Musik verbindet. Schmerz auch. Das wird auf der Ceremony of Resilience im alten Umspannwerk am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer besonders deutlich. Gekommen sind an diesem lauen Mittwochabend, am 27. September, rund 250 Gäste. Es ist der Auftakt für das gleichnamige Festival, das dieses Jahr zum vierten Mal stattfindet – mit Veranstaltungen in Berlin, Stuttgart und Halle. Ein Abend mit berührenden Reden, begleitet von einer schwermütigen Partitur.
Initiiert von Überlebenden und Hinterbliebenen des rechtsterroristischen Anschlags in Halle ist die Ceremony vor allem ein Zeichen der Stärke und Solidarität. Am Jom Kippur 2019 versuchte ein schwerbewaffneter Neonazi in die dortige Synagoge einzudringen, mit dem Ziel, die betenden Jüdinnen*Juden zu töten. Auf der Straße erschoss er die Passantin Jana Lange, bevor er in einem Dönerimbiss Kevin Schwarze ermordete. Schon zum Prozessauftakt gegen den Täter zeigten sich die Überlebenden resilient, viele traten als Nebenkläger*innen auf, verbündeten sich, schmieden Allianzen.
Auch vier Jahre später im Kreuzberger Eventsaal ist diese Verbundenheit zu spüren. Die Choreografin Sandra Chatterjee und Ensemble eröffnen den Abend musikalisch mit indisch-inspirierten Klängen und einer experimentellen Choreografie. Danach betreten Rabbinerin Rebecca Blady und Therapeutin Naomi Henkel-Gümbel die Bühne, um die Zeremonie einzuleiten. Beide befanden sich am 9. Oktober 2019 in der Synagoge von Halle. „Was bringt uns Jahr für Jahr zurück?“, fragen die beiden zu Beginn abwechselnd auf Deutsch und Englisch, mit Hebräisch dazwischen.
Eine rhetorische Frage, die der Abend selbst gekonnt beantwortet. Sie gedenken allen Überlebenden von rechtsextremen Anschlägen, erwähnen etwa Hanau, Mölln, NSU und den Mord an Burak Bektaş. Aber vor allem Jana Lange und Kevin Schwarze stehen heute Abend im Mittelpunkt, die zwei Todesopfer des Halle-Anschlags: Auf der Leinwand hinter der Bühne werden ihre Fotos projiziert. Kevin Schwarzes Vater sitzt heute im Publikum, später wird eine Tonaufnahme von ihm abgespielt: „Es wird nie in Vergessenheit geraten, was passiert ist“, sagt er wehmütig vom Band, „ich wünsche das niemandem“.
Die erste Rede der Ceremony hält Jessica Haim, für heute Abend extra aus New York eingeflogen. Die studierte Astrophysikerin bittet zu Beginn das Publikum, sich die Erde aus der Perspektive des Monds vorzustellen: ein kleines, hilfreiches Stäubchen, das durch das Universum schwebt. Aber auch ein Ort, wo Hassverbrechen rasant ansteigen und die Justiz versagt. „Wie sinnlos dieser ganze Hass ist und wie schön alles sein könnte“, sagt Haim immer noch hoffnungsvoll auf Englisch, übersetzt ins Deutsche von Rachel Spicker. Nach Deutschland war Haim gezogen, um zu promovieren, um Exoplaneten zu finden, vielleicht sogar einen, der bewohnbar wäre – fernab Hass und Hetze.
Und dann der Anschlag: „Jetzt ist mein Leben in zwei Teilen geteilt“, sagt Haim, die auch am Jom Kippur 2019 in der Synagoge von Halle war: „Es gibt vor Halle und nach Halle.“ Die Woche nach der Terrorattacke verbrachte sie in ihrem Zimmer eingesperrt. Aber als sie sich wieder aus ihrer Wohnung traute, begegnete sie in ihrer Forschungsgruppe an der Universität statt Mitgefühl nur Gleichgültigkeit über das, was ihr geschehen war. Nachdem sie in den sozialen Medien über ihre Erfahrung geschrieben hatte, bekam sie Morddrohungen. Sie nahm stark ab, ihre Haare wurden grauer, sie verlor Freund*innen und schmiss 2022 die Promotion hin.
