Die Büroräume der „Tbilisi Pride“ sind verwüstet: Die Fenster sind mit schwarzer Farbe beschmiert worden, auf den Boden liegen Glasscherben, Tische wurden umgekippt. Gestern, am 5. Juli 2021, stürmten homofeindliche Gegner:innen der Pride-Parade das Büro der queeren Organisation, wo auch die Aktivist:innengruppe „Shame Movement“ ihren Sitz hat. Bewaffnet mit georgischen Flaggen kletterten die Angreifer auf den Balkon des Gebäudes und rissen die dortigen Regenbogenfahnen ab, bevor sie in das Büro einbrachen. Unten auf der Straße jubelte ein wütender Mob aus Hunderten pro-russischer Nationalist:innen und orthodoxer Christ:innen. Sie verbrannten Regenbogenfahnen, attackierten Presse und vermeintlich „schwule“ Passant:innen – ungestört von der Polizei, die nur zuschaute. Anlass war der erste CSD in der georgischen Hauptstadt.
Der Verband „Justice for Journalists“ verzeichnete am Montag insgesamt 107 Angriffe auf 54 Journalist:innen, Kameraleute und Fotograf:innen – einige von ihnen wurden schwer verletzt und mussten operiert werden. Fotos zeigen den halbnackten georgischen Journalisten Rati Tsverava, wie er von Priestern der Georgischen Kirche durch die Straßen geschleppt wird. Medienberichten zufolge sei ein polnischer Tourist abgestochen worden, weil die Täter:innen aufgrund seines Ohrpiercings davon ausgingen, dass er schwul sei (siehe Open Caucasus Media). Es blieb keine Wahl übrig: Die Veranstalter:innen der „Tbilisi Pride“, die wenigen Stunden nach dem Angriff auf ihr Büro stattfinden sollte, sahen sich aufgrund der Sicherheitslage gezwungen, die „Tbilisi Pride“ abzusagen. Nicht zum ersten Mal.
Die diesjährige Pride-Woche begann wenige Tage zuvor am 2. Juli unter Polizeischutz mit einer Vorstellung der Dokumentation „March for Dignity“, einem Film über die 2019 geplante „Tbilisi Pride“, die ebenfalls abgesagt werden musste. Damals verweigerte die Polizei, die Demonstration zu schützen. Dagegen protestierte die queere Community damals unangekündigt mit einer kleinen Kundgebung vor dem Innenministerium – und wurde mit gewalttätigen homofeindlichen Gegendemonstrant:innen konfrontiert. Erst nach sechseinhalb Stunden in den frühen Morgenstunden konnten die queeren Aktivist:innen von der Polizei evakuiert werden.
Solche Vorfälle kommen in Georgien erschreckend häufig vor: 2019 wurde ebenfalls eine Demonstration zum Internationalen Tag gegen Homo-, Trans- und Bifeindlichkeit aus Sicherheitsgründen abgesagt. Stattdessen fand ein von der Kirche organisierter „Tag der Familienreinheit“ statt. Im selben Jahr wurde auch die Premiere des georgischen Films „Als wir tanzten“, einer schwulen Liebesgeschichte, von einem wütenden Mob mit brennenden Regenbogenflaggen und Feuerwerkskörpern auf die Premierenbesucher:innen gestört. Ein Jahr zuvor fanden martialische Razzien aus äußerst dubiosen Gründen in den Technoclubs „Bassiani“ und „Café Gallery“ statt – zwei der wichtigsten Schutzräume für die queere Szene in Tiflis (siehe Jungle World). Die Liste geht weiter (siehe Queer.de).
In Georgien herrscht ein zutiefst homofeindliches Klima – und dabei nimmt die einflussreiche und erzkonservative Georgische Orthodoxe Kirche eine zentrale Rolle ein. Kopf der Kirche ist der „Patriarch“, aktuell Ilia II., der Homosexualität als „Krankheit“ sieht, die die „georgische Tradition beleidigt“ (siehe Radio Free Europe). In den Tagen vor der abgesagten Pride-Parade dieses Jahr machte die Georgische Kirche Stimmung gegen die Demonstration, die sie als „LGBT-Propaganda“ und „Sünde“ diffamierte. Mit Erfolg.
Ein ähnlicher Tenor war aus der Politik zu hören: Premierminister Irakli Gharibaschwili forderte am Montagmorgen eine Absage oder Verlegung der Demonstration, die eine „Bedrohung zu einem Bürgerkrieg“ darstelle und für die Mehrheit der Bevölkerung „inakzeptabel“ sei. Womöglich spielten auch die Sicherheitsbehörden eine Rolle für die angeheizte Lage. Dem Pride-Veranstalter Giorgi Tabagari zufolge wurde der Ort der geplanten Demonstration am Montag fünfmal intern geändert, wie das georgische Nachrichtenportal Open Caucasus Media berichtete. Doch jedes Mal waren Pride-Gegner:innen bereits vor Ort, als die queeren Aktivist:innen eintrafen.
