Ein Machtvakuum innerhalb der Berliner Neonazi-Szene, das durch den Rückzug tonangebender führender Kader der alten GdnF (Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front)-Struktur entstanden ist, bedingt eine spezielle Form politischer Orientierung. Die führenden Protagonisten aus der Kameradschaftsszene sagen sich zunehmend von den dogmatischen extrem rechten kulturellen Mustern los und orientierten sich an den kulturellen Codes der linksradikalen autonomen Bewegung, die sie mit eigenen Ideologie-Fragmenten versetzen. Sie treten u.a. unter dem Label „Autonome Nationalisten“ auf. Da dieses Modell zunehmend bundesweit übernommen wird, soll an dieser Stelle ein erster Überblick zu diesem Neonazi-Label geboten werden.
Autonome Nationalisten?
Der Begriff „autonom“ kann von den „Autonomen Nationalisten“ kaum mit Inhalten gefüllt werden. Selbst der sonst so schreibfreudige und mitteilungsbedürftige westdeutsche Neonaziaktivist Axel W. Reitz beantwortete die Frage „Wieso überhaupt ‚Autonome Nationalisten?'“ in einem Neonazi-Internetforum Ende 2004 zunächst nur mit einem knappen „Was sind ‚autonome Nationalisten‘, eigenständige Nationalisten, Punkt, Aus, Ende, das war’s.“ Der Hamburger Neonazikader Christian Worch greift später helfend in die Diskussion ein und definiert den Begriff „autonom“ als Notlösung, da mehrere „freie Nationalisten“ mittlerweile NPD-Parteiangehörige geworden seien und daher der Begriff „frei“ verwässert sei. Ein „Autonomer Nationalist“ beteuert an dieser Stelle, dass er selbstverständlich im „obligatorischen Braunhemd“ zum Treffen erscheine, aber trotzdem den autonomen Stil für einen wichtigen Lifestyle halte. Ein anderer Nutzer führt zu diesem Thema aus: „Zudem bezieht sich das autonom auch auf den Lebenswandel der Bewegung, weg vom Skinhead Image und hinein ins moderne Leben.“ Und weiter:“Wir sind unabhängig von bestehenden Strukturen oder festgefahrenen Denkweisen (…) es ist keine Subkultur wie z.B. Skinheads es ist ein Lebensgefühl, eine Einstellung, eine Lebensart eine ‚Kampfesart‘ (…)“ versucht ein anderer User das „autonom“ zu erklären. Diese Formen von widersprüchlichen Patchworkidenditäten, die zwischen Neonazi-Ideologie, modern jugendlichem Lifestyle und dem Lebensstil der Vorbilder aus der linksautonomen Szene hin- und herpendeln, bedienen sich des Begriffes „autonome Nationalisten“ als beliebiges Label. „Der autonome Style ist ein Stil der sich in den letzten Monaten herauskristallisierte und mittlerweile ein fester Bestandteil unser Zusammenhänge mit eigenem politischen Anspruch geworden ist.“ resümierte Axel Reitz zwar im November 2004, konnte jedoch keine näheren Angaben zu dem eigenen politischen Anspruch bieten. Auch Monate später konnte er nicht die Inhalte der „Autonomen Nationalisten“ präsentieren, sondern nur deren Rolle in der Neonazi-Szene beschreiben:“Der Begriff autonom steht auch für eine Profilierung, einer Entwicklung in unseren Reihen.“ Als er im Juli 2005 erneut nach den „Autonomen Nationalisten“ gefragt wurde, gestand er genervt ein: „Nationalautonom ist zuallerst ein Begriff und je nach Apologet dieses an sich oberflächlichen Wortkonstruktes wird er anders definiert (…) Eine verbindliche Definition über den Begriff kann Dir also niemand geben (…)“
Autonomer Style?
