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Brandenburg 2017 Alltagsrassismus, Einschüchterung, Gewalt

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Im Falle des Brandanschlags auf eine Flüchtlingsunterkunft im Jahr 2016 in Jüterborg fiel in diesem Jahr das Urteil gegen die Täter. (Quelle: dpa)

 

Für den Belltower.News-Jahresrückblick sprechen wir mit zivilgesellschaftlichen Initiativen und Akteur_innen über die Situation in ihrem Bundesland. Das Interview mit Martin Vesely von „Opferperspektive“, der Brandenburger Beratung für Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt, führte Simone Rafael.

Was waren die wichtigsten Ereignisse und Akteure in Brandenburg im Rechtsextremismus?

 

In 2017 hatten wir leider weiterhin mit einer besonders großen Anzahl rassistisch motivierter Angriffe zu tun. Die Zahl wird ähnlich hoch sein wie in 2016, wo wir mit 221 Angriffen einen Höchststand verzeichnen mussten. Die Angriffe gibt es in ganz Brandenburg. Allerdings erkennen wir auch Schwerpunkt-Regionen, wo sich die Taten häufen. In Südbrandenburg, also Cottbus und Umgebung, gab es besonders viele Übergriffe. Sie treffen vor allem Geflüchtete, aber auch internationale Studierende an der BTU Cottbus. Menschen, die sich für Geflüchtete engagieren, sind auch weiter Ziele von Gewalt.

In Südbrandenburg gibt es neben der gefestigten rechtsextremen Szene auch viel Zustimmung für die AfD. Südbrandenburg ist eine Hochburg der AfD, nicht nur in Brandenburg, sondern auch im bundesweiten Vergleich. Anfang 2017 wurde entsprechend hier auch versucht, ein brandenburgisches Pendant zu „Pegida“ aufzubauen, unter dem Namen „Zukunft Heimat“. Die wöchentlichen Demonstrationen waren ein Sammelbecken. Hier liefen organisierte Neonazis ebenso mit wie Rechtspopulist_innen, „besorgte Bürger_innen“ und AfD-Umfeld oder das rechte Kampfsport-Milieu. Motto war, „die Heimat“ zu „verteidigen“, und das war nicht gewaltfrei gemeint. Aus den Demonstrationen heraus gab es zwei gezielte Angriffe auf Gegendemonstrant_innen. Immerhin gibt es in Cottbus Menschen, die sich solchen Aufmärschen entgegen stellen! Seit Sommer sind die Aufmärsche unregelmäßiger geworden und zum Jahreswechsel 2017/18 gab es dann nochmal den Versuch von „Zukunft Heimat“, mit einem weiteren Aufmarsch weiterzumachen.

Als weiteres generelles Problem in Brandenburg, aber besonders in Cottbus, beobachten wir eine mangelnde Strafverfolgung. Selbst wenn Täter gefasst werden, dauert es in der Regel ein bis drei Jahre, bis ein Verfahren am Amtsgericht wirklich stattfindet. Das sind drei Jahre, in denen die Täter unbehelligt bleiben. Für die Opfer heißt das: Drei Jahre Unsicherheit, drei Jahre Leiden. Und wenn es zum Urteil kommt, wird die lange Verfahrensdauer auch noch strafmildernd für die Täter ausgelegt. Dazu gibt es etwa in Cottbus einen Anwalt, der selbst Teil der rechten Szene ist und der dies auch strategisch nutzt. Er zieht Verfahren mit Anträgen in die Länge, damit die Strafen immer geringer ausfallen.

Das Signal dieser mangelnden Strafverfolgung ist fatal: es entsteht praktisch ein Gefühl von Straffreiheit bei den Tätern. Und es ist eine große Belastung für die Opfer. Offiziell wird die lange Verfahrensdauer mit Überlastung der Gerichte begründet. Allerdings sollte gerade in rechten Hegemonieräumen wie Südbrandenburg dringend eine Lösung gefunden werden.

Wir hatten deshalb auch Prozesse, die gar nicht mehr vernünftig geführt werden konnten: Etwa den gegen einen Angestellten der Flüchtlingsunterkunft in Massow, der 2015 mit massivem Pfefferspray-Einsatz über 60 Menschen verletzt hat (vgl. Opferperspektive). Im Verfahren konnte der Tathergang nicht mehr aufgeklärt werden, weil die Betroffenen und Zeugen längst alle abgeschoben worden waren oder durch die Behörden zur „freiwilligen Ausreise“ gedrängt wurden. Verurteilt wurde der Mann dann wegen einem anderen Vergehen zu einer weitaus milderen Strafe (vgl. rbb).

