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Brandanschlag in Solingen „Betroffene müssen nicht nur das Erlebte verarbeiten, sondern auch mit Bürokratie umgehen.“

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(Quelle: picture alliance / epd-bild | Uwe Moeller (Möller))

Dazu haben wir mit Birgül Demirtaş (IDA-NRW) gesprochen, die zwei betroffene Familien des jüngsten Brandanschlags in Solingen unterstützt und auch ein Teil der „Initiative 29. Mai 1993 – Brandanschlag Solingen“ und des bundesweiten Solidaritäts-Netzwerk von Betroffenen rechter Anschläge ist.

Belltower.News: Wie geht es den Betroffenen, fast zwei Monate nach der Tat?
Birgül Demirtaş: Der Brandanschlag ist noch frisch und der Schock sitzt bei den Betroffenen tief in den Knochen. Sie funktionieren derzeit nur und haben überhaupt nicht die Möglichkeit zu trauern und sich mit der Traumatisierung auseinanderzusetzen, weil gerade sehr viel bürokratische Angelegenheiten anstehen. Wir sind in Solingen zwei privat aktive Personen, die engen Kontakt mit zwei betroffenen Familien haben und versuchen im Alltag aufkommende akute Angelegenheiten mit Behörden und Institutionen zu klären. Letzte Woche kam ein türkeistämmiger Psychologe privat vorbei, um psychologische Hilfe anzubieten. Die Opferberatung Rheinland hat ebenfalls schon Kontakt aufgenommen und es wird weitere Unterstützungsangebote geben. Auch Anwält*innen haben von sich aus Kontakt zu den Betroffenen aufgenommen.

Und die Stadt?
Die Stadt Solingen hat den betroffenen Familien einen Hinweis für Hilfen durch den Psycho-Sozialen Trägerverein oder die Traumaambulanz in der LVR-Klinik gegeben. Hier stelle ich mir die Frage: Reichen Hinweise aus, wenn Menschen hochtraumatisiert sind? Braucht es nicht einen anderen Umgang? Es fehlt an aktivem Zugehen. Um an Hilfe zu gelangen, müssen die Betroffenen zuerst eine große Menge an Bürokratie bewältigen. Aber sie sind nicht in der Lage, sich hinzusetzen und in Ruhe Termine zu vereinbaren oder Anträge auszufüllen. Die direkt Betroffenen können das überhaupt nicht bewältigen. Sogar ich, als außenstehende Person bin total überfordert. Fast alle Unterlagen und wichtige Dokumente der Überlebenden sind im Haus verbrannt. Alles muss neu besorgt werden und ich habe das Gefühl, das hat alles kein Ende.

Wie sieht es mit der finanziellen Unterstützung aus?
Da ist das gleiche Problem: Es gibt von Seiten der Stadt Unterstützungsmöglichkeiten. Was erst einmal gut verlaufen ist, war die finanzielle Soforthilfe und die Entschädigung von drei schwer verletzten Personen. Aber die meisten Angebote sind mit viel Bürokratie verbunden und nicht barrierefrei, besonders sprachlich. Viele der Betroffenen gehören zur türkischen Minderheit in Bulgarien und sprechen hauptsächlich Türkisch und Bulgarisch. Die Familien haben sich enorm verschuldet, da Verwandte und Bekannte ständig Vorkasse leisten mussten, zum Beispiel für tägliche Fahrten ins Kölner Krankenhaus. Die Rückerstattung dieser Kosten durch die Stadt ist mit viel Bürokratie verbunden. Auch in der Notunterkunft, in die sie von der Stadt gebracht wurden, fehlte zunächst alles im Hinblick auf den täglichen Bedarf. Die Stadt erwartete, dass die Überlebenden und Betroffenen eine Liste mit Bedarfen erstellen und einreichen würden. Das Wissen über die Bedarfs-Liste ist bei den überhaupt nicht angekommen, vor allem wegen der Sprachbarrieren. Die Unterstützungsangebote und die Bedarfe der Überlebende und Betroffenen klaffen auseinander.