Trotz der inhaltlichen und konzeptionellen Unbestimmtheit blieb die Entstehung der „Autonomen Nationalisten“ nicht ohne Folgen. Der bis dato durch entsprechende kulturelle Identitäten begrenzende Zugang zur Kameradschafts-Szene wurde durch die Loslösung von den dogmatisch extrem rechten kulturellen Mustern gelockert. Man muss mittlerweile weder eine fundierte völkische Identität, noch eine extrem rechte subkulturelle Identität vorleben, um in der Kameradschafts-Szene anerkannt zu werden. Diese Stategie beschreibt Reitz stellvertretend für die „Autonomen Nationalisten“: „Diese ‚Autonomen‘ kopieren den Stil und die Aufmachung der linken Strukturen und von linken bisher agitierten Jugendkulturen, dabei werden die bekannten Symbole und Outfits mit unseren Inhalten besetzt und in unserem Sinne interpretiert.“ Der direkten Übernahme und Umwandlung von Parolen, Slogans, Layout-Stil und dem Duktus aus der autonomen Antifa-Bewegung und alternativen Jugendkulturen sind dabei kaum Grenzen gesetzt. So gab es Hausbesetzungen für ein „nationales Jugendzentrum“ und englischsprachige Neonazi-Graffitis, Aufkleber und Transparente in für normale Bürger unverständlicher Slogan- Form („Fight the System, Fuck the Law“). Das Symbol der autonomen Antifa-Bewegung, eine rote und eine schwarze Fahne im Kreis mit dem Schriftzug „Antifaschistische Aktion“, wurde eins zu eins übernommen und mit dem Schriftzug „Nationale Sozialisten“ versehen. Das Logo antifaschistischer Hardcore-Anhänger mit dem Schriftzug „Good night white pride“ wurde ebenfalls übernommen und durch den Slogan „Good night left side“ ersetzt. „Mittels dieses Auftretens besteht die Möglichkeit, sozusagen unerkannt, da dem bekannten Bild des ‚Faschisten‘ entgegen laufend, in die bisher von gegnerischen Lagern beherrschten Gebiete vorzudringen, politisch und kulturell. Graffities sprühen, unangepasst und ‚hip‘ sein können nicht nur die Antifatzkes, sondern auch wir, damit erreichen wir ein Klientel welches uns bis dato verschlossen geblieben ist“ fasst Reitz die Vorteile der „Autonomen Nationalisten“ zusammen.
Autonome Praxis?
Der äußerlichen Anpassung an die linksautonome Szene folgte eine versuchte Anpassung der Aktionsformen. Dieser Schritt stellt eine logische Konsequenz aus dem selbstgestellten Anspruch der Kameradschafts-Aktivisten als „Autonome Nationalisten“ dar. Eine Aktivistin aus dem Umfeld der verbotenen Berliner Kameradschaft Tor erklärte: „… zudem erhielt das wort autonom mit der Zeit folgende Aspekte (…) Entschlossenheit zum Widerstand mit u.a. auch agressiven Mitteln. Sprich das entschlossene Auftreten und Durchsetzen seiner Ziele beispielsweise auf der Straße etc.“ Ein anderer Vertreter dieser Strömumg erklärte eine „kämpferische Grundeinstellung“ zum Merkmal der „Autonomen Nationalisten“. Nun seien die Leute da, die aus der „defensiven Haltung der ’nationalen Bewegung'“ herausträten und sagen würden „Hier ist Schluss“. So wurde am 1. Mai 2004 in Berlin und am 1. Mai 2005 in Leipzig von „Autonomen Nationalisten“ versucht, „Schwarze Blöcke“ in den ersten Reihen der Neonazi-Aufmärsche zu formieren, die (erfolglos) die Polizeiketten durchbrechen wollten. Diese gescheiterte Praxis wurde ins autonome Konzept gebastelt:“Meiner persönlichen Meinung nach sind die Gruppen, die sich autonom nennen auch bereit dazu ihren Willen mit anderen Wegen durchzusetzen und sich nicht zu beugen. Und sei es z.B. nur so Sachen wie das Wegschieben der Bullen am 1. Mai in Berlin.