2012 veröffentlichte der Neonazi-Rapper „MaKss Damage“ den Track „Die Weisen von Zion“. Er behauptet darin, lediglich die „Weisen von Zion“ könnten die grundlegenden Fragen unserer Zeit beantworten. Schließlich seien sie die heimlichen Strippenzieher des Weltgeschehens: „Was keiner hier bestreiten kann | Und keiner zu bezweifeln wagt | Es stehen ein paar ungelöste Fragen im Raum | Fragen die Weisen von Zion | Sie antworten nicht“.
Allerdings beschränkt sich die Rezeption der „Protokolle“ keineswegs auf die extreme Rechte. Sie reicht bis in den Mainstream: „Prinz Pi“ ist ein beliebter Rapper mit über 300.000 Twitter-Follower*innen und 400.000 Facebook-Freund*innen. „Wahre Legenden“, der Titel seines aktuellen Studioalbums, errang Platz 3 der deutschen Album-Charts. 2007 veröffentlichte er den Track „Die Zeichen der Weisen“ und rappte über „sie“: „Seht auf ihre Zeichen | Erkennt ihre Zeichen | Die Zeichen der Weisen | Sie bleiben die Gleichen“.
Das Gift der antisemitischen „Protokolle“ wirkt bis heute, obwohl der jüdisch-galizische Autor Binjamin Segel (1867-1931) bereits Mitte der 1920er Jahre ein Gegengift erschuf. Er verfasste im Auftrag des „Centralvereins jüdischer Staatsbürger jüdischen Glaubens“ eine umfassende Kritik der „Protokolle“. Die Kritik ist im besten Sinne eine „Erledigung“, sie ist ein Meisterwerk der antisemitismuskritischen Recherche. Wir können Segel dankbar sein, dass er in kleinteiliger, mühsamer Recherche- und Textarbeit nachwies, dass die „Protokolle“ ein billiges Plagiat sind: Die Erzählung des Pamphlets besagt, die „Protokolle“ seien geleakte Sitzungsprotokolle einer jüdischen Elite, die im Geheimen am Rande des ersten Zionistenkongresses in Basel (1897) tagte und überlegte, wie sie Weltherrschaft erlangen könne. Segel hingegen belegte, indem er zahlreiche Textstellen des Pamphlets mit Textstellen eines fiktiven, vom Franzosen Maurice Joly verfassten Dialogs zwischen Machiavelli und Montesquieu verglich, dass große Bestandteile des Pamphlets abgeschrieben und leicht abgewandelt wurden. Das Plagiat ist dreist: Es reicht bis zur Übernahme lateinischer Redewendungen (vgl. S. 225). Segel begegnete den Lügen des Pamphlets mit einer Mischung aus Präzision und Sarkasmus. Er verglich die Vorurteile mit der Realität. So stellte er beispielsweise fest, dass diejenigen, die sich in Basel trafen, arm und keineswegs reich und mächtig gewesen sind. Sein Urteil lautete: „Der Verfasser der Protokolle hatte keine Ahnung von der Lage und den Bedürfnissen der Juden, keine Ahnung von den Strömungen und Bewegungen […].“ (S. 207)
Die Historikerin und Herausgeberin der 2017 neu veröffentlichten „Erledigung“, Franziska Krah, betont im Vorwort, dass die „Protokolle“, als sie erstmals 1920 in Deutschland erschienen, nur ein antisemitisches Pamphlet unter vielen war. Man hätte die zügige Verbreitung durch schnelle Aufklärungsmaßnahmen verhindern können. Segel schrieb diesbezüglich: „Wenn man es verabsäumt, eine winzige, auf der Erde glimmende Kohle zu zertreten, so wird manchmal ein Großfeuer daraus, zu dessen Löschung dann Bassins voll Wasser verspritzt werden müssen.“ (S. 9) Immerhin dienten die umfangreichen Recherchen Segels mehreren Gerichtsprozessen gegen die Verbreitung von Schmähliteratur (siehe „Berner Prozess“, 1933-1935) als Beweis der Fälschung. Jedoch kam sein Werk für den Stopp des Erfolgs zu spät: Adolf Hitler und Alfred Rosenberg, die beiden ideologischen Köpfe des Nationalsozialismus, schwärmten von den „Protokollen“. Das NS-Regime erklärte das Pamphlet zur Pflichtlektüre der „Hitlerjugend“. So verbreitete sich das antisemitische Gift unter der Jugend des Deutschen Reiches. Im „Handbuch der Judenfrage“ forderte Theodor Fritsch, indem er einen zynischen Kommentar Segels aufgriff: „Wenn die Protokolle wahr sind, dann gibt es nur eine angemessene Strafe für das Judentum: massenhafte Ausrottung!“ Segel, der zwei Jahre vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler starb, erkannte die Bedeutung der „Protokolle“ frühzeitig und bezeichnete das Pamphlet als „größte und ungeheuerlichste Anklageschrift, die jemals gegen die Judenheit geschrieben wurde“ (S. 61).
Überzeugungstäter wie der US-amerikanische Autobauer Henry Ford („The International Jew“), die die weltweite Verbreitung der „Protokolle“ verantworteten, sahen in ihnen den ultimativen Beweis einer jüdischen Weltherrschaft. Ein Argument lautete, es genüge ein Blick auf die gegenwärtigen Entwicklungen, um festzustellen, dass sich die „Protokolle“ längst erfüllten. So beweise die Oktoberrevolution im zaristischen Russland und das Bestreben zionistischer Kräfte, einen jüdischen Staat in Palästina zu gründen, dass die „jüdische Weltverschwörung“ längst im Gange sei. Das Pseudoargument lebt bis heute fort: Daniel „Gigi“ Giese vom Rechtsrock-Projekt „In Tyrannos“ singt im 2007 veröffentlichten Lied „Protokolle“: „Echt oder nicht spielt wirklich keine Rolle | Es erfüllen sich die Protokolle | Wahr oder altbiblischer Wahn? | Wie man sieht, läuft alles schon nach Plan | Aktionsprogramm oder Fiktion? | Doch es geschieht, was macht das schon | Original oder Betrug? | Das, was ich sehe, ist genug“.
In Zeiten, in denen sich antisemitische Verschwörungsmythen zunehmend verbreiten, in denen sich das antisemitische Gift on- und offline, in der Musik und im Netz, auf der Straße und in den Parlamenten verstreut, brauchen wir kluge Köpfe wie Segel und kluge Analysen wie seine „Erledigung“.
Die Erstausgabe des Buches „Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet. Eine Erledigung“ von Binjamin Segel erschien 1924 im Berliner Philo-Verlag. 2017 erschien eine Neufassung des Buches im ça ira-Verlag. Sie hat 520 Seiten und kostet 29€.