50 Menschen muslimischen Glaubens im Alter von 3 bis 71 Jahren wurden am 15. März 2019 im neuseeländischen Christchurch brutal aus dem Leben gerissen, weil sie die falsche „Identität“, die falsche Hautfarbe (und Religion) hatten. Sie wurden von einem zu allem bereiten Rassisten mit Sturmgewehren erschossen, weil er sie als Gegner in einem Krieg um die „weiße Identität“ betrachtete; als „Invasoren“, die in Massen in „europäische Nationen“ einfallen und die „europäischen Völker“ vernichten würden. In der Einwanderung und demografischen Vermehrung von Menschen nicht-weißer Hautfarbe sah er eine existenzielle Bedrohung der „ethnischen Autonomie“ der „Europäer“; in der Zurückdrängung dieser „Invasion“ eine „Frage des Überlebens.“
Zwei Wochen nach dem rassistisch motivierten Terroranschlag von Christchurch setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Attentäter von einer spezifisch europäischen Ausprägung völkisch-rassistischer Ideologie geprägt wurde. Das geht aus dem mittlerweile analysierten Manifest hervor, das er kurz vor der Tat in den sozialen Medien veröffentlichte. Die dezidiert paneuropäisch ausgerichtete Gruppierung, die die aus dem Manifest sprechende Ideologie in den letzten Jahren besonders lautstark und hauptsächlich über das Internet propagiert, ist im deutschsprachigen Raum als „Identitäre Bewegung“ bekannt.
Im ersten Teil dieser Analyse wurden bereits zentrale Aspekte des Manifests in den Blick genommen, die eine große Nähe des Massenmörders von Christchurch zu den weltanschaulichen Grundlagen „identitären“ Denkens und den Begrifflichkeiten „identitärer“ Rhetorik offenbaren. Diese Nähe wird etwa erkennbar, wenn das Attribut „europäisch“ unabhängig von der tatsächlichen Herkunft als Synonym für „von weißer Hautfarbe“ verwendet wird, oder der Verfasser sich als „Ethno-Nationalist“ bezeichnet und das Konzept des „Ethnopluralismus“ anklingen lässt.
Das toxische Narrativ vom „Großen Austausch“
Darüber hinaus ist auch die gesamte welterklärende Erzählung, auf der der Text fußt und vor deren Hintergrund der Attentäter sich radikalisiert hat, ein Konstrukt von zutiefst „identitärem“ Charakter. Es handelt sich dabei um das toxische Narrativ vom „Großen Austausch“ (vgl. BTN), das dem Manifest nicht zufällig seinen Namen gegeben hat („The Great Replacement“). Unter diesem Schlagwort wird in Europa seit einigen Jahren eine rassistische Verschwörungstheorie verbreitet, nach der die Bevölkerungen der europäischen Länder gezielt durch zumeist muslimische Einwander*innen aus Afrika und dem Nahen Osten und deren Nachkommen „ausgetauscht“ werden sollen, was letztlich einem Völkermord gleichkäme.
Wie im ersten Teil bereits angedeutet wurde, atmet das Manifest des Rechtsterroristen von Christchurch durchgehend den Geist dieser rassistischen Wahnvorstellung. Sein Verfasser sieht durch „Masseneinwanderung“ und insbesondere „höhere Geburtenraten“ der Migrant*innen einen „Völkermord an den Weißen“ im Gange. Die Bedeutung, die er in diesem vermeintlichen Genozid der Demografie beimisst, wird deutlich, wenn er in eiskalter Berechnung ganz explizit auch die „Kinder der Invasoren“ zu Feinden erklärt, die es zu töten gelte. Seine Tat muss als ultimative Antwort auf dieses existenzielle Bedrohungsszenario von geradezu apokalyptischem Ausmaß betrachtet werden. Auffallend ist, dass der australische Attentäter sich auf der Grundlage einer Ideologie radikalisierte, die einen genuin westeuropäischen Ursprung hat.
Erfindung aus Frankreich
Die Phantasmagorie vom „Großen Austausch“ ist eine vergleichsweise junge Erfindung. Sie geht auf das gleichnamige Buch des französischen Intellektuellen Renaud Camus (Le Grand Remplacement) zurück, das erstmals 2011 erschien. Ein wichtiger Vordenker für sein Werk war der mittlerweile 93jährige und ebenfalls aus Frankreich stammende Schriftsteller Jean Raspail. Mit seinem Buch Das Heerlager der Heiligen (Le Camp des Saints) von 1973 gilt er der „neuen“ Rechten in ganz Europa als literarische Lichtgestalt und eine Art Prophet. Er beschreibt darin den apokalyptischen Untergang der europäischen Zivilisation durch eine massenhafte Einwanderung von Menschen aus der Dritten Welt und deren Vermischung mit der einheimischen europäischen Bevölkerung (vgl. SPON, ForeignPolicy). Beide Autoren gehören zum „neurechten“ Literaturkanon, der stark von französischen Intellektuellen geprägt ist.
