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Buchtipp Alexander Gauland auf der Couch

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(Quelle: Unsplash)

1965, Hans-Jürgen Wirth war da 14 und entwickelte zeitbedingte Ansätze von „Aufbegehren“, schrieb ein FAZ-Redakteur einen zutiefst empörten Beitrag über die Rolling Stones. Hierin regte er sich, innerlich offenkundig aufgewühlt, über den „Überschuss an Kräften“ und „Betäubung aus Mangel“ auf, den er bei einem Konzert der Band bei den 6000 Jugendlichen und jungen Leuten im Publikum wahrzunehmen glaubte. Der Psychoanalytiker und Verleger Wirth erinnert sich, 57 Jahre später, mit ungläubigem Staunen, immer noch des Hasses „wildfremder Menschen“, der lange-Haare-tragenden Jugendlichen entgegenschlug. Einer dieser Jugendlichen war Wirth selbst, berichtet er in seinem neuen Band Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chance der Verletzlichkeit.

Wirth zitiert den empörten FAZ-Text weiter: „Plötzlich mussten wir uns belehren lassen“, so schrieb der um Anstand und das Vaterland besorgte Journalist, dass „diese heitere Angelegenheit bedrohliche Ausmaße annehmen kann und ernst genommen werden muss.“ Die Stones sowie der Anklang für deren Musik bei der jüngeren Generation verkörperten Mitte der 1960er Jahre offenkundig eine massive Gefahr.

Über 50 Jahre später wiederholen sich vergleichbare heftige Affekte. Diesmal gelten sie Greta Thunberg, die in einer harmlosen, sehr persönlichen  Weise – durch einen freitäglichen Schulstreik – gegen die unbestreitbar existentielle Gefahr einer Klima protestierte.

Die nationalsozialistische Vergangenheit als eine Giftmülldeponie

Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth, Kolumnist beim Spiegel, nimmt diese beiden über ein halbes Jahrhundert auseinander liegenden Szenen zum Anlass, um die „sozialpsychologische Verfasstheit der deutschen Gesellschaft“, die sich in diesem halben Jahrhundert doch grundlegend verändert habe, zu analysieren.

Die nationalsozialistische Vergangenheit, die Wirth als „eine Art von Giftmülldeponie“ betrachtet, die „noch immer antisemitische und rassistische Ideologien, zersetzende Ressentiments, böswillige Verschwörungserzählungen und heftige Affekte wie giftige Dämpfe absondere“, spiele in Deutschland als Hintergrundmatrix weiterhin eine zentrale Rolle. Der rechtsextreme Rand des Rechtspopulismus schöpfe seine Kräfte immer noch hieraus ab, vergifte auch aktuell das „politische und gesellschaftliche Klima“. Alexander Gauland sei ein „Virtuose auf diesem Gebiet“ (S. 15).

Wirth erinnert an die Studien zum Autoritarismus (Adorno & Horkheimer) sowie an die zur „Unfähigkeit, zu vertrauen“ (A. und M. Mitscherlich; Winnicott). Der Autor analysiert detailreich Affekte wie Angst, Hass, Neid, Ekel, Verbitterung und Ressentiment. Der „Brandstifter Alexander Gauland“ verkörpere gleichermaßen Ressentiments, Feindseligkeit wie Biederkeit. Wirth zeichnet Gaulands Auslassungen über den Fußballer Boateng sowie seine „Vogelschissrede“ nach: Der rechte Politprofi Gauland verbreite vorsätzlich Ressentiments und Feindseligkeit. Es seien gezielte, routiniert vorgetragene Leugnungsstrategien, um sich weiterhin als bürgerlichen Konservativen zu verkaufen. Diese seien typisch für populistische Führungsfiguren wie etwa Trump, Putin oder Erdogan.

Die gezielten Inszenierungen des Rechtspopulisten Gauland

Gaulands leutselig vorgetragene Behauptung, dass er gar nicht gewusst habe, dass Boateng dunkelhäutig sei, analysiert Wirth in konkreter und überzeugender Weise. In der Nachfolge solcher Behauptungen stelle Gauland sich sogar noch als Opfer von Journalisten dar, die ihn „reingelegt“ hätten – um auf diese Weise das rechte Ressentiment gegen die „Lügenpresse“ zu bedienen. Der AfD-Ehrenvorsitzende sei klug genug, um nach vorsätzlich inszenierten Grenzverletzungen und verbalen Angriffen scheinbar zurückzurudern.

