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Das Manifest des Hanau-Attentäters zwischen Rechtsextremismus und Frauenhass Frauenfeind, aber kein Incel

25.02.2020, Hessen, Hanau: Gedenken vor einem der Tatorte, am Eingang zu einer Shisha-Bar am Kurt-Schumacher-Platz. (Quelle: picture alliance/Frank Rumpenhorst/dpa/Frank Rumpenhorst/dpa)

Am Abend des 19. Februar eröffnete ein Schütze Feuer auf eine Shisha-Bar und auf einen Kiosk in Hanau. Dabei wurden 9 Menschen getötet und weitere verletzt. Nach dem Anschlag kehrte der Schütze offenbar in seine Wohnung zurück, ermordete seine Mutter und beging Selbstmord. Im Zuge der Polizei-Ermittlungen tauchte ein Manifest auf, in dem der rechtsextreme, rassistische Hintergrund des Angriffs beschrieben wurde. Über die möglichen Beweggründe des Täters ist seit dem Anschlag sowohl in deutschen als auch in internationalen Medien viel berichtet worden. Neben Ausführungen der xenophoben Beweggründe wies das Manifest eine zusätzliche Komponente auf, die bislang in anderen Fällen eher weniger Beachtung gefunden hatte: Frauenfeindlichkeit als Motiv für terroristische Anschläge. Nachdem in jüngster Zeit mehrere Anschläge in Nordamerika mit Frauenhass begründet wurden, rückte dieser Aspekt dort im Gegensatz zu Deutschland verstärkt in den Blickpunkt. Seit 2014 wurde eine Reihe von Anschlägen durch selbst identifizierende „Incels“ verübt. Incel ist kurz für “Involuntary Celibacy”, sprich unfreiwilliges Zölibat. Menschen, die sich als Incels bezeichnen sind Teil einer überwiegend männlichen Online-Gemeinschaft. Die Nutzer*innen dieser Online-Gemeinschaft identifizieren sich darüber, dass sie (unfreiwilliger Weise) keine romantischen oder sexuellen Beziehungen haben. Sie sind aber zudem in der Mehrheit frauenfeindlich, und neigen zu Verschwörungstheorien.

Als Folge der neuen Medienaufmerksamkeit, die die Incel-Angriffe in den vergangenen Jahren erhielten, konzentrierten sich nun auch mehrere Artikel auf die Frauenfeindlichkeit im Manifest des Hanauer Schützen. Einige spekulierten über die Identität des Täters als Incel. Als Sozialwissenschaftlerinnen, die sich mit verschiedenen Aspekten von Misogynie und  männlichem Vorherrschaftsdenken (male supremacy) befassen, begrüßen wir den neuen Fokus und die neue Aufmerksamkeit, die in der breiteren Medienlandschaft der Bedeutung von Geschlecht und Frauenfeindlichkeit im Zusammenhang mit (rechts-)extremen Angriffen entgegengebracht wird. Bei dem Gebrauch von speziellen Begriffen und Konzepten im Bezug auf terroristische Akte ist jedoch Vorsicht geboten. Verschiedene Ausprägungen von Frauenhass zu generalisieren erschwert eine Analyse der verschiedenen Ideologien. Diese sind oft verwoben mit Ideologien der extremen Rechten und ermöglichen eine scheinbar mühelose Verbindung zwischen männlichen und rassistischen Vorherrschaftsansprüchen in Weltbilder, die Gewalttaten, wie die von Hanau hervorbringen und befördern.

Die Welt der Incels

Das von dem Schützen verfasste Manifest ist nicht nur von Rassismus und Verschwörungstheorien durchsetzt. Allein etwa vier Seiten des 24-seitigen Manifests tragen den Titel „Thema Frauen“. Der Täter schildert hier seine Frustration gegenüber Frauen. Insbesondere die Aussage, dass er seit 18 Jahren keine Beziehung mehr hatte, hat Wissenschaftler*innen und Journalist*innen dazu veranlasst, sich mit der Frauenfeindlichkeit des Angreifers auseinanderzusetzen. Angesichts des hohen Informationsbedarfs unmittelbar nach dem Angriff wurden schnell erste Einschätzungen über den Schützen und seine Motivation geteilt. Auf Twitter und in den Medien wurde der Schütze schnell als Incel bezeichnet.