Dass dieses Narrativ in Frankreich seinen Anfang nahm, liegt auch daran, dass Frankreich seit vielen Jahrzehnten das europäische Land mit dem größten muslimischen Bevölkerungsanteil ist. Außerdem ist es das Mutterland der „neuen“ Rechten, als deren Speerspitze im Kampf um die „ethnokulturelle Identität“ Europas sich die ebenfalls dort entstandene „Identitäre Bewegung“ (IB) versteht. In Frankreich, wo sie die größte außerparlamentarische Gruppierung der extremen Rechten darstellt, erblickt die IB wegen des hohen Bevölkerungsanteils außereuropäischer Herkunft das Hauptschlachtfeld dieses rassistischen Kampfes um das weiße Europa. Weitere Zentren „identitärer“ Agitation sind Deutschland und Österreich.
Der Attentäter von Christchurch hat ausgedehnte Reisen nach Europa unternommen (vgl. t-online) und erklärt in seinem Manifest ausführlich, dass der Aufenthalt in Frankreich ein Schlüsselerlebnis für seine Radikalisierung war: Mit eigenen Augen die „Invasion Frankreichs durch Nicht-Weiße“ zu sehen, war der „letzte Anstoß“ zu seinem extremistischen Entschluss, die „Invasoren“ unmittelbar anzugreifen. Auch für ihn war Frankreich also von entscheidender Bedeutung. Nur ein Zufall?
Propagandawerkzeug der „Identitären“
Die „Identitäre Bewegung“, die erst 2012 formal ins Leben gerufen wurde, hat das just zu dieser Zeit aufkommende Narrativ Camus’ sehr bald begierig aufgenommen. Die Schreckenserzählung vom systematischen Bevölkerungsaustausch dient ihnen als idealer Hintergrund, vor dem sie ihre „Reconquista“ (Rückeroberung) Europas inszenieren können. Tatsächlich ist der Begriff des „Großen Austausches“ DAS zentrale propagandistische Schlagwort der „Identitären.“ Außerhalb Frankreichs haben, nicht zuletzt mithilfe unkritischer Medienberichte, erst die Aktivist*innen der IB dieses toxische Narrativ einer breiten Öffentlichkeit überhaupt bekannt gemacht.
Wie die „Identitären“ das Schreckgespenst vom „Großen Austausch“ 2015 in Deutschland und Österreich im Rahmen einer konzertierten Kampagne in die öffentliche Debatte einführten, beschreibt der österreichische Führungskader Martin Sellner, Kopf der IB im deutschsprachigen Raum, in seinem Buch „Identitär“ (2017). Die zentrale Bedeutung, die diese Wahnvorstellung für die IB hat, spricht aus seiner Einschätzung, dass die Kampagne des Jahres 2015 (Motto: „Stoppt den Großen Austausch“) „ein wichtiger Schritt für die IB“ in ihrer Entwicklung zu einer „metapolitischen Waffe im Infokrieg“ war.
In der 2016 veröffentlichten deutschen Erstausgabe von Renaud Camus‘ Buch („Revolte gegen den Großen Austausch“) erläutert Sellner in einem Nachwort den Stellenwert dieses rassistischen Narrativs für das „identitäre“ Weltbild eingehender. Es stehe nicht nur „voll im Einklang mit der identitären Theorie“, sondern liefere der IB auch den zentralen Kampfbegriff, der „alle propagandistischen und strategischen Anforderungen“ in sich vereine und das „wichtigste Werkzeug“ für den Aufbau einer breiten „Front der Patrioten“ bereitstelle.
Brüder im Geiste
Die apokalyptisch anmutende Rhetorik, der sich Sellner in diesem Nachwort bedient, erinnert frappierend an das Manifest des Rechtsterroristen von Christchurch. Der „Große Austausch“ gebe dem einen griffigen Namen, was Sellner eine „Invasion Europas“ und „die unüberbietbare Katastrophe“ nennt: Die drohende Auslöschung der „europäischen Völkerfamilie“ durch die Einwanderung „außereuropäischer“ Menschen und deren Nachkommen. Grundlage dieser Fehlentwicklung seien „Dekadenz und liberalistischer Werteverfall“, die die europäischen Gesellschaften „sturmreif für die Invasion der Fremden“ gemacht hätten.