Das betrifft nicht nur diesen letzten Anschlag?
Es gibt eine Kontinuität in dem, was Betroffene nach einem Brandanschlag erzählen: Institutionen funktionieren nicht so, wie sie eigentlich in so einem Fall funktionieren sollten; Zuständigkeiten bei der Erledigung von bürokratischen Angelegenheiten sind nicht immer klar. Viele Menschen fühlen sich alleine gelassen. Nach einem Anschlag ist die Bürokratie sehr hoch, plötzlich hat man einen Stapel von Papier auf dem Tisch liegen – das ist die Lebensrealität für Menschen, die ein lebensbedrohliches und traumatisierendes Erlebnis hatten. Die Betroffenen müssen nicht nur das Erlebte verarbeiten, sondern auch mit Behörden, Anträgen und Polizei umgehen.

Du bist Teil der Initiative „29. Mai 1993 – Brandanschlag Solingen“, in der auch die Familie Genç involviert ist, die Überlebenden von damals. Wie geht es der Familie nach dem Brandanschlag vom März 2024, der Erinnerungen an den Mai 1993 wachgerufen hat?
Die Familie Genç hat 1993 aufgrund des Brandanschlag fünf Familienmitglieder verloren. Tatsächlich ist die Familie nach dem neuen Anschlag stark traumatisiert. Es wurden viele Gespräche geführt und Treffen organisiert. Hatice Genç hat damals ihre beiden Töchter verloren und kämpft seit 30 Jahren mit Schlafproblemen und kann nur einschlafen, wenn es draußen hell wird. Sie überbrückt die Dunkelheit, um Geräusche wahrzunehmen. Man könnte sagen, sie hält seit 30 Jahren Wache. Die Familie Genç hat besonders Angst davor, jetzt, anlässlich des 31. Jahrestags Ende Mai, erneut Ziel rechter Gewalt zu werden. Was aber auch oft vergessen wird, der weitere Brandanschlag in Solingen auf die Wohnung von Sibel İşini.

Was ist da passiert?
Am 20. Oktober 2021 haben zwei weiße jugendliche Molotow-Cocktails auf ihren Balkon geworfen. Am nächsten Tag wurde eine medizinische Maske mit Hakenkreuzen und SS-Runen in der Nähe gefunden. Der damals 2022 angeklagte Maurice K. wurde vom gleichen Anwalt vertreten wie Christian B., der 1993 für den Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç verantwortlich war. Weil aber der Angeklagte minderjährig war und Sibel nicht zur Nebenklage zugelassen wurde, konnte sie nie erfahren, ob es zu einem Urteil gekommen ist. Wir wissen nicht, ob ein rassistisches Motiv in Betracht kam oder ausgeschlossen wurde.

Das heißt, es gab drei Brandanschläge in Solingen seit 1993, bei denen in zwei Fällen unklar ist, ob es ein rassistisches Motiv gab?
Vielleicht sogar vier. Bei neuesten Recherchen wurde bekannt, dass es bereits am 9. November 2022 im gleichen Gebäude des letzten Anschlags, einen Brand gab. Sibel und ich haben mit ehemaligen Hausbewohner*innen gesprochen. Sie sagen, dass auch dieser Brand vorsätzlich gelegt wurde. Der 9. November ist ein Datum in der deutschen Geschichte, das viele Fragen aufwirft.

Was sind aus deiner Perspektive als Solingerin die Unterschiede und Parallelen zu den Reaktionen auf den Anschlag von 1993 im Hinblick zu den letzten Anschlägen? Hat die Stadt aus den Fehlern im Umgang mit den Betroffenen gelernt?
Viele aus der Mehrheitsgesellschaft betonen: „Seit 30 Jahren gedenken wir dem Brandanschlag von 1993!“ Aber dass die Kämpfe der Familie dahinterstecken, bleibt oft unsichtbar. Die Stadt Solingen gedenkt jedes Jahr, aber in der Praxis hat sich nicht viel geändert, wie sich beim Brandanschlag auf Sibels Balkon zeigte. Bei Sibel hat der Bürgermeister sich nicht gemeldet, und sie hat auch kaum Unterstützung bekommen. Und das gleiche gilt nun für die vier Toten und die Überlebende des letzten Brandanschlags. Ein Tatverdächtiger wurde gefasst, nachdem er bei einem Machetenangriff einen anderen Menschen verletzt hat. Bei der Pressekonferenz wurde die Vermutung deutlich, dass es in seiner ersten Tat um einen Konflikt im Mietverhältnis und in seiner zweiten Tat um ein Drogengeschäft ging. Ich glaube, nicht nur die Stadt, sondern auch ein Großteil der weißen Mehrheitsgesellschaft ist erleichtert darüber, dass vermutlich kein rassistisches politisches Motiv dahintersteckt. Man spürt diese Erleichterung deutlich sowohl bei der Stadtverwaltung als auch teilweise bei den Medien, die nun zur Ruhe mahnen.