Fast ebenso schwer wie tätliche Angriffe wiegt in Brandenburg ein tief verwurzelter und für die Betroffenen unerträglicher Alltagsrassismus. Der trifft Geflüchteten und Menschen mit Migrationshintergrund praktisch jedes Mal, wenn sie vor die Wohnungstür gehen. Es sind Beleidigungen, abwertende oder abwehrende Bemerkungen und Gesten, Unfreundlichkeit – permanente Nadelstiche. Viele Opfer, die wir beraten, beschreiben deshalb den Angriff nur als Endpunkt einer täglichen rassistischen Abwertung, die ihnen schwer zu schaffen macht und ihre Lebensqualität massiv einschränkt. Der Alltagsrassismus zermürbt und führt schlimmstenfalls dazu, dass Betroffene kaum noch ihre Wohnung verlassen wollen.

 

Welchen Einfluss hat der Rechtspopulismus in Brandenburg?

Die AfD sitzt im Landtag, und mit Alexander Gauland hatten wir hier bis zur Bundestagswahl auch einen prominenten AfD-Vertreter, der gern einmal laut die rassistische Trommel gerührt hat. Das war aber kaum mehr als das übliche rassistische Getöse der AfD bundesweit. Und es korrespondiert mit der rassistischen Grundeinstellung, die in weiten Öffentlichkeiten Brandenburgs herrscht. Aber damit stieß die AfD auf viel Gegenliebe, gerade Frankfurt / Oder und im Oder-Spree-Kreis. Im Wahlkreis Cottbus-Spree-Neiße war bei der letzten Bundestagswahl die AfD stärkste Kraft bei den abgegebenen Zweitstimmen.

 

Gab es herausragende Ereignisse?

Es gab auch 2017 Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte. Neu war dabei, dass die Hemmschwellen weiter gesunken sind, auch Anschläge auf bewohnte Unterkünfte zu verüben und damit den Tod der dort lebenden Menschen in Kauf zu nehmen. Das war etwa in Kremmen im April 2017 der Fall. In der Nacht werden zwei Molotowcocktails über den Zaun einer Unterkunft für Geflüchtete geworfen. Diese entzünden den Rasen. Der Wachschutz kann das Feuer löschen. Es wird wegen versuchten Mordes und versuchter schwerer Brandstiftung ermittelt (vgl. MAZ). Inzwischen sind zwei Tatverdächtige ermittelt und sitzen in Untersuchungshaft (vgl. MAZ).

Außerdem fand 2017 das Verfahren wegen eines Brandanschlags in Jüterborg im Vorjahr statt (vgl. Opferperspektive). Hier trat zu Tage, dass wir es nicht mehr mit spontanen rassistischen Angriffen zu tun haben, sondern mit organisierten, geplanten, vorsätzlichen, rassistisch motivierten Verbrechen. Hier war der Vater eines der Täter ein stadtbekannter organisierter Rechtsextremer, der Benzin besorgte, die Brandsätze zusammenstellte, und dann seinen Sohn und einen Freund überredete, den Anschlag auf ein Wohnheim für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in Jüterborg zu verüben. Dabei nahmen die Täter klar in Kauf, dass auch Menschen zu Schaden kommen. Der Sohn, selbst auch als Teilnehmer rassistischer Aufmärsche bekannt, ist wegen 20fachen versuchten Mordes verurteilt worden.

Dass es so weit kommen konnte, liegt auch an den öffentlichen Diskursen zum Thema in der Stadtgesellschaft. Jüterborgs Bürgermeister, der parteilose Politiker Arne Raue, beteiligt sich selbst an rassistischen Argumentationen und schürt Ängste vor Geflüchteten, etwa über Postings in sozialen Netzwerken. Entsprechend gab es nach dem Übergriff auch keine öffentliche Verurteilung der Tat, keine Solidarität mit den Angegriffenen, den schon zuvor durch die Flucht traumatisierten unbegleiteten Minderjährigen. Es gibt auch in Jüterborg Menschen, die die Geflüchteten unterstützen. Allerdings tun sie das praktisch heimlich. Die Bedrohung in der Stadt ist so groß und es gibt so wenig Solidarität, dass sich die Unterstützer_innen nicht mehr trauen, sich öffentlich zu Wort melden. Und das trägt wiederum dazu bei, dass viele, die nicht direkt betroffen sind, das Problem des Alltagsrassismus und der Einschüchterung gar nicht wahrnehmen.

 

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