“Er ist außerdem ein so genannter Incel. [Er] gesteht dass er noch keine Beziehung mit einer Frau hatte — für die letzten 18 Jahre, sagt er, weil er es so wollte.” Rechtsterrorismus-Experte Peter R. Neumann auf Twitter.
Doch die Gruppen und die Terminologien von frauenfeindlichen Communities im Internet sind komplex. Der Begriff Incel wurde ursprünglich in den 1990er Jahren von einer kanadischen, bisexuellen Frau geprägt, die Alannas Involuntary Celibate Project ins Leben rief: Eine Website für „alle Personen jeglichen Geschlechts, die einsam sind, nie Sex oder seit langem keine Beziehung hatten“. Die Konnotation des Begriffs änderte sich jedoch nach mehreren tödlichen Anschlägen, die allesamt durch Männer verübt wurden, die in frauenfeindlichen Online-Foren aktiv waren oder in Manifesten oder Social-Media-Beiträgen im Zusammenhang mit den Angriffen auf solche verwiesen haben. Diese späteren Incel-Foren bestanden größtenteils aus heterosexuellen Cis-Männern, die versucht hatten, Pick-Up-Artist-Techniken zu verwenden, um Frauen zu verführen – jedoch ohne den versprochenen Erfolg.

In den einschlägigen Incel-Foren wird ‘Incel’ definiert als: „eine Person, die sich eine romantische Beziehung wünscht, aber trotz zahlreicher Versuche und einer beträchtlichen Menge an Zeit nicht dazu in der Lage ist“. Viele Incels glauben, dass zwei Dinge für ihr Pech bei der Verwirklichung einer romantischen Beziehung verantwortlich sind: ihr als unzulänglich empfundenes Aussehen und der Feminismus.  Letzteren machen sie für die “zu hohen Standards“ die Frauen an Partner stellen, sowie für eine allgemein als männerfeindliche wahrgenommene Gesellschaft verantwortlich. Diese grundlegend antifeministische und in der Regel frauenfeindliche Weltsicht wird zunehmend wissenschaftlich untersucht. Studien zu Incel-Gruppierungen auf verschiedenen Online-Plattformen haben gezeigt, dass sie auf einem toxischen Kreislauf von Opferstilisierung und Frauenfeindlichkeit basieren, der eine Art Kampf zwischen den Geschlechtern konstruiert.

Incels und Gewalt

Die  Frustration auf der Incel-Identitäten beruhen, wird auf den Foren ständig wiederholt und verstärkt. Geschichten über die Ablehnung durch Frauen werden dort geteilt und als legitimer Grund dafür angeführt, dass sich ein Individuum als Incel betrachtet, und frauenfeindliche Inhalte teilt. Häufig produziert dies Gewaltphantasien und nicht selten physische Gewalt. Kommt es zu einem Anschlag, ist eine häufige Reaktion in den Incel Foren den Täter als „Heiligen“ oder „Helden“ zu feiern. Es wird dann anhand des Aussehens der Täter spekuliert ob sie Incels sein könnten. Ein Mitglied dieser Foren schrieb ein Manifest über seinen Hass auf Frauen und seine Frustration über sein ‘unfreiwilligen Zölibat’ und veröffentlichte mehrere YouTube-Videos, bevor er im Mai 2014 sechs Menschen in Isla Vista in Kalifornien tötete. Dieser Angriff brachte Incels eine erste Welle öffentlicher Aufmerksamkeit und führte dazu, dass sie mit gewalttätigem Extremismus in Verbindung gebracht wurden. In seinen Online-Auftritten gab der Täter als Motivation für den Terroranschlag an, „alle Frauen für das Verbrechen zu bestrafen, mich des Geschlechtsverkehrs zu berauben“. Der Täter hatte ursprünglich vor, eine weibliche Studierendenverbindung anzugreifen. Als Grund nannte er, dass die Frauen, die dort lebten, die Art von Frauen sei, die er nie haben könne. Sein Wunsch, alle Frauen für sein (unfreiwilliges) Zölibat zu bestrafen, spricht für die tiefsitzende Überzeugung, dass Frauen Männern Sex und Aufmerksamkeit schulden und dass Männer ein grundsätzliches Anrecht auf Frauen und ihre Körper haben.