Sind die Betroffenen genauso erleichtert?
Nein, die Ermittlungen laufen zum Glück noch. Sehr erschreckend war die Aussage des Staatsanwaltes, dass während dieses Macheten-Angriffs die Worte ‚Sieg Heil‘ ausgesprochen wurden und das unbeachtet blieb. Wir in Solingen sind sehr wachsam, also nicht nur ich selber, auch die anderen Betroffenen, Familie Genç sowie Menschen aus der bulgarischen und türkischen Community sind äußerst aufmerksam. Solingen ist zwar eine Großstadt, dennoch kleiner als gedacht, weil sich Menschen oft untereinander irgendwie kennen. Es wurde schnell klar, dass der Beschuldigte und der Verletzte bei diesem Macheten-Angriff gute Freunde waren. Wenn man nach den Namen recherchiert, kann man sehen, dass bei dem Beschuldigten, der mittlerweile verhaftet ist, in den sozialen Medien richtig gut aufgeräumt, sehr vieles gelöscht wurde. Interessant ist aber der Musikstil des Freundes, der bei diesem Macheten-Angriff verletzt wurde. Er hört eine Mischung von antifeministischer Musik; Musik teils mit Tendenz zur rechten bis extremen Rechten wie Frei.Wild, Unantastbar, Krawallbrüder, Kategorie C, Böhse Onkelz. Wenn man tief in die Recherchearbeit geht, sieht man auch eine Vernetzung einiger Freund*innen, Follower*innen, die mit anderen Menschen in Solingen vernetzt sind und rassistische Post machen.

Gibt es eine rechte Szene in Solingen?
Laut der Stadtverwaltung gibt es keine rechte Szene in Solingen. Ich bin da anderer Meinung. Es gibt wohl Menschen, die sehr gut miteinander vernetzt sind. Ob sie einer Organisation angehören, kann ich nicht sagen. Aber es gibt drei Locations in Solingen von denen ich weiß, dass sich dort rechtsgesinnte Menschen treffen. Es gibt immer wieder Vorfälle in bestimmten Gegenden, die einen aufhorchen lassen. Zum Beispiel bei dem öffentlichen Theaterprojekt von Bassam Ghazi zum 30. Jahrestag des Brandanschlags im Jahr 2023 gab es mehrere rassistische Störungen und auch medizinische Masken mit Hakenkreuzen wurden auf dem Boden gefunden. Dieses Theaterprojekt ermöglichte es, aktiv zu Fuß teilzunehmen, und es gab vier Stationen. Eine Station davon befand sich auf der Trasse, in der Nähe von Sibels Haus. Genau da wurden diese Masken gefunden, wie einen Tag nach dem Brandanschlag auf Sibels Balkon im Jahr 2021. Das wirft natürlich Fragen auf, ob es sich bei all diesen Vorfällen um Einzelfälle handelt.

Eine der wichtigsten Lehren aus dem NSU-Komplex war, den Betroffenen zuzuhören. Werden sie ernst genommen?
Nein, die Überlebenden fühlen sich nicht ernst genommen, vor allem, weil eine wichtige Aussage einer Überlebenden bei der Polizeibefragung beim letzten Anschlag nicht ins Protokoll aufgenommen wurde, was uns wirklich sehr nachdenklich gemacht hat. Sie sagte aus, dass sie und ihr Mann wegen Schreie aus dem Dachgeschoss wach wurden, in den Flur flüchten wollten, dabei auf einer Flüssigkeit ausrutschten und ihre Beine sofort angefangen haben zu brennen. Der Anwalt wollte prüfen lassen, ob Reste von Brandbeschleuniger in den oberen Etagen vor den Eingangstüren zu finden sind. Die Staatsanwaltschaft hat das abgelehnt mit der Begründung, dass es in dem Protokoll gar nicht drinsteht, das von der Polizei im Krankenhaus erstellt wurde. Die Zeugin hat in Anwesenheit von sechs Zeugen eine erneute Aussage schriftlich festhalten lassen. Die wurde anschließend staatlich übersetzt und zur Staatsanwalt nach Wuppertal gebracht. Wir sind sehr gespannt, was rauskommt.

