Widerstand“ geleitstet. Die ausgeschmückte Vergewaltigungsfantasie Megres endet damit, dass Anastasia klar äußert, dass sie mit dem übergriffigen Verhalten Megres nicht einverstanden sei: „Bitte lass das.“
Bekannte sexistische Vorurteile einer schönen, verführerischen Frau und eines triebgesteuerten Mannes prägen die Erzählung auch über diesen Abschnitt hinaus. Gerade vor dem Hintergrund, dass Megre an vielen Stellen die Echtheit der beschriebenen Begebenheiten beteuert, verstärkt sich der Eindruck, dass der Autor in seinem Roman eigene Vergewaltigungsfantasien verschriftlicht oder Vergewaltigungen im Allgemeinen zumindest relativiert. Megre wird anschließend ohnmächtig und kann Anastasia dadurch nicht weiter bedrängen. Die Erklärung, die sie ihm anschließend dafür gibt ist die folgende:
„‚Die Harmonie hat dein Verhalten mir gegenüber und die in dir entstandenen Verlangen nicht gebilligt. […]‘ ‚Was hat das alles mit Harmonie zu tun? Du selbst warst es doch, die sich gesträubt hat.‘ ‚Ja, auch ich habe dein Verhalten missbilligt. Es war mir unangenehm.‘ […] ‚Ist ja drollig! Sie hat es missbilligt! Es war ihr unangenehm! Ihr Frauen unternehmt einfach alles, um Männer zu verführen: Ihr entblößt eure Beine und Brüste, tragt hohe Absätze […] und wenn einer anbeißt, bekommt er zu hören: Bitte lassen Sie mich in Ruhe. Für wen halten Sie mich eigentlich? Wozu dann erst diese ganze Show? Heuchlerinnen!‘“ (Band 1: Anastasia – Tochter der Taiga)
Somit inszeniert sich Megre in die Rolle des Opfers: Er selbst konnte sich aufgrund seiner triebgesteuerten Männlichkeit nicht zurückhalten und Anastasia habe ihm die falschen Signale gesendet, ihm geschadet – ein Akt des Victim-Blaiming par excellence. Damit die Geschichte aber zu einem versöhnlichen Ende kommt (schließlich galt es zu dem Zeitpunkt noch neun weitere Romane zu füllen), entschuldigt sich Anastasia letztendlich beim übergriffigen Megre und unterstützt damit seine These, dass Frauen begehrt werden wollen und das Geschehene ihre eigene Schuld gewesen sei.
Die Beschreibung, dass nicht ihr eigener Widerspruch zu seinen Handlungen, sondern der Widerspruch einer höheren Macht, der „Harmonie“ letztendlich den Missbrauch stoppen konnte, verstärkt an dieser Stelle noch den Eindruck, dass die Betroffene nicht selbstständig über ihren Körper und ihre Bedürfnisse verfügen kann. Die Entscheidung wird zwischen dem Mann und der imaginierten „Harmonie“ getroffen.
Die Reinheit der Frau
Die antifeministische Ideologie, die Megre in seiner harmlos anmutenden Erzählung verbreitet, knüpft auch an bekannte esoterische Konzepte, wie Schicksalsglauben und Karma an. „Wie bei den meisten esoterischen Lehren ist ‚Reinheit‘ eine leitende Metapher. Als unreine Frau wird in den Büchern eine Frau definiert, die ihre Reize nutzt, um Männer zu verführen“, so der Journalist Raimond Lüppken, ein Kenner der Szene, zum Frauenbild der Romanreihe. Die als unrein verstandenen Frauen bezeichnet Megre weiter als „leere Hüllen“, die den Mann mit ihrem „äußerlichen Glanz“ zu betrügen versuchten. Nur, wer also als rein gilt, ist mehr wert als ihr pures Äußeres.