Nach den tödlichen Schüssen in Isla Vista rückten Incels und deren meist gewaltsame Ausprägungen männlicher Vorherrschaftsphantasien vor kurzem wieder verstärkt in das öffentliche Bewusstsein. 2018 wurden sie mit Anschlägen in Toronto (Kanada) und auf ein Yoga-Studio in Tallahassee (Florida) in Verbindung gebracht.

Zuletzt warnte das FBI Kinobesucher*innen in den USA bei Vorführungen des Films Joker letztes Jahr vor möglichen Gewaltdrohungen im Zusammenhang mit „Incel-Extremisten“. Diese Warnungen ging mit der Kritik einher, dass Joker eine wohlwollende Darstellung der Radikalisierung eines Massenmörders sei, und einem „Incel-Trainingshandbuch“ gleichkommt.

 Frauenfeindlichkeit im Manifest des Hanau Attentäters

Im Manifest des Attentäters von Hanau finden sich einige Narrativen, die denen der Incels ähneln. Doch obwohl diese Überschneidungen mit der Incel-Kultur, ihrem Frauenhass, und ihren oft gewaltvollen Überzeugungen als Problem ernst genommen werden sollten, sind die Passagen, die als Incel-Ideologie interpretiert werden nicht so eindeutig mit der Identität der Incels verbunden, wie kurz nach dem Anschlag angenommen wurde:

Im Abschnitt „Thema Frauen“ gibt der Schütze zunächst an, dass er bis zum Verfassen des Manifests keine Freundin hatte, was er auf seinen extrem hohen Anspruch zurückführt, dem nur wenige Frauen entsprächen. Er schreibt, dass jeder Mensch den Wunsch habe nicht allein zu sein, den richtigen Partner zu finden, und dass die Nichterfüllung dieses Wunsches Freude und Leistungsfähigkeit behindere.

Tatsächlich passt der letzte Absatz, also der Wunsch, eine romantische Partnerin zu finden, daran aber zu scheitern zu der Grundüberzeugung von Incels.

Allerdings macht der Täter, in einer für Incels eher untypischen Wendung, weder den angeblich zu hohen Anspruch von Frauen, noch den Feminismus für seinen Single-Status verantwortlich. Stattdessen erklärt er, er hätte durchaus Beziehungen zu weniger attraktiven Frauen haben können, schloss dies jedoch für sich aus. Er „würde sich mit nichts anderem als dem Besten zufrieden geben“. Dieser Anspruch, das Beste “zu verdienen” und sich nicht mit etwas „weniger“ zufrieden geben zu wollen, zeigt eine sexistische, objektivierende Sichtweise auf Frauen, die auch auf Incel-Foren üblich ist.

Die Manosphere – Frauenfeindlichkeit on- und offline

Anspruchshaltungen wie die des Schützen von Hanau sind allerdings auch über die einschlägigen Incel-Foren hinaus, in der gesamten sogenannten „Manosphere“ verbreitet. Die Manosphere ist vernetzte Ansammlung, anti-feministischer und frauenfeindlicher Blogs, Websites, Wikis und Foren (darunter auch Incel-Foren).  Die Kategorisierung von Menschen in eine konstruierte, sexuelle Hierarchie ist ein klassischer Aspekt, der verschiedene frauenfeindliche Gruppen dieser Online-Sphäre vereint. Incels sehen sich in der Regel am untersten Ende dieser Hierarchie, während andere Gruppen wie Männerrechtsaktivist*innen und Pick-Up-Artists versuchen, ihren Platz in dieser Hierarchie durch Aktivismus, finanziellen Erfolg oder körperliche Fitness zu „verbessern“. Trotz dieser unterschiedlichen Reaktionen, fühlen sich doch alle Beteiligten dieser Gruppen prinzipiell dazu berechtigt, über Frauen(körper) zu verfügen.