Der „identitäre“ Publizist Martin Semlitsch, (Pseudonym: Martin Lichtmesz), der die deutsche Camus-Ausgabe übersetzt und ein einführendes Vorwort geschrieben hat, lässt mit seiner menschenverachtenden und bellizistischen Rhetorik keinen Zweifel an der geistigen Nähe zum Massenmörder von Christchurch. Er schreibt ganz offen, dass die „Demographie“ das primäre „Mittel der Eroberung und der Islamisierung Europas“ sei, das „nur gelegentlich“ durch „offene Gewalt und Terror“ ergänzt werde. Beides, Geburtenraten und nackte Gewalt, sind für ihn Waffen in einem „versteckten Territorialkrieg“, der erst durch eine „suizidale Kollektivtrance“ der westlichen Gesellschaften ermöglicht werde. Die „Betreiber und Propagandisten“ dieser Politik des Bevölkerungsaustausches auszumachen, sei die „entscheidende Feindbestimmung dieses Jahrhunderts.“
Sellner und Semlitsch – die beiden Österreicher können getrost als die bekanntesten Vordenker der „Identitären Bewegung“ im deutschsprachigen Raum bezeichnet werden – legen hier exakt dieselbe rassistische und entmenschlichende Ideologie und zu weiten Teilen sogar dieselbe um Eroberungskriege und Geburtenraten kreisende Diktion an den Tag, die auch das Manifest des Rechtsterroristen von Christchurch durchziehen. Es ist ein besonders krasser, extrem menschenverachtender Rassismus, der die Geburt von Kindern der falschen Abstammung, der falschen Hautfarbe, des falschen Phänotyps zu einer existenziellen Gefahr und sogar zum Werkzeug eines „Völkermordes“ macht – eine Lesart, die nicht im Widerspruch zur Erzählung vom „Großen Austausch“ steht, vergleicht Renaud Camus diesen doch selbst allen Ernstes mit dem Holocaust und spricht von einer „zweiten Karriere Adolf Hitlers“ (was von Semlitsch ohne jede Kritik wiedergegeben wird).
Eine Zukunft für „europäische“ Kinder
Die Abwendung dieses pathetisch als Horrorszenario und Apokalypse gezeichneten Bevölkerungsaustausches ist für die „Identitäre Bewegung“ insgesamt die vornehmliche Aufgabe, die ihre gesamte Agenda bestimmt. Dabei geht es um nichts Geringeres als das „Überleben“ des weißen Europas, wie es der deutsche IB-Kader und Buchautor Mario Alexander Müller ausdrücklich betont (freilich in „identitärer“ Manier, also ohne das Attribut „weiß“ zu benutzen). Dieser Kampf ist auch die Legitimationsgrundlage für die zentralen politischen Forderungen der IB, zu denen u. a. die „Remigration“ gehört, womit man die Vertreibung nicht-weißer Menschen meint (auch wenn man das so gut wie nie offen ausspricht und allenfalls nur andeutet).
In diesem Zusammenhang gehört es zur „identitären“ Doktrin, die Dringlichkeit dieser historischen Aufgabe zu unterstreichen: Man sei, so wird auch Martin Sellner nicht müde zu betonen, die „letzte Generation“, die noch imstande sei, „die ultimative Katastrophe“ des „ethnokulturellen Kollaps“ aufzuhalten. An einer Stelle in seinem Buch Identitär (2017) springt besonders deutlich ins Auge, dass die „Identitären“, wenn sie von „europäischen“ Menschen sprechen, Menschen von weißer Hautfarbe meinen. Es gehe der IB darum, den „europäischen Kindern“ von heute eine lebenswerte Zukunft zu sichern, um sich nicht im Jahr 2020 vor ihnen schämen zu müssen. Liest man diese Passage, wird man unweigerlich an die sogenannten „14 Words“ erinnert. Diese ursprünglich aus der rechtsextremen Szene der USA stammende Chiffre steht für den Satz: „We must secure the existence of our people and a future for White children.“
Der Massenmörder von Christchurch, der sich in der Rolle eines Märtyrers sieht, benutzt diesen aufgeschlüsselten Satz in seinem Manifest und hat seine Mordwaffen an mehreren Stellen mit der Zahl 14 beschrieben. Offensichtlich hat er den aus dieser Chiffre sprechenden rassistischen Auftrag, den sich auch die „Identitäre Bewegung“ auf die Fahne geschrieben hat, bitterernst genommen und bis zur letzten Konsequenz ausgeführt. Er wird sicherlich nicht der letzte Rassist gewesen sein, der dazu bereit ist.