Doch wer gilt in der Vorstellung Megres als rein? Rein ist, wer keinen Sex vor der Ehe habe und diesen auch nur zum Zwecke der Fortpflanzung (Band 1), folglich wird Homosexualität abgelehnt. Daran, dass aber sicher ein im Verständnis der Ideologie „perfektes“ Kind geboren wird, sind diverse Bedingungen geknüpft: Neben verschiedenen altertümlichen Bräuchen, die es zu beachten gelte, ist die Partner*innenwahl von sehr hoher Bedeutung. Megre vertritt in seinen Büchern die Telegonie-These. Anhänger*innen dieser pseudowissenschaftlichen Idee gehen davon aus, dass der erste Sexualpartner einer Frau bei dieser eine Art genetischen „Stempel“ hinterlasse, der sich bei der Geburt eines späteren Kindes mit einem neuen Partner mit abbilden werde. Daher dürften laut Megre viele biologische Väter ihre Kinder nicht zu 100 Prozent ihre eigenen nennen, solange die Mutter bereits vor ihnen Geschlechtspartner gehabt habe. Der Autor verbreitet in seinem Buch damit ein Konzept, das sich auch in den nationalsozialistischen Blutschutzgesetzen wiederfand und vor einem vermeintlichen Angriff auf die „Reinheit“ der eigenen „Volksgruppe“ warnen sollte.
Megre weitet die Annahmen der Telegonie noch auf weitere Generationen aus und fordert Eltern dazu auf, Kinder über die angeblichen Weisheiten der Telegonie aufzuklären: „Es ist ihnen aber nicht bekannt, dass kein Kondom der Welt ihre Kinder vor dem ‚Einfluss des ersten Männchens‘, d.h. vor der ‚Telegonie‘ retten kann.“ Dabei setzt er Tierzucht und menschliche Fortpflanzung gleich und beteuert, dass „der genetische Code des Menschen Ur-Informationen über Jahrmillionen hinweg“ bewahre. Der spätere Partner und Vater eines Kindes fungiere somit nur noch als „Samenspender und Überträger von Geschlechtskrankheiten.“ Hierüber erklärt er auch einen seiner Meinung nach stattfindenden allgemeinen gesellschaftlichen Verfall und die Unfähigkeit vieler Väter, enge Verbindungen zu ihren Kindern aufzubauen.
Es wird sehr schnell deutlich, dass das in den Romanen vermittelte Frauenbild sich hauptsächlich auf die Rolle als Mutter und somit der Sicherung der eigenen homogenen Gemeinschaft bezieht. Dass in diesem Verständnis alles, was über eine kinderreiche heterosexuelle Beziehung hinausgeht, als der Gemeinschaft schädigend verstanden wird, ist die Konsequenz. An den Stellen, an denen Frauen die Schuld für ihre Unreinheit genommen werden soll, wird diese bei übernatürlichen Kräften, der modernen Gesellschaft oder den „Dunkelmächten“ gesucht. Laut Megre würden diese viele Male erwähnten „Dunkelmächte“ alle Menschen mit Hilfe hinterlistiger, wohlhabender Juden und Jüdinnen, die einem Oberpriester als Soldat*innen dienten, versklaven. Er schließt somit an die antisemitische Verschwörungsideologie der „jüdischen Weltverschwörung“ an.
Vom Buch in den Alltag: Heteronormativität und Homofeindlichkeit
Leider bleibt es nicht bei den geschriebenen Worten in Megres Romanen, was auch aufgrund der hohen Auflagen der Reihe schon erschreckend genug wäre. Die Ideologie, wie sie in den Büchern vertreten wird, wird auch von den Anastasianer*innen gelebt. Als harmlose Aussteiger*innen getarnt, die außerhalb von Städten nachhaltig leben möchten, sind in Deutschland 17 Projekte von Einzelpersonen und bis sechs zugehörigen Familien der Bewegung im Aufbau. Dabei ist der Einfluss der Ideologie in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens von Anhänger*innen deutlich erkennbar. So gibt es unter anderem Berichte über ein lesbisches Paar, das vom „Anastasia“-Landsitz im sachsen-anhaltinischen Wienrode abgelehnt wurde. In der homofeindlichen Argumentation der dort lebenden „Anastasia“-Anhängerschaft entsprach die sexuelle Orientierung des Paares nicht dem klassischen Familienbild von Mann, Frau und Kindern. In dem 84 Hektar großen Familienlandsitzprojekt „Goldenes Grabow“ war zunächst eine Schulgründung geplant, zur Zeit wird sich eher zu „Freilernen“ ausgetauscht. Drei Kinder in Grabow bei Blumenthal werden von ihren Eltern nicht zur Schule geschickt.