Dieser Anspruch auf Frauen und den Zugang zu ihren Körpern ist allerdings kein Glaube, der von Incels geschaffen wurde oder nur bei Mitgliedern der Manosphere existiert. Auch im Mainstream-Diskurs nähren Narrative vom „Nice Guy“ und der sogenannten „Friendzone“ dieselbe Anspruchshaltung. Die Vorstellung, dass Frauen Männern Sex oder eine Beziehung schulden, weil die Männer „nett“ ihnen waren (nice guy), sich mit Frauen anfreunden oder grundsätzlich angemessene Umgangsformen gegenüber Frauen an den Tag legen, spricht ebenfalls dafür, wie fest verankert der Glaube an ein Anrecht auf Frauen bei einigen Männern zu sein scheint. Dementsprechend ist es auch nicht überraschend, wenn diese Männer mit Wut und manchmal tödlicher Gewalt  reagieren, wenn Frauen sie abweisen: wenn sie Nein sagen zu einer Verabredung, zu Sex oder wenn sie Anmachsprüche ignorieren oder ihren Namen oder Telefonnummer nicht preisgeben wollen. Stattdessen werden solche oft tödlichen Gewaltausbrüche gesellschaftsübergreifend häufig als ‘Eifersuchts-Drama’ oder ‘Familiendrama’ porträtiert. Jährlich sind zahlreiche gewalttätige Angriffe auf Frauen Beleg dafür, dass die frauenfeindliche Vorstellung ein Anrecht auf sie zu haben nicht nur in den hintersten Winkeln des Internets oder in den Manifesten von Terroristen zu finden ist. Obwohl tief sitzende Frauenfeindlichkeit und eben dieses Anspruchsdenken sowohl  im Hanauer Manifest als auch in den Manifesten von Incel-Attentätern zu finden ist, sollte Frauenfeindlichkeit an sich nicht per se als Beweis dafür verstanden werden, dass der Angreifer in Hanau ein Incel war.

Dafür sind die grundlegenden Haltungen, die im Manifest ausgedrückt werden auch außerhalb von Randgruppen wie Incels noch zu weit verbreitet – und sollten auch dort stärker problematisiert werden. Jeden gewalttätigen Frauenhasser als Incel zu bezeichnen, verhindert außerdem auch ein tieferes Verständnis dafür, was Incels sind und was sie potenziell gefährlich macht; und bekräftigt Incels in dem Glauben, der Sündenbock der Gesellschaft zu sein. Vielmehr müssen wir die verschiedenen Ausprägungen von Frauenfeindlichkeit und ihre potenziell tödlichen Folgen besser verstehen und angemessen darauf reagieren lernen.

Der Zusammenhang zwischen Verschwörungen, Rassismus und Frauenfeindlichkeit

Rassismus und frauenfeindliche Haltungen treten in der extremen Rechten häufig gemeinsam auf:  Sie sind verbunden durch ein Element der Verschwörung. Auch im Falle Hanaus ist dies so. Der Täter veröffentlichte Videos in denen er vor verschiedenen Verschwörungen warnt. Sie reichen von geheimen Bunkern in den USA bis hin zu der Überzeugung, dass der Täter einer der wenigen sei, der merkt, dass er von einem ominösen Geheimdienst überwacht wird. Wie bei Verschwörungstheorien üblich, wähnt er sich im Besitz von „geheimem Wissen“. Geheimes Wissen, oder „die Welt sehen, wie sie wirklich ist“, ist auch ein Aspekt, der viele frauenfeindliche und rechtsextreme Untergruppen in ihren Überzeugungen und Identitäten vereint. Besonders antisemitische Verschwörungen sind sowohl in rechtsextremen als auch in frauenfeindlichen Gruppen weit verbreitet. Gelegentlich überschneiden sich ihre Theorien – oft sind sie miteinander kompatibel. Im Jahr 2017 enthüllte ein durchgesickerter „Style Guide“ der neonazistischen Website The Daily Stormer ein Beispiel für diese Überschneidungen: „Frauen sollen angegriffen werden, aber es sollte immer erwähnt werden, dass sie sich ohne die [Einflussnahme von] Juden normal verhalten würden“. Mehrere Artikel aus dem  Daily Stormer folgen den Richtlinien des “Styleguides” und bezeichnen den Feminismus konsistent als “jüdischen Feminismus” oder „jüdische Erfindung“.