Auch pro-russische Nationalist:innen, die von Putins Regierung finanziell und ideologisch gestärkt werden, tragen zur Anti-LGBTQ*-Stimmung im Land bei. Denn der Kampf für queere Rechte wird häufig als „westlicher Einfluss“ auf Georgien delegitimiert. Tatsächlich versteht sich ein großer Teil der jüngeren Generation in Großstädten wie Tiflis als europäisch und schaut nach Brüssel statt nach Moskau. „Für LGBT-Rechte zu kämpfen ist, für die Idee der Europäischen Union zu kämpfen“, sagt etwa die „Tbilisi Pride“-Mitbegründer Tabagari in der oben erwähnten Dokumentation „March for Dignity“. In einem Statement der „Tbilisi Pride“ auf Facebook nach den Ausschreitungen am Montag heißt es: „Der Zivilgesellschaft, den demokratischen Werten und dem europäischen Kurs des Landes“ sei „der Krieg erklärt“ worden.
Bereits am Montagmorgen kam es zu massiven Ausschreitungen in der Innenstadt von Tiflis: Ein Video zeigt, wie homofeindliche Pride-Gegner:innen Stände von Oppositionsgruppen wie der Partei „United National Movement“ vor dem georgischen Parlament attackieren und zerstören. Den Gruppen warf der aggressive Mob vor, die Pride-Parade zu unterstützen. Später rammte ein Mopedfahrer Journalist:innen mit seinem Fahrzeug. Ein anderer Mann griff ein Kamerateam mit einem Schläger an. Auch hier schritt die Polizei nicht ein, wie Medien berichten und Videos zeigen.
„Die Situation ist hart und schmerzhaft“, berichtet Anano Surmava, eine queere Aktivistin aus Georgien, gegenüber Belltower.News. „Wir fühlen uns frustriert und im Stich gelassen“. Die wenigen Fortschritte für LGBTQ*-Rechte im Land seien auf einem Schlag zunichte gemacht worden, so Surmava. „Aber wir hoffen, dass die georgische Gesellschaft sich nicht auf die Seite dieser gewalttätigen Gruppen schlägt“. Gleichzeitig warnt Surmava vor einer Instrumentalisierung der queeren Szene durch Liberale in den Großstädten. „Die Pride-Woche ist nicht die alleinige Antwort auf die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind“, betont sie. Surmava weist auf die Situation von queeren Menschen in ländlichen Gebieten hin, die kaum Zugang zu Beratungsstellen und Hilfen haben. Doch auch in Großstädten wie Tiflis hat sich die Lage seit den Ausschreitungen erheblich verschlechtert: „Manche haben nun Angst, das Haus zu verlassen – und das wird vermutlich eine Weile so bleiben. Und das führt wiederum zu mehr Fällen von häuslicher Gewalt.“
Die Bilanz der georgischen Polizei nach den homofeindlichen Ausschreitungen am Montag ist ernüchternd: Lediglich acht Personen wurden festgenommen, nur 55 Gewaltvorfälle wurden dokumentiert, davon 53 gegen Medienvertreter:innen. Ermittlungen zum Angriff auf das Pride-Büro seien nun eingeleitet worden, heißt es von den Behörden. Doch die Situation für queere Menschen im Land bleibt äußerst gefährlich. Aktivist:innen berichten, dass sie aus Sicherheitsgründen nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren können. Die Veranstalter:innen sind zum eigenen Schutz untergetaucht und wechseln mehrmals am Tag ihren Standort. Sie rufen daher zum Spenden auf, um bei den anfallenden Extrakosten zu helfen. Die schrecklichen Szenen in Georgien zeigen: Der Pride-Monat ist nicht nur ein Fest, sondern ein Kampf.
Schwerpunkt Juli 2021: Queer-Monat
Im Juni 2021 beschäfigt sich Belltower.News vertieft mit dem Thema Queerfeindlichkeit und LGBTQ*-Rechte. Im Schwerpunkt sind erschienen:
- CSD in Georgien: Absage der Tbilisi Pride nach homofeindlichen Ausschreitungen
- Was Transfeindlichkeit mit Antisemitismus zu tun hat
- Männerrechtler: Schwule Nazis und nachdenkliche Sprüche auf Bildern
- Queerer Widerstand: Klaus und Erika Mann
- Frauen und Studentenverbindungen: Braucht es eine queere Burschenschaft?