Der rassistische Terroranschlag von Christchurch/Neuseeland vom 15. März 2019, dem 50 Menschen zum Opfer fielen, stellt unzweifelhaft eine Zäsur dar. So eng wie nie zuvor ist ein politisch motivierter Massenmord mit einer ganz spezifischen, von rechtsgerichteten Akteuren gekaperten Form der Internetkultur verflochten, in der der 28-jährige Attentäter sich bewegte und offenbar radikalisierte. Es ist eine für Außenstehende nur schwer durchschaubare virtuelle Hasskultur mit eigenen Codes und Praktiken (Memes, Shitpostings etc.), die in offenen Diskussionsforen wie „4chan“ und „8chan“ praktiziert wird. Diese digitalen Biotope haben ihren Ursprung in der US-amerikanischen Online-Videospielszene und werden stark von der „Alt-Right“, einer internetaffinen Sammlungsbewegung rechtsextremer Kräfte in den USA, geprägt. In ihnen gedeihen ungehemmt Rassismus und andere Formen von Menschenfeindlichkeit, die u. a. durch zynischen und entmenschlichenden Humor gezielt normalisiert werden sollen (BTN und SPON berichteten). In Christchurch hat diese Strategie nun offenbar ihre bisher verheerendste Wirkung entfaltet.
Das Manifest des Attentäters ist durchsetzt von den Codes dieser Troll-Kultur. Da es auch dazu dient, die Terrortat über die mediale Berichterstattung im Sinne des Verfassers zu inszenieren, und die Medien gezielt in die Irre zu führen und Verwirrung zu stiften, ist es nur mit Vorsicht wiederzugeben. Dass es diesen Zweck erfüllt, sieht man an Versuchen, auf der Grundlage einzelner Äußerungen im Manifest den Rechtsterroristen in einen linksextremen Klimaschützer umzudeuten (BTN und Volksverpetzer berichteten).
Bei näherem Hinsehen ist jedoch bei aller Trollerei ein ideologisches Grundgerüst auszumachen, das Beobachter*innen der sogenannten „neuen“ Rechten in Europa erschreckend bekannt vorkommt. Besonders große Schnittmengen bestehen dabei zur „Identitären Bewegung.“ Sie umfassen bis hin zur Terminologie – ins Auge sticht hier besonders der Gebrauch des Attributs „europäisch“ für eine weiße Hautfarbe – die wesentlichen Aspekte des „identitären“ Weltbildes. Mit seinem zentralen toxischen Narrativ eines geplanten Bevölkerungsaustausches hat es dem Manifest sogar seinen Namen gegeben (The Great Replacement).
Kampf um die „weiße Identität“
Der Attentäter von Christchurch handelte aus rassistischen Motiven. Er bezeichnet sich in seinem Manifest als „Rassist“ und „Faschist“ und wähnt sich in einem Kampf um den Erhalt der „weißen Identität.“ Die Gegner seien dabei die in westlichen Ländern lebenden „Nicht-Weißen“, die er regelmäßig als „Invasoren“ bezeichnet. Insbesondere in Muslim*innen sieht er eine Gefahr: Aufgrund ihrer angeblich hohen Geburtenraten und eines starken „Eroberungswillens“ würden gerade sie eine existenzielle Bedrohung für die „europäischen Völker“ darstellen. Er spricht von ihnen deshalb als von den „meistgehassten Invasoren“ und betont die „1300 Jahre Krieg und Verwüstung“, die der Islam über die Welt gebracht habe und für die er sich mit seinem Terroranschlag auf zwei Moscheen auch habe rächen wollen.
Auffallend ist, dass der Attentäter sich trotz seiner australischen Nationalität als „Europäer“ definiert: „[…] meine Identität ist europäisch und – was am wichtigsten ist – mein Blut ist europäisch.“ Ganz offensichtlich verwendet er den Begriff „europäisch“ als Synonym für „von weißer Hautfarbe“ und definiert das „Europäisch-Sein“ rein biologisch über die Abstammung, und sei es über Jahrhunderte hinweg. Analog dazu werden die nicht-weißen „Invasoren“ auch als „Nicht-Europäer“ bezeichnet.
Interessanterweise nennt der Verfasser sich auch einen „Ethno-Nationalisten“, der an eine „ethnische Autonomie für alle Völker“ glaube. Hier scheint das Konzept des „Ethnopluralismus“ durch, wonach die „ethnokulturelle“ Homogenität von entscheidender Bedeutung für das Überleben eines „Volkes“ und – auf globaler Ebene – für den Erhalt der „Vielfalt der Völker“ sei. Die Bewahrung dieses Nebeneinanders homogener Kulturen und Ethnien, das er durch Migration und „Vermischung“ bedroht sieht, ist für den Christchurch-Massenmörder eine „Frage des Überlebens.“ Konsequenterweise sieht er in seinem Anschlag auf Muslim*innen auch „keinen Angriff auf die Diversität, sondern einen Angriff im Namen der Diversität“ – schließlich bedrohen sie die homogene „ethnokulturelle Identität“ der „europäischen Völker.“
Deutliche Parallelen zur „Identitären Bewegung“
Es sind frappierende Ähnlichkeiten mit dem Weltbild der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ (IB), die hier offen zutage treten. Der „Ethnopluralismus“ ist für die gesamte „neue“ Rechte von konstitutiver ideologischer Bedeutung. Er macht zu weiten Teilen das angeblich Neue dieser Strömung aus und soll den klassischen Rassismus weniger angreifbar machen, indem etwa der Begriff „Rasse“ durch „Identität“ ersetzt wird. Da er aber dieselben rassistischen Ausgrenzungsmechanismen transportiert, wird er auch als „Rassismus ohne Rassen“ (vgl. bpb) oder „Neorassismus“ bezeichnet (vgl. IDZ).