Unter anderem aufgrund dieser geteilten Neigung zum Verschwörungsdenken werden frauenfeindliche Foren im Netz im Allgemeinen und in Incel-Foren im Besonderen oft als geeignete Umgebung für die Anwerbung in die extreme Rechte angesehen. Einige prominente Persönlichkeiten haben die „Manosphere“ verlassen und sind zu frauenfeindlichen rechtsextremen Galionsfiguren geworden.

Die Manosphere und die radikale- und extreme Rechte sind zudem durch eine geteilte Opferrolle geeint. Beide empfinden die Gesellschaft als feindselig gegenüber (weißen) Männern. Frauen und Feministinnen, Liberale und  eine „schattenhafter Elite“ werden oft für diese wahrgenommene Benachteiligung verantwortlich gemacht. Diese Elite gilt in den meisten Fällen – klassischen antisemitischen Verschwörungstheorien folgend – als jüdisch. Unter der Annahme einer solchen Verschwörung zu ihren Lasten sehen sich Incels oft als die Sündenböcke. Die Zuschreibung von Attentätern als Incel sehen sie, als Beweis ihrer Opferrolle in der Gesellschaft. Im Fall von Hanau drehten sich die Diskussionen in einschlägigen Incel-Boards dann auch weitgehend darum, dass die Zuschreibung Incel ein weiterer  Fall von fälschlicher Schuldzuweisung sei. Sie weisen die Zugehörigkeit des Schützen als einer von ihnen zurück und rücken die augenscheinliche psychische Erkrankung des Angreifers in den Vordergrund. Außerdem, so heißt es auf einem Forum, könne der Schütze kein Incel gewesen sein, weil er einen BMW fuhr – was ihn in der angenommenen sozialen Hierarchie über den Incel-Status erheben würde. Andere vermuteten eine antisemitische Verschwörungstheorie, indem sie behaupteten, die Schießerei sei „(((inszeniert)))“.  Die drei Klammern sind ein antisemitisches Symbol, das verwendet wird, um jüdische Namen und Organisationen hervorzuheben, und das von der Alt-Right populär gemacht wurde. Eine weitere Bestätigung, dass sich die beiden Sphären überschneiden und mit Konzepten, Symbolen und Mitgliedern versorgen.

Was wir von Hanau lernen sollten

Dass  Incel- und andere extrem frauenfeindliche Überzeugungen und Gruppierungen zunehmend als potenzielle Bedrohung wahrgenommen werden, ist insgesamt eine positive Entwicklung. Jedoch bleibt die bisherige Berichterstattung aus zwei Gründen problematisch: sie stärkt potentiell die Überzeugung von Incels und ähnlichen Gruppierungen als Opfer oder als Sündenbock dargestellt zu werden und sie erleichtert die Verschleierung der breiteren gesellschaftlichen Frauenfeindlichkeit, die die Grundlage für solche Attentate legt.

Ein großer Teil der Incel-Identität basiert auf der eigenen Opferrolle, insbesondere auf der Idee, von anderen „nicht verstanden“ oder „gesehen“ zu werden. Als Belege hierfür teilen Incels häufig Fälle in denen sie sich durch die Gesellschaft im Allgemeinen und Frauen im Besonderen benachteiligt und unbegründet beschuldigt sehen. Von der Gesellschaft nun fälschlicherweise für Attentate wie das in Hanau mit zur Verantwortung gezogen zu werden – und gleichzeitig für ihre merkwürdigen Überzeugungen verspottet zu werden – wirkt in dem Zusammenhang eher als Verstärkung dieses Weltbildes. Wenn jemand wie der Hanau-Schütze aus Incel-Perspektive grundlos als einer von ihnen bezeichnet wird, nehmen Incels dies als weiteren Beweis dafür, dass ihre Gemeinschaft tatsächlich am äußersten Rande einer wahrgenommenen gesellschaftlichen und sexuellen Hierarchie steht und daher für alle Übel verantwortlich gemacht wird. Dadurch isolieren sie sich unter Umständen also eher weiter von der Gesellschaft als die eigenen Überzeugungen zu hinterfragen. Tatsächlich haben sich nach dem Angriff von Toronto die Abonnentenzahlen von Incel-Boards auf Plattformen wie Reddit fast verdoppelt, und neuere Studien haben eine Migration zu extremeren und zunehmend gewalttätigen Foren festgestellt.