Ihr seid auch ein Teil des bundesweiten Solidaritäts-Netzwerkes von Betroffenen rechter Anschläge. Das ist ein Unterschied zu den 1990er Jahren, in denen es zwar Mobilisierung und Proteste gegen rassistische Anschläge gab, jedoch oft ohne die Einbeziehung der Betroffenen. Wie unterstützt dieses neues Netzwerk die Betroffenen des Brandanschlags vom 25. März?
Nach dem Anschlag haben sich viele Initiativen bei mir gemeldet und Unterstützung angeboten. In dieser Zeit war ich selber tatsächlich total traumatisiert und eine Weile handlungsunfähig, weil mich das so hart getroffen hat. Das Unterstützungsangebot habe ich angenommen. Zwei Wochen nach dem Brandanschlag haben wir in Solingen ein Austauschtreffen organisiert. Die Organisation hat dankenswerterweise die Kölner Initiative „Herkesin Meydani“ übernommen. Der Gedanke war eigentlich erstmal, sich auszutauschen, die Betroffenen und Überlebenden kennenzulernen und sie mit ins Boot holen. Daraus ist aber dann die Idee entstanden, einen Brief mit den Forderungen von Betroffenen an den Solinger Oberbürgermeister zu schreiben.

Habt ihr eine Antwort bekommen?
Nach neun Tagen, tatsächlich. In der Rückmeldung werden die Unterstützungsangebote von Seiten der Stadt aufgeführt, die ich eben erwähnt hatte. Diese Angebote entsprechen jedoch nicht den Bedürfnissen von Betroffenen. Es gibt zum Glück Unterstützung und Solidarität durch das Netzwerk. Familienmitglieder der Familie Genç, Sibel İşini und ich haben die Familie Kostadinov und Kostadinchev, Überlebende aus dem letzten Anschlag, auch zu Hause besucht. Das Treffen war sehr emotional, es sind viele Tränen geflossen. Dass die Familie Genç und Sibel İşini auch Überlebende von Brandanschlägen aus Solingen waren, war schockierend für die anderen. Alle hatten an dem Tag eine Gemeinsamkeit: der Schmerz, das Leid und die Trauer. Alle Solinger Betroffene wollen in Kontakt bleiben. An der Gedenkveranstaltung der Familie Genç am 29. Mai wollen auch die anderen Betroffenen teilnehmen. Das ist ein großer Schritt für uns.


Birgül Demirtaş ist Sozial- und Kulturwissenschaftler*in und ist derzeit bei IDA-NRW tätig. Sie ist Zeitzeugin der Solinger Brandanschläge 1993, 2021 und 2024. Ihre Schwerpunkte sind u.a. Rassismus(-kritik), rechte sowie rassistische Gewalt aus der Betroffenenperspektive und antimuslimischer Rassismus. Im Rahmen von IDA-NRW veröffentlichte sie rassismuskritische schulische und außerschulische Bildungsmaterialien zum Solinger Brandanschlag 1993 und publiziert zu rassismuskritischen Themen, insbesondere zu den Solinger Brandanschlägen. Sie ist auch Mit-Hrsg.*in des Bandes „Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag. Rassismus, extrem rechter Gewalt und die Narben einer vernachlässigten Aufarbeitung“ (transcript, 2023). 

Das Interview führte Duygu Gürsel. Sie ist Soziologin und wissenschaftliche Referentin im Modellprojekt „Selbstbestimmt vernetzen, erinnern und bilden“, durch welches auch die „Initiative 29. Mai 1993 – Brandanschlag Solingen“ gefördert wird.

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