
Morgens im Bundestag den Opfern der Nationalsozialist*innen gedenken, „nie wieder“ und „wehret den Anfängen“ deklamieren und abends zum ersten Mal seit 80 Jahren eine Mehrheit mit einer rechtsextremen, völkischen und rassistischen Partei schaffen – für einen Antrag der massive Grundrechtseinschränkungen vorsieht.
Am Mittwoch, dem 29. Januar 2025, fand im Deutschen Bundestag eine historische Abstimmung statt. Mit einer knappen Mehrheit – 348 Stimmen bei 344 Gegenstimmen und zehn Enthaltungen, nur eine Gegenstimme aus der CDU-Fraktion – wurde ein womöglich teils verfassungswidriger Antrag der Unionsparteien zur Verschärfung der Migrationspolitik angenommen. Erstmals wurde ein Antrag, der Fünf-Punkte-Plan zur Verschärfung der Migrationspolitik, der CDU/CSU-Fraktion mit Unterstützung der AfD verabschiedet. Die Brandmauer ist durchbrochen: Das bisherige Tabu der demokratischen Parteien, keine gemeinsame Sache mit der AfD zu machen, scheint nicht mehr zu halten.
Friedrich Merz, Vorsitzender und Kanzlerkandidat der CDU/CSU-Fraktion, hat in der Vergangenheit mehrfach betont, dass es keine Zusammenarbeit mit der AfD geben werde. Im Dezember 2021 erklärte er, dass bei jeglicher Kooperation mit der AfD ein Parteiausschlussverfahren gegen CDU-Mitglieder eingeleitet würde. Im Juli 2023 präzisierte er, dass dieses Verbot für die EU-, Bundes- und Landesebene gelte. Auf kommunaler Ebene befürworte die Union einen pragmatischeren Ansatz.
In einem Interview vom 10. Januar 2025 in der ARD-Tagesschau betont Merz, dass die CDU ihre „Seele verkaufen“ würde, sollte sie mit der AfD zusammenarbeiten. Er fügte hinzu: „Ich knüpfe mein Schicksal als Parteivorsitzender der CDU an diese Antwort.“ Dennoch stimmte die CDU/CSU-Fraktion am Mittwoch für einen Antrag, der mit Unterstützung der AfD eine Mehrheit fand. Merz betonte jedoch, dass es keine Abstimmung oder Zusammenarbeit mit der AfD gegeben habe.
Lässt sich die Brandmauer auf kommunaler Ebene aufrecht halten?
Besonders in den ostdeutschen Kommunen, wo die AfD teils schon stärkste Kraft ist, lässt sich nicht mehr sinnvoll vermitteln, dass eine Zusammenarbeit zwischen CDU und AfD nicht stattfinden soll, wenn Friedrich Merz auf Bundesebene bereit ist, diese Zusammenarbeit einzugehen, um Mehrheiten zu finden. Selbst auf Landesebene funktioniert das noch: In Thüringen etwa ist die AfD die stärkste Kraft. Prinzipiell wird hier, wie auch in Sachsen, die Brandmauer unter widrigen Umständen verteidigt, obwohl die Union bereits bei einigen Sach-Themen mit der AfD gestimmt hat, etwa beim Thema Windkraft oder Steuersenkungen.
Migration ist jetzt wieder Wahlkampfthema – das nützt nur einer Partei: der AfD
Der Antrag vom Mittwoch hat auch deshalb solch eine Signalwirkung, weil er sich mit dem Kernthema der AfD befasst: Migration als größtes innerdeutsches Problem. Hinzu kommt, dass die Forderungen im Union-Papier, so auch Forderungen der AfD sein können: So sieht der Antrag etwa unter anderem die umfassende Zurückweisung von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen vor. Deutsche mit doppelter Staatsbürgerschaft können ihren deutschen Pass verlieren, wenn sie schwere Straftaten begehen oder nicht im Einklang mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung handeln.