Auf der anderen Seite neigen die Medien dazu, Incels gleichzeitig als exotisch und „seltsam“ sowie als potentiell gefährlich zu bezeichnen. Hierdurch wird verschleiert, dass Frauenfeindlichkeit und ein Anspruch auf männliche Vorherrschaft ihren Ursprung nicht in solch “merkwürdigen” Randgruppierungen wie den Incels haben – und daher auch nicht nur in solch obskuren Ecken des Internets zu finden sind. Problematisch ist auch die häufige Betonung der psychischen Erkrankungen der Angreifer nach terroristischen Angriffen durch weiße, männliche Rassisten.

Terrorismusforscher*innen haben bereits früh darauf hingewiesen, dass man von psychische Erkrankungen nicht auf die Gewalttätigkeit einer Person schließen kann. Die Hervorhebung des psychischen Zustands der Angreifer ist aber auch insofern fragwürdig, als sie sowohl eine zu starken Fokus auf den Angreifer statt auf die Opfer legt und gleichzeitig die Gefahr besteht, Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen weiter zu marginalisieren.

Frauenfeindlichkeit – wie auch Rassismus – waren und sind Teil unserer Gesellschaften. Frauenfeindliche motivierter Terrorismus, Vergewaltigung und gemeldete Fälle von Gewalt in der Partnerschaft sind dabei nur die Spitze eines Eisbergs, der sich auf hartnäckig in unserer Gesellschaft verwurzelte Vorstellungen männlicher Ansprüche auf weibliche Körper zurückführen lässt. Die Ausprägungen dieser Vorstellungen zeigen sich auch in Fällen sexueller Belästigung, geschlechtsspezifischen Lohnunterschieden und Alltagspraktiken, die die Kindererziehung, unbezahlte Pflegearbeit und Hausarbeit immer noch im Verantwortungsbereich von Frauen verorten.

Angesichts dieser hartnäckigen – und noch immer weitgehend normalisierten Strukturen überrascht es wenig, dass selbst bei der vorbildlichen Thematisierung frauenfeindlicher Aspekte beim Attentat von Hanau eine Tendenz in den Medien und in der Gesellschaft im weiteren Sinne gab, eine bestimmte (und eher marginale) Gruppe von Menschen als „Tätergruppe“ zu kategorisieren, anstatt sich mit den solchen Gruppen und Attentaten zugrundeliegenden Strukturen zu beschäftigen.

Aber eine solche, allzu vereinfachende Darstellung ist weder hilfreich, um künftige Angriffe derjenigen zu verhindern, die sich als Incels identifizieren, noch kann sie ein tieferes Verständnis der gesellschaftlichen Dynamiken und Themen etablieren, auf denen der Erfolg extremistischer Gruppen aller Couleur beruht. Dies sind Aspekte, über die unsere Gesellschaften im Laufe der letzten Jahrzehnte erst zu sprechen angefangen hat- und es sind Aspekte, die auch bei Attentaten wie dem in Hanau im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen sollten. Nur dann kommen wir einer Antwort auf die Frage näher, warum es manchen jungen Männern so intuitiv erscheint, Rassismus und Frauenfeindlichkeit zu einer Weltanschauung zu verbinden, die ihrer Ansicht nach, gewalttätigen Aktivismus erfordert.‘

Megan Kelly, Ann-Kathrin Rothermel (Universität Potsdam) und Greta Jasser (Leuphana Universität Lüneburg) sind Fellows am Institute for Research on Male Supremacism (IRMS).

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