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Brennpunkt Autodafé Wenn Bücher verboten werden

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(Quelle: Unsplash)

„Es ist unbedingt erforderlich, dass wir unsere Kinder auf altersgerechte Weise über den Holocaust unterrichten“, so beginnt die Erklärung. „In einer Zeit des zunehmenden Antisemitismus müssen wir besonders wachsam sein, damit sich so etwas wie die Shoah nie wiederholen kann.“

Dem ist im Grunde genommen nichts zuzufügen. Traurig ist, dass es überhaupt vonnöten war und bleibt, eine derartige Erklärung abzugeben. Woher stammt die Aussage?

Sie klingt wie ein Appell aus der Adenauer-Ära. Aus der Zeit, in der wie 1959 Mitglieder der „Deutschen Reichspartei“ (Vorläuferin der NPD) die kurz zuvor wiedereröffnete Synagoge Köln mit Hakenkreuzen und der Aufschrift „Deutsche fordern: Juden raus“ beschmiert hatten. Doch die Quelle ebenjener Ermahnung kommt eigentlich aus den Vereinigten Staaten, einem Land, in dem aktuell ein unerbittlicher Kulturkampf tobt. Ein Kulturkampf, der primitiv begründet und dennoch sehr professionell durchgeführt wird.

Genauer genommen ist die Aussage im Schulbezirk Keller-Independent in Texas, nahe der Doppelmetropole Dallas-Fort Worth, gefallen. Ebendort forderte die Bezirksleitung einen Tag vor Beginn des neuen Schuljahres 2022 Rektor*innen und Bibliothekar*innen dazu auf, mehr als 40 für „problematisch“ gehaltene Bücher aus den Regalen zu nehmen. Doch damit noch lange nicht genug: Bereits ein Jahr zuvor hatte Gina Peddy, die Exekutivdirektorin im benachbarten Schulbezirk Southlake, ebenfalls eine nicht minder gravierende Richtlinie über Bücher herausgegeben, die Lehrkräfte verwenden – und nicht verwenden – sollten.

Eine Mitarbeiterin machte eine heimliche Audioaufnahme des Dialogs, die von NBC News veröffentlicht wurde. In der Aufzeichnung erinnerte Peddy an ein von Republikaner*innen neu verabschiedetes texanisches Gesetz (HB 3979, das von Lehrkräften verlangt, mehrere Perspektiven zu präsentieren. Vor allem bei „weit diskutierten und derzeit kontroversen“. Dabei betonte Peddy: „And make sure that if you have a book on the Holocaust, that you have one that has an opposing, that has other perspectives.“ [Link zum Bericht mitsamt Tonmitschnitt: https://www.nbcnews.com/news/us-news/southlake-texas-holocaust-books-schools-rcna2965.] Zu Deutsch: „Und stellen Sie sicher, dass Sie, wenn Sie ein Buch über den Holocaust haben, eines haben, das eine andere Perspektive hat.“

Die Aufforderung spricht für sich. Wie sollte es eine grundsätzlich andere Meinung über die Shoah geben? Außer es handelt sich um Holocaustleugnung.

Kulturkampf & Kultklassiker, Wut und Weltliteratur

Angeblich wollten die Bezirksleitungen die Schüler*innen vor traumatisierenden Gewaltdarstellungen schützen. Man kann sich wohl über das richtige Alter und den angemessenen Grad der Explizitheit streiten, was schriftliche und illustrative Darstellungen anbelangt. Aber es fällt auf, dass Geschichtsbücher, die zum Beispiel die militaristisch-kolonialistische Expansion der US-Regierung gegenüber mexikanischen und indigenen Völkern verherrlichen, und auch Werke, in denen die Armee der südstaatlichen Konföderierten romantisiert werden, eher nicht ins Visier der Sittenwächter*innen geraten. Auf der Abschussliste der Erzkonservativen stehen dahingegen jene Bücher, die mit eher progressiven, sozialkritischen Ansätzen aufwarten und sich demzufolge mit unbequemen Themen beschäftigen. Betroffen waren diverse Titel wie The Bluest Eye von Toni Morrison, The Fire next Time von James Baldwin und Gender Queer: A Memoir von Maia Kobabe.

In den USA herrschen Antipathien gegenüber Diversity, LGBTQ-Rechten, Political Correctness und Critical Race Theory. Für viele Menschen, die bislang der Mehrheit angehörten, ist alles zu bunt geworden. Zu viel Rücksicht müsse auf Marginalisierte genommen werden, die generationenübergreifend als Minderheiten abgestempelt wurden. Man hat Angst vor Privilegienverlust und davor, dass die alten Tugenden nicht mehr gelten. In diesem Sinne dienen Bücherverbote dazu, den demografischen Wandel möglichst abzubremsen – und vor allem die Aufklärung über Ungerechtigkeiten zum Stillstand zu bringen.