“ Der scheinbar erfolgreichen Kombination der „Autonomen Nationalisten“ aus verändertem Erscheinungsbild und erlebnisorientierten Aktionsformen folgte eine Fokussierung auf die direkte Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner aus der Antifa-Bewegung. Auch hierbei wird eine Praxis der autonomen Antifa-Bewegung, die Fokussierung auf die Neonazi-Bewegung als einzigem Gegner, kopiert, welche innerhalb der autonomen Antifa-Bewegung zu Recht seit Jahren umstritten ist. Seit einigen Monaten versuchen Berliner Kameradschafts-Aktivisten aus dem Umfeld der „Autonomen Nationalisten“ mit mehr oder weniger gezielten Aktionen ihre politischen Gegner aus der autonomen Antifa-Bewegung direkt anzugreifen. So gab es Angriffe auf die Wohnhäuser vermeintlicher Antifa-Aktivisten und linke Jugendclubs, Angriffe auf eine antifaschistische Ausstellung und Veranstaltungen und (spontane) Angriffe auf bekannte Antifaschisten. Vereinzelt berichteten alternative Jugendliche, dass sie von Neonazis im autonomen Outfit gezielt aufgelauert und angegriffen worden sind. Der Wille zu gezielten Aktionen ist aus den Kreisen „Autonomer Nationalisten“ deutlich vernehmbar. „(…) es geht um sinnvolle Militanz z.B. auf Demos um sich gegen Schikane zu wehren oder anderweitige militante Widerstandsformen.“ Und nicht mehr um „sinnlose, ungeplante und ziellose (Suff-)Reaktionen“. Diesem Handeln geht offenbar keine Analyse der politischen Situation voraus und keine dezidierte politische Konzeption. So wird mal in provokanter Absicht ein Solidaritäts-Transparent für ein linkes Wohnprojekt auf einer Neonazi-Demonstration gezeigt, um dann einige Monate später mit Graffiti-Parolen und Aufklebern die Räumung eines anderen linken Wohnprojektes zu feiern. Die autonome Antifa-Bewegung wird auf der einen Seite bis ins Detail kopiert, um sie auf der anderen Seite mit ganzer Energie aufs Bitterste zu bekämpfen. Die „Autonomen Nationalisten“ tragen einerseits rote Fahnen auf Neonazi-Demonstrationen vor sich her und bezeichnen sich als „Sozialisten“, um anderseits ganze Stadteile mit der Parole „Reds better run“ und „C4 for Reds“ zu versehen. Hier scheinen eher jugendliche Verhaltensweisen wie der Drang zum Kräftemessen, Revierkämpfe, Provokation und der Wunsch nach aufsehenerregenden Aktionen mit Erlebnischarakter mit politischen Motiven verknüpft zu werden. Die direkte und bewusste Konfrontation mit Antifas, Detektivspielchen und nächtliche Action sind eben jene Aktionsformen, die gesucht werden, wenn die Erlebniswelt wichtiger ist als die politische Fundierung.
Konflikte
Die Entwicklung der „Autonomen Nationalisten“ verläuft nicht ohne Widerspruch. Da in einem Neonazi-Internetforum immer diffuseren Fragen nachgegangen wird (z.B. „Wie ziehen sich eigentlich Autonome Nationalisten im Sommer an?“), erklärte ein User frustriert: „Viele definieren ‚autonom‘ ja aufgrund ihres Aussehens, dass heisst sie ziehen sich zwar an wie sie es für einen Autonomen für richtig erachten, aber das war es dann auch schon, politischer Wert dabei gleich Null (…)“. Im Vorfeld der Mobilisierung zu einem „Schwarzen Block“ auf einem Neonaziaufmarsch erklärte eine Magdeburger Neonazi-Internetseite erbost:“Ein Zeichen von politischer Radikalität ist dieser Mummenschanz sicherlich nicht, eher schon von persönlicher Schwäche, die mit oberflächlicher Selbstdarstellerei überspielt werden soll (…) wer unsere politischen Zusammenhänge mit einem Abenteuerspielplatz verwechselt, sollte lieber ganz schnell aus unseren Reihen verschwinden.“ Einige ostdeutsche Neonazis trugen daher am 1. Mai 2005 T-Shirts mit der Aufschrift:“Unsere Fahnen sind schwarz ? unsere Blöcke NICHT!“. Im Nachhinein wurde dementsprechend kritisiert:“Nationale Sozialisten gehen nicht auf die Strasse um sich zu vermummen und einzuigeln. Wir wollen der Bevölkerung unsere Ansichten und Ziele mitteilen und vermitteln, da wirkt diese Art von Demonstration eher beängstigend und abweisend der Bevölkerung gegenüber.