Haim wohnt inzwischen wieder in Manhattan, dort unterrichtet sie Naturwissenschaften in einer Schule. Sie zeigt exemplarisch, was Resilienz bedeuten kann. „Solidarität ist die Abwesenheit von Gleichgültigkeit“, sagt sie entschlossen auf der Bühne. „Enough is enough.“ Ob beim Thema Antisemitismus, Rassismus, Homofeindlichkeit oder Antifeminismus: „Wir müssen Leute zur Rede stellen“, betont sie. Und zum Schluss ein Akt der Resilienz, der auf Applaus im Saal trifft: Sie wolle sich nicht mehr verstecken, und setzt eine Magen-David-Halskette auf.
Die zweite Rede hält İsmet Tekin: 2019 arbeitete er im Imbiss Kiez-Döner. Als im Laden Schüsse fielen, rief ihn sein Bruder Rıfat an. İsmet eilte zurück und geriet in den Schusswechsel zwischen Polizei und Attentäter. Der Neonazi habe auf ihn gezielt, erzählte Tekin 2020 zum Prozessauftakt im Gespräch mit Belltower.News. Als Opfer versuchten Mordes wollte das Oberlandesgericht Naumburg ihn allerdings nicht anerkennen, auch seine Revision gegen das Urteil wurde verworfen.
Tekins Rede heute Abend ist kurz, aber selbstbewusst – vor allem kommt sie von Herzen. „Aufgeben heißt verloren“, beginnt er ohne Notizen, die Sonnenbrille auf den Kopf gesetzt. „Und ich will nicht verlieren.“ Eigentlich habe er schon gewonnen: „Aber viele merken das nicht“, scherzt er. Das Publikum lacht und klatscht. Nach dem Anschlag übernahm Tekin den Kiez-Döner und verwandelte ihn in das türkische Frühstückscafé Tekiez. Heute wirkt er lebensfroh und leidenschaftlich. Er sagt: „Wir leben in einer beschissenen Welt.“ Aber auch: „Wir werden gewinnen“ – auch wenn das ein paar Jahre dauere.
Die Zeremonie wird anschließend von einem Soundpiece und einer Musikperformance abgerundet. In ihrem Werk „Visions for the Future“ kombiniert Halle-Überlebende Talya Feldman die Stimmen von anderen Überlebenden und Hinterbliebenen rechtsextremer Anschläge der vergangenen Jahrzehnte, von Yasmani Torriente Guerra, Neffe des 1979 von deutschen Rassisten ermordeten Kubaners Delfin Guerra, über Semiya Şimşek und Gamze Kubaşık, Töchter der NSU-Opfer Enver Şimşek und Mehmet Kubaşik, bis hin zu Emiş Gürbüz, Vaska Zlateva und Najiba Hashemi, deren Familienmitglieder 2020 in Hanau ermordet wurden.
Und zum Schluss spielt das musikalische Trio Tayfun Guttstadt, Sveta Kundish und Craig Judelman – ein Ensemble aus Geige, Flöte, Beats und Gesang, das eine reiche Palette von Emotionen bedient, das Trauer und Sehnsucht verbindet und daraus Hoffnung schafft. „Musik bringt die Menschen zusammen“, stellt Halle-Überlebender Ezra Waxman auf der Bühne das Stück vor. Damit hat er recht. Aber die ganze Zeremonie zeugt davon, dass aus furchtbaren Ereignissen auch nachhaltige Allianzen blühen können. Und dass wir diese dringend brauchen, um rechtsextremem Hass entgegenzutreten.