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Buchtipp Zerspiegelte Welten

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(Quelle: Unsplash)

Der interessierten Fachöffentlichkeit ist die Soziologin Julia Bernstein wohl vor allem für ihre wissenschaftliche Beratungstätigkeit bekannt. Bernstein führte 2017 die Studie Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland durch, die Eingang in den Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus fand. Die Studie war insofern wegweisend, als dass hier erstmals in einer repräsentativen Untersuchung Jüdinnen und Juden nach ihrer Sicht auf Antisemitismus gefragt wurden. Einem Befund der Studie folgend, dass Antisemitismus verstärkt im Schulbereich auftritt, beforschte Bernstein anschließend Bildungsinstitutionen. Auch hierbei wurde insbesondere Wert auf das Erleben jüdischer Schüler*innen gelegt. Während des Antisemitismusskandals um die documenta15 war Bernstein Mitglied des Expertengremiums und Ko-Autorin dessen Abschlussberichts.

Die bisherigen Publikationen Bernsteins sind also getragen von einem breiten theoretischen, aber vor allem auch empirischen Fundament. Es sind umfangreiche Fachpublikationen für informierte Entscheidungen in der Praxis. Mit ihrem jüngsten Buch Zerspiegelte Welten. Antisemitismus und Sprache aus jüdischer Perspektive weicht Bernstein von ihren früheren Veröffentlichungen ab und bleibt ihnen dennoch verpflichtet.

Das Buch ist ein persönlicher Blick auf Antisemitismus, der durch Jahre empirischer Sozialforschung ebenso geprägt ist, wie durch präzise Alltagsbeobachtungen. Bernstein demonstriert eindrucksvoll auf nur 130 Seiten, dass die analytische Durchdringung des Phänomens Antisemitismus kein Selbstzweck ist, sondern das tägliche Leben erhellen kann. Eine unbekannte Dame, die während einer Vernissage der Autorin gegenüber in Tränen ausbricht, vor Rührung, „dass Sie wieder da sind“. Eine Yoga-Kurs Teilnehmerin, die auf die israelische Herkunft der Autorin „Macht nichts!“ antwortet. Eine Studentin, die es lustig findet, Fotos der Großeltern mit Hakenkreuz überm Weihnachtsbaum gefunden zu haben – die Situationen, die Bernstein schildert, sind so gewöhnlich, wie sie verstörend sind.

Stete Begleiterin, wenn auch oft nicht ausgesprochen, ist die Metapher der zerspiegelten Welten:

„Der Antisemitismus führt nun dazu, dass bei Jüdinnen und Juden die Erfahrungen, die Wahrnehmung, das Denken und die Gefühle auch aus einer Dynamik heraus strukturiert werden, die sie gar nicht beeinflussen können. Das Erleben des Alltags, von sich selbst und anderen Menschen unterliegt Brüchen, zerspiegelte Welten, in denen sie sich nicht mehr wiedererkennen.“

Das Verhältnis zwischen Jüdinnen und Juden und nicht-jüdisch Deutschen beschreibt Bernstein als Zerrspiegel historisch überformter Projektionen. Bernstein interessiert sich dabei insbesondere für die Sprache, in der sich dieses Verhältnis niederschlägt. Vor allem in der mangelnden Sensibilität der nicht-jüdisch Deutschen in ihrem Sprechen zu und über Jüdinnen und Juden scheint sich der unreflektierte eigene Antisemitismus immer wieder Bahn zu brechen. „Es ging gar nicht darum, dass das gesagt wurde, sondern dass ich die einzige war, die mit diesem Kommentar verletzt fühlte“, zitiert Bernstein eine Interviewpartnerin, die beschreibt, wie ein antisemitisches Kommentar auf sie gewirkt habe. Folgt man den zahlreichen Anekdoten und Fallbeschreibungen im Buch, hat es oft den Anschein, als reden die nicht-jüdisch Deutschen zuerst mit sich selbst, wenn sie mit Jüdinnen oder Juden sprechen.

Nach Bernstein wird dieses Selbstgespräch in Bezug auf die Shoah besonders erratisch. „Sehr verwundert bin ich darüber, dass die Auseinandersetzung mit der Shoah bei einigen Menschen in Deutschland einerseits als erledigt gilt, andererseits dann doch wieder in die Unsicherheit kippt“, schreibt Bernstein. Die „Übersättigung“, sich mit dem Thema zu befassen, wechsele sich mit emotionaler Ergriffenheit ab: „Der Bezug zum Nationalsozialismus und zur Shoah changiert zwischen verschiedenen emotionalen Schattierungen und emotionalen und kognitiven Modi. Er gleicht einem Pendel, bei dem man nie ganz sicher sein kann, wohin es als Nächstes ausschlägt.“

Trotz der stets transparenten persönlichen Perspektive verliert sich das Buch nicht in Anekdoten oder schmückt sie unnötig aus. Im Gegenteil: Der Text ist äußerst kompakt. Das Wissen und die Erlebnisse der Autorin werden auf wenige Seiten verdichtet, die eine aufmerksame aber lohnende Lektüre erfordern. Auch die rund 30 Seiten, auf denen die Autorin eingangs Geschichte und Gegenwart von Antisemitismus rekapituliert, sind so konzis wie treffend geschrieben. Bernstein zeigt, dass sich fachliche Kenntnis und individuelle Erfahrungen nicht ausschließen müssen, sondern gerade zusammengenommen zur Aufklärung und Veranschaulichung der Funktionsweisen antisemitischer Ideologie beitragen können.


Julia Bernstein, Zerspiegelte Welten. Antisemitismus und Sprache aus jüdischer Perspektive. ISBN: 978-3-7799-6666-1, Beltz Verlag, 135 Seiten, 20 Euro. Hier bestellen.

 

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