Für die „Identitären“ ist der „Ethnopluralismus“ von überragender Bedeutung. Der Kampf als „neurechte“ Avantgarde – so ihr Selbstverständnis – um die vermeintlich durch „Masseneinwanderung“ und „Islamisierung“ bedrohte „ethnokulturelle Identität“ Europas ist im Grunde die Existenzberechtigung der IB. Der deutsche Führungskader Mario Alexander Müller übertreibt daher nicht, wenn er den „Ethnopluralismus“ in seinem Buch Kontrakultur als „Zentralgestirn des identitären Denkens“ bezeichnet.
Zu weiten Teilen wie ein Produkt „identitärer“ Ideologie erscheint das Manifest auch durch die dominierende Verwendung des Wortes „europäisch“ bzw. „Europäer“, um Menschen weißer Hautfarbe zu bezeichnen. (Das klassische „white race“ kommt nur ein einziges Mal vor.) Damit imitiert sein Verfasser die gerade für die „Identitäre Bewegung“ typische Praxis, belastete Begriffe wie „Rasse“ oder „Blut“ durch unverfänglichere wie „Identität“ bzw. „europäische Identität“ zu ersetzen (was er aber nicht durchgehend tut). Mittlerweile dürfte aber zu den meisten durchgedrungen sein, dass die Vertreter der IB, wenn sie von „Europäern“, „europäischen Kindern“ oder der „europäischen Völkerfamilie“ sprechen, Menschen von weißer Hautfarbe meinen – ganz so wie der rechtsextreme Attentäter von Christchurch.
Das wird etwa deutlich, wenn ein führender IB-Kader aus Österreich auf YouTube seine nordamerikanische weiße Freundin anführt, um zu belegen, dass er kein Rassist sei. Genauso wie der weiße australische Attentäter seine „europäische Identität“ über sein „europäisches Blut“ definiert, wird aus der amerikanischen Freundin kraft ihrer europäischen Abstammung und weißen Hautfarbe eine mit der eigenen europäisch-österreichischen „ethnokulturellen Identität“ vereinbare Partnerin. Es geht in beiden Fällen in allererster Linie um die Hautfarbe, d. h. den Phänotyp, über den das „Europäisch-Sein“ definiert wird.
Ultimatives Bedrohungsszenario: Der „Völkermord an den Weißen“
Am deutlichsten manifestieren sich die ideologischen Schnittmengen mit der „Identitären Bewegung“ in der dem ganzen Manifest zugrunde liegenden rassistischen Wahnvorstellungen, die „europäischen [= weißen] Völker“ stünden kurz vor ihrer Vernichtung, bedingt durch die Einwanderung und Vermehrung „nicht-europäischer“, also nicht-weißer Menschen. Es sei ein „Austausch“ der weißen Bevölkerung im Gange, angetrieben von „globalistischen, anti-weißen“ Eliten. Diese würden v. a. muslimische Migrant*innen „importieren“, um „billige Arbeitskräfte“ und „neue Konsumenten“ für eine grenzenlos wachsende Wirtschaft zu erhalten. Die Folge dieser Entwicklung sei ein „Völkermord an den Weißen“, der durch die Waffe der Demografie betrieben werde.
Konkret bedeuten diese Gedankengänge, dass die Geburt nicht-weißer Kinder zu einem Instrument des Völkermordes wird – eine obszöne rassistische Entmenschlichung, die neugeborene Babys allein aufgrund ihres Blutes zu gefährlichen, geradezu tödlichen Fremdkörpern macht. Genau diese imaginierte apokalyptische Gefahr eines „Völkermordes“ durch Demografie dient dem Massenmörder als Rechtfertigung, sogar die Kinder der „Invasoren“ zu töten (unter seinen Opfern finden sich auch mehrere Kleinkinder). Diese würden nämlich, einmal erwachsen, selbst neue „Invasoren“ in die Welt setzen und so an diesem Bevölkerungsaustausch mitwirken. Diese kaltblütige Skrupellosigkeit macht deutlich, dass der Kampf um die „weiße Identität“ für den Rechtsterroristen von Christchurch ein unbedingter Kampf auf Leben und Tod ist.
Hinter dieser verhängnisvollen rassistischen Phantasmagorie, die den Attentäter schließlich zu seiner Tat trieb, steht die in „neurechten“ Kreisen weitverbreitete Verschwörungstheorie des „Großen Austausches“, der das Manifest auch seinen Namen verdankt (The Great Replacement). Sie kommt aus Frankreich, dem Stammland der „neuen“ Rechten, und entstand erst in diesem Jahrzehnt. Die Gruppierung, die sich diese rechtsextreme Verschwörungstheorie regelrecht auf die Fahne geschrieben und durch gezielte mediale Inszenierungen überhaupt erst bekannt gemacht hat, ist: die „Identitäre Bewegung.“
- Im zweiten Teil der Analyse geht es um die Verschwörungstheorie vom „Großen Austausch“ und deren zentrale Bedeutung für die „Identitäre Bewegung“:
https://www.belltower.news/christchurch-die-saat-der-identitaeren-bewegung-geht-auf-teil-2-82995/