Betonung des „Weiblichen“
Der Wunsch, das vermeintlich „Weibliche“ und „Männliche“ voneinander zu unterscheiden und davon auszugehen, dass den beiden Kategorien bestimmte feste Charaktereigenschaften und Aufgaben in der Gesellschaft und Familie zugeschrieben werden können, die jegliche andere Interessen und Eigenschaften ausschließen, ist den Anastasianer*innen ein besonderes Anliegen. Über dieses binäre Geschlechtsverständnis hinaus, reicht die Vorstellung der Anhänger*innen nicht. Iris Krause, die zusammen mit ihrem Partner Markus Krause den Familienlandsitz Landolfswiese begründet hat, der auch als „Goldenes Grabow“ bekannt ist, schreibt dementsprechend über sich selbst: „Ich lausche meinem Herzen, einer erblühenden Weiblichkeit und ich kümmere mich um unsere Familie und um unser Land.“
Wer im „Goldenen Grabow“ lebt und eine Frau ist, kann auch am monatlichen Treffen des Schwesternkreises teilnehmen. Nach einem Frauenkongress mit dem Slogan „Erwachen einer neuen Weiblichkeit“ wurde dieser im Oktober 2011 gegründet. Ziel des Schwesternkreises sei das „Nähren der eigenen Weiblichkeit“. Es wird sehr deutlich, dass sich die Idee des Schwesternkreises, aber auch der Rollenverteilung innerhalb der Strukturen der Familienlandsitzsiedlung klare Stereotype bedienen: Frauen als emotional und redebedürftig und ausschließlich dem Wohl der Familie verschrieben.
Psychische Abhängigkeit der Anhänger*innen
Der Einfluss der Ideologie Megres wird abschließend noch in einem anderen Fallbeispiel explizit deutlich. Frank Willy Ludwig, eine bekannte Figur in der Szene erzählt auf einem Vortrag 2018 von der Überlegung dieser Frau einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Sie holte sich Rat bei ihm. „Die Tatsache, dass sich eine Frau bei einer solch wichtigen Entscheidung an bekannte Personen der Bewegung richtet und Rat ersucht, verdeutlicht die psychische Abhängigkeit von Anhänger*innen“, so Raimond Lüppken. Die ideologische Verwurzelung nehme somit direkten Einfluss auf die Lebensrealitäten der Anhängerschaft und ersetze auch bei sensiblen persönlichen Themen professionelle Hilfen. Dass sich daraus neben der menschenfeindlichen Ideologie Außenstehenden gegenüber auch Gefahren für die Anhänger*innen selbst ergeben, verdeutlicht das Risiko, das entsteht, wenn rechtsesoterische Gruppierungen aufgrund ihres harmlosen Erscheinungsbildes unterschätzt werden. Eine Zuspitzung der Überschneidung von völkischem Gedankengut und Esoterik kann besonders in diesem Jahr bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen und Querdenken Demonstrationen beobachtet werden.
Geschrieben von Alina Mönig mit redaktioneller Unterstützung von Anna Meier.
Die Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung forscht, informiert und berät zur Anastasia-Bewegung und anderen völkisch – esoterischen Strömungen. Bei Fragen können Sie sich an fachstelle@amadeu-antonio-stiftung.de wenden.