Anne Frank und Emmett Till werden verschwiegen

Zu den in etlichen US-Schulbezirken bereits verbotenen Büchern zählt das weltberühmte Tagesbuch von Anne Frank (1929 – 1945). Das deutsch-jüdische Mädchen versteckte sich zwei Jahre lang mit Familienangehörigen und Freund*innen in einer Wohnung am Merwedeplein und vor allem im hinteren Haus entlang der Prinsengracht 263 in Amsterdam vor den deutschen Besatzern. Schließlich wurden sie jedoch an die Gestapo verraten. Anne wurde im Konzentrationslager Bergen-Belsen von der SS ermordet, nur wenige Wochen vor der Befreiung des Lagers durch britische und kanadische Truppen.

Die Einzelheiten über Anne Frank kenne ich noch aus dem Kopf. In den 1960er Jahrenwar ihr Tagebuch in den USA Pflichtlektüre. In meiner katholischen Schule wurde ich bereits in der sechsten Klasse damit konfrontiert, also im Alter von elf Jahren. Als Black Kids waren wir zunächst etwas irritiert und ein Stück weit indigniert. What’s so important about this white girl? This German-Jewish white girl? Denn parallellaufend starben, damals wie heute, afroamerikanische Kinder durch Polizeibrutalität, durch Armut, sowie ja auch durch die Gewalt der Straßengangs und nicht zuletzt in den Dschungeln und auf den Reisfeldern Vietnams?

Fast widerwillig fingen wir an, das Tagebuch im Klassenzimmer abwechselnd vorzulesen. Aber bald wurden wir ergriffen. Die Klaustrophobie nahm uns die Luft zum Atmen, die Wände des Dachbodens erdrückten uns und quetschten Tränen heraus, wie Wasser aus dem Schwamm. Über zwei Wochen hinweg spürten wir den Terror der NS-Ideologie. Anschließend spielten wir unter den wachsamen Augen der Ordensschwestern und den weinenden Augen vieler Eltern Szenen aus dem Werk vor.

Für Millionen von Kindern über die Generationen hinweg, zumindest außerhalb der Bundesrepublik, war Anne Franks Schilderung des Alltags einer Apokalypse die erste Berührung mit der Shoah. Wir wurden dabei nicht indoktriniert, sondern informiert, aber eben auf eine zutiefst prägende Weise. Meine Neugierde wurde entfacht. Und das ist auch gut so. Ich fing an, Zusammenhänge zu erkennen. So konnte ich besser verstehen, warum einige der Kinder, mit denen ich außerhalb der Schule gerne spielte, mindestens soviel Angst vor den Neonazis hatten wie ich vor dem Ku-Klux-Klan. Diese Kinder feierten Weihnachten nicht, und ihre nicht akzentfrei sprechenden Eltern hatten komische Tätowierungen an den Unterarmen und Handgelenken: Stempel aus Auschwitz.

Mein Vater, ein Air-Force-Kampfveteran des Zweiten Weltkrieges, blätterte durch Anne Franks Tagebuch und brummte nachdenklich: „Tja, wir sind nicht die einzigen, die gehasst werden. Eigentlich müssten wir alle enger zusammenrücken.“

Plötzlich war für mich Anne Frank nicht weit weg. Nein, überhaupt nicht. Ich erblickte sie vielmehr in mir selbst. Es würde noch viele Jahre dauern, bis ich ihr Haus in Holland besuchte. Doch schon vorher stand ich vor dem Gebäude eines anderen vom Schicksal böse heimgesuchten Kindes. Eine meiner beiden Großmütter wohnte weniger Kilometer vom Familienhaus von Emmett Till (1941 – 1955) entfernt. Till war der Schwarze Chicagoer Junge, der während eines Verwandtenbesuches in Mississippi gekidnappt und auf besonders brutale Weise gelyncht wurde.

Der Spielfilm Till (2022) beschreibt den Fall. Über die Jahre hinweg gab es allerdings etliche Dokumentation und Hommagen an Emmett Till, die über die Farbgrenzen eines leider noch rassifizierten Landes hinaus wirkten. Darunter das von Janet Langhart geschriebene, von Morgan Freeman erzählte Drama Anne and Emmett. Ein imaginäres Gespräch entfaltet sich zwischen zwei Jugendlichen, die aus Hass umgebracht wurden: Emmett Till und Anne Frank. Die geplante Uraufführung im Washingtoner Holocaust Memorial Museum im Juni 2009 wurde jedoch wegen einer Schießerei auf dem Museumsgelände abgesagt, bei der ein afroamerikanischer Sicherheitsmann von einem 88-jährigen, weißen Antisemiten getötet wurde. Wie sich die Geschichte wiederholt. Das ereignete sich ein gutes Jahrzehnt vor dem am Dreikönigstag 2021 erfolgten Sturm bewaffneter Trump-Anhänger*innen – mitsamt Hakenkreuzen und Südstaaten-Regalia – auf das US-Kapitol.

Es sei vorsorglich erwähnt, dass Bücher über Emmett Till, wie jene über Anne Frank, den heutigen Verboten in den USA ebenfalls zum Opfer fallen. Manchmal vergisst man, wie wichtig die Erinnerungskultur ist. Dann denkt man irgendwie nicht mehr daran.

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