Dieser Vorstoß bringt nur eine Gewinnerin hervor: Die AfD. Die demokratischen Parteien haben sich im bisherigen Wahlkampf auf andere dringen Themen konzentriert, etwa auf Wirtschaftspolitik, soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Nach den Morden von Magdeburg und vor allem von Aschaffenburg scheint das Thema Migration nun zentrales Wahlkampfthema zu sein. Profitieren wird davon vermutlich nur die AfD. Sie überzeugt die Wähler*innen durch Emotionen, durch Angst. Sie zeichnet das Bild eines unsicheren, kurz vor dem Zusammenbruch stehenden deutschen Staates, der nur von ihr gerettet werden kann.
Wenn jetzt Friedrich Merz‘ Kalkül ist, Wähler*innen von der AfD zurückzugewinnen, ist das ein riskantes, wenn nicht aussichtsloses Unterfangen. Schließlich wählen Menschen lieber das Original und nicht die Kopie. AfD-Wähler*innen zeichnen sich darüber hinaus durch eine besonders niedrige Bereitschaft zur Wechselwahl aus, was vermutlich auch an der Parallel-Realität liegt, die das extrem rechte Mediengeflecht geschaffen hat. Zudem macht das Paktieren die AfD salonfähig. Es öffnet den Weg in die vermeintlich bürgerliche „Mitte“. Rassistische und verfassungsfeindliche Positionen erscheinen legitim und demokratisch.
Das Ziel der AfD: Die CDU soll am Umgang mit der AfD zerbrechen
Der Plan der AfD, so wie ihn Höcke noch Anfang des Jahres in einem Interview formulierte, ist zunächst in einer Koalition auf Landesebene zu regieren, möglicherweise schon nach der kommenden Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Künftig erwarte er Ergebnisse, die zu einer absoluten Mehrheit genügen würden. „Dann führt kein Weg mehr an der AfD vorbei und das werden wir erleben“. Nach aktuellen Umfragen zur Bundestagswahl käme die AfD derzeit auf etwas über 20 Prozent und wäre zweitstärkste Kraft. Die Union liegt bei rund 30 Prozent der Wählerstimmen.
Die Rechtsextremen erleben momentan einen Höhenflug, wohl auch, weil sie die anderen Parteien, besonders die Union vor sich hertreiben. Der Sieg am Mittwoch war den rechtsextremen Parlamentarier*innen anzusehen. Sie feixten. Endlich sind sie dort, wo sie immer sein wollten: Die Union hat den Rechtsextremen den Eintritt ins demokratische System gewährt.
„Das ist wahrlich ein historischer Moment“, sagt Bernd Baumann, parlamentarischer Geschäftsführer der AfD am Mittwoch im Parlament. Er zieht die Verbindung zu Donald Trump, Geert Wilders, Giorgia Meloni und Herbert Kickl. „Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche“, sagt Baumann, „jetzt beginnt was Neues, und das führen wir an“. Bei der SPD, den Grünen und den Linken herrscht hingegen Entsetzen. Selbst eine mögliche Koalition aus Union und SPD könnte nun auf dem Spiel stehen? Was käme dann? Doch eine Schwarz-blaue?
Lackmustest am Freitag
Am Freitag, dem 31. Januar, steht dann schon die nächste richtungsweisende Entscheidung an. Dann soll der Deutsche Bundestag über das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz der CDU/CSU-Fraktion abstimmen. Dieser Gesetzentwurf zielt darauf ab, den illegalen Zustrom von Drittstaatsangehörigen nach Deutschland zu begrenzen und den Familiennachzug für Personen mit subsidiärem Schutzstatus bis auf Weiteres auszusetzen. Im Gegensatz zum Antrag von Mittwoch hat dieses Gesetz, sofern es verabschiedet wird, rechtlich bindende Auswirkungen. Der Antrag vom Mittwoch ist ein politisches Statement zur Verschärfung der Migrationspolitik, während das Gesetz, über das am Freitag abgestimmt wird, konkrete rechtliche Maßnahmen zur Begrenzung der Zuwanderung vorsieht.
Was am Mittwoch passiert ist, war eine gefährliche Grenzverschiebung. Die extrem rechte Szene bejubelt bereits „das Ende der Brandmauer“. Der Vorgang normalisiert, was nicht normal sein darf. Er verschiebt Grenzen, die nicht verrücken sollten. Und am Ende gibt es nur einen Gewinner: die Feinde der Demokratie. Die AfD und ihre Freunde feixen schon darüber, dass am Freitag „eine neue konservative Ära im Parlament“ eingeläutet werden könne.