“ Nachdem auf einem Neonazi-Aufmarsch im November 2004 in Berlin u.a. Chart- und Hip-Hop-Musik gespielt wurde, warf Oliver Schweigert als ein Vertreter der alten Kameradschafts-Strukturen den „Autonomen Nationalisten“ vor:“Nicht nur das solches Geseiere nichts mit unserer Art zu tun hat, ja ihr vollkommen fremd ist, nein es widerspricht auch unserem politischen Wollen, welches sich gegen die, von den Henkern Deutschlands gewollte sog. Multikulturelle Gesellschaft, richtet.“ Im Zusammenhang mit einem Neonazi-Aufmarsch in Magdeburg im Januar 2005 brach der Konflikt zwischen Oliver Schweigert und den „Autonomen Nationalisten“ erneut aus. Dieses mal ging es um die gesuchte Auseinandersetzung der „Autonomen Nationalisten“ mit autonomen Antifaschisten am Rande der Demonstration. In einer Stellungnahme mit dem Titel „Lügen haben kurze Beine! ‚Autonomer Nationalist‘ zeig mir mal deine.“ beklagte er: „Durch undizipliniertes Verhalten ist mir ein Blöckchen von möchte gerne superrevolutionären ‚autonomen Nationalisten‘ aufgefallen. Diese Leute waren zu keiner Zeit in der Lage sich dem Tag entsprechend dizipliniert zu verhalten (…)“ Im März 2005 landeten die „Autonomen Nationalisten“ auf der Tagesordnung des fünften Arbeitstreffens des Nationalen und Sozialen Aktionsbündnis Mitteldeutschland (NSAM) in Thüringen: „Selbsternannte ‚autonome Nationalisten‘, Was bedeutet ‚autonom‘ und wie wollen wir, als breite Masse in Zukunft mit diesen Störern umgehen?“. Eine eindeutige Antwort auf diese Frage scheint die Neonaziszene noch nicht gefunden zu haben oder aus Angst vor der folgenden Auseinandersetzung nicht geben zu wollen.
Fazit
Im Moment scheint sich zumindest in Berlin die jüngere Fraktion in der Kameradschaftsszene unter dem Label „Autonome Nationalisten“ gegen die alten Strukturen durchgesetzt zu haben. Eine Situation, die in anderen Regionen wie z.B. Hamburg aufgrund führungsstarker Altkader unwahrscheinlich ist. Die niedrigschwelligen Angebote der Kameradschaftscliquen an erlebnisorientierte rechts anpolitisierte Jugendliche wurden von einer zunehmenden dynamischen Entwicklung, einem wachsenden Personenpotenzial und einer höheren Mobilisierungsfähigkeit honoriert. So scheint es für einige Aktivisten der Neonazi-Szene möglich zu sein, das organisations-soziologische Modell der Autonomen in Teilen zu kopieren. Da aber die inhaltliche politische Praxis ? so weit vorhanden ? zwangsläufig eine andere ist, erfolgt nur eine sekundäre Politisierung. Diese dürfte kaum eine politische Nachhaltigkeit als Resultat bei den jugendlichen Aktivisten hervorbringen. Die zunehmende Entpolitisierung der Kameradschafts-Szene unter dem Label „Autonome Nationalisten“ kann als Schwächung der Neonazi-Szene ausgelegt werden. Doch hier muss entgegengehalten werden, dass durch das Ablegen des völkischen Dogmatismus, die unverbindlichen organisatorischen Verpflichtungen und die Erhöhung des Erlebnisfaktors eine zunehmende Anzahl von rechts anpolitisierten Jugendlichen angezogen wird. In untergeordnetem Maße finden auch jetzt noch politische Aktivitäten wie Mahnwachen für NS-Größen, Flugblattaktionen und Schulungen statt. Der Erfolg dieser Politpraxis wird sich erst in einigen Jahren zeigen: Wie viele von den jugendlichen „Autonomen Nationalisten“ Gefallen an der Politik finden und sich mehr und mehr in politische Strukturen begeben, wie viele sich irgendwann ausgetobt haben und ins bürgerliche Leben zurückkehren, wie viele sich zurückziehen, wenn sie den ersten ernsthaften Gegendruck zu spüren bekommen und wieviele nach der ersten Bewährungsstrafe die Lust an ständiger Action verlieren.
Dieser Text wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom Antifaschistischen Infoblatt (AIB)
Erscheinungsdatum Herbst 2005 Heft Nummer 69