Die „Show, die Gauland abzieht“ wirke auf seine Anhänger authentisch. Der langjährige CDU-Funktionär, bemüht sich also weiterhin, taktisch geschickt, sich als einen „Konservativen Intellektuellen“ zu verkaufen.

Mit seiner geschichtsrevisionistischen „Vogelschissrede“ über diese „verdammten zwölf Jahre“, verurteile er vorgeblich den Nationalsozialismus, verleugne hierbei jedoch zugleich die Monstrosität des vorsätzlichen millionenfachen Mordens durch Deutsche und verhöhne zugleich vorsätzlich die Millionen Opfer des deutschen Antisemitismus.

In einem an den von den Mitscherlichs in den 1960er Jahren entwickeltem Theorem von der der „Unfähigkeit zu trauern“ anschließenden Themenschwerpunkt analysiert Wirth  die „Willkommenskultur“ ab dem Jahr 2015. Diese beinhaltete psychologisch zuerst einmal die Bereitschaft, fürchterliches menschliches Leid nicht zynisch auszublenden, sondern sich im Rahmen des Möglichen hiervon berühren zu lassen. Diese seelische Anteilnahme wurde mit konkretem sozialem und politischem Handeln verbunden und sei eine zentrale politische Größe.

Die Gegenbewegung gegen die Einfühlungsbereitschaft waren rassistische Proteste und in deren Folge das Entstehen der AfD. Erstmals, wenn man von früheren vereinzelten Wahlerfolgen von Parteien wie der NPD absieht, gelang es Rechtsradikalen in der Bundesrepublik, über die AfD bundesweit in Parlamente einzuziehen. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind deren Erfolge, zumindest in Westdeutschland, bisher noch relativ bescheiden. Ob dies so bleibt erscheint ungewiss. Große Teile Ostdeutschlands, so scheint es dem Rezensenten, sind für eine demokratische Kultur offenkundig verloren.

AfD und Grüne – ein psychoanalytischer Vergleich

Lesenswert und für politisch Interessierte vielleicht ungewohnt ist Wirths vergleichende Studie über „AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder“, in welcher er zugleich seine früheren psychoanalytischen Studien über Helmut Kohl sowie Joschka Fischer  fortführt.

Wirths psychoanalytisches Resümee: „Das Menschenbild der AfD-Anhängerschaft ist rückwärtsgewandt und von Ressentiments, rassistischen Stereotypien und Menschenfeindlichkeit geprägt. Diese moralisch verwerflichen Auffassungen sind psychologisch verwurzelt in individuellen als auch in kollektiven narzisstischen Kränkungen. Das Menschenbild der Grünen-Anhängerschaft ist zukunftsorientiert und von humanistischen Werten wie Solidarität, Emanzipation und Selbstverwirklichung geprägt.“ Die Gefahr, dass sich politische Wahlen in den Zeiten tiefgreifender Krisen (Corona, Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, Klimakrise) durch narzisstische Verführungen und populistische Vereinfachungen entscheiden lassen, sei sehr groß.

Zeitenwende und Selenskyj

Abgeschlossen wird das bemerkenswerte Werk durch das Kapitel „Zeitenwende“. Hierin analysiert der Autor den innergrünen Streit über Pazifismus und Wehrhaftigkeit sowie der Frage, „warum den Grünen Waffenlieferungen leichter fallen als der SPD“.

Eine Verleugnung der kollektiven Traumata führe zu ihrer Wiederkehr. Veranlasst durch Putins brutalen, zynischen imperialen Angriffskrieg gegen die Ukraine, in dem der rusische Präsident gezielt auch Vergewaltigungsdrohungen und kollektive Vergewaltigungen einsetzt, ergänzt Wirth einen Essay über „Selenskyi als psychologisches Gegenmodell zu Putin“: „Putin fügt seinem eigenen Volk ein kollektives Trauma zu und bürdet ihm eine kollektive Schuld auf, an dem es noch viele Generationen wird tragen müssen.“ Seine Hoffnung sei, dass sich das ukrainische Volk trotz der ihm gezielt zugefügten familiären und kollektiven Traumatisierungen „in einem sozialpsychologischen Sinn als widerstandsfähiger, resilienter und zukunftsfähiger erweist als das russische, weil es für das eigene Überleben in Selbstbestimmung und nicht für die Vernichtung fremden Lebens kämpft, weil es die Moral auf seiner Seite weiß und weil es von der Hoffnung auf eine positiv besetzte Zukunft getragen wird.“

Hans-Jürgen Wirth: Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chance der Verletzlichkeit. Gießen: Psychosozial-Verlag, 336 Seiten, 39,90 Euro. Hier bestellen

 

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