Peter Feike hat die Schnauze voll. Die Hand klatscht auf den Tisch, er schüttelt resigniert den Kopf. Der Bürgermeister von Oberuckersee, einer Gemeinde in der brandenburgischen Uckermark, ist sauer. Seit Jahren engagiert er sich ehrenamtlich für die Jugendarbeit – in einer Gemeinde, die weder ihn noch Sozialarbeiter bezahlen kann. Die Rede ist von Potzlow, dem Dorf, das vor sechs Jahren deutsche und internationale Schlagzeilen füllte, nachdem rechtsradikale Jugendliche einen 16-Jährigen töteten.
Auf den ersten Blick ist Potzlow einfach ein Dorf in der Uckermark in Bandenburg, das von der Landwirtschaft und von den Touristen lebt, die dort mit dem Fahrrad durchradeln. Idyllisch und ein bisschen trist. In der Luft liegt der Geruch von Wiesen. Zäune, Gärten und leere Straßen bestimmen das Bild, Traktoren den Verkehr. Potzlower eher älteren Jahrgangs hegen und pflegen ihre Hecken und Beete. Durch den Wald schimmert der Oberuckersee, der Potzlow die Touristen beschert.
Die Täter, die Marinus Schöberl 2002 ermordeten, waren rechtsradikale Jugendliche. Nachdem die Leiche in einer Jauchegrube gefunden wurde, begann der Medienrummel. Vom einst schönsten Dorf in Deutschland zum „Faschodorf“ – plötzlich stand ein ganzer Ort unter öffentlicher Anklage. Doch anstatt Probleme anzugehen, verschlossen die Potzlower ihre Türen. Keine Reflektion, keine Diskussion. Rund 500 Einwohner, 100 Kilometer entfernt von Berlin, Infrastruktur und sozialer Vielfalt. Hier hofft keiner mehr auf Verbesserung. Sechs Jahre nach dem Mord ist Potzlow immer noch das gleiche Dorf. Nur haben sie jetzt einen Gedenkstein.
Schaut man sich die Fassaden genauer an, kratzt sich durch die Idylle bis zur Tristesse dieses Ortes, stößt man auf einen Schwelbrand, der unter der Oberfläche schwillt. Nicht sofort sichtbar, doch flächendeckend um sich greifend. Gespeist aus Arbeitslosigkeit, kollektivem Alkoholkonsum, Perspektivlosigkeit und Verrohung. Die Ursachen liegen verstreut herum, ergeben zusammengesetzt einen Haufen sozialer und wirtschaftlicher Probleme einer Gemeinde, die stellvertretend für eine ganze Region eine Geschichte aus Fremdenfeindlichkeit und sozialer Entwertung erzählt. Gerade deswegen verblüfft die unveränderte Situation in Potzlow, die man dort vorfindet. Wie ein Zug, der ohne Notbremse auf eine Mauer zu rast. Es werden zwar ein paar Steine in den Weg gelegt, hier eine Initiative, dort eine Aktion. Aber das Grundproblem bleibt.
„Erwachsene schon nicht zufrieden“
„Nach 20 Jahren BRD und zehn Jahren ‚Initiative Tolerantes Brandenburg‘ hätte ich eine andere Heransgehensweise und eine schnellere Entschlossenheit erwartet“, sagt Jürgen Lorenz, Mitglied im Mobilen Beratungsteam Brandenburg, zu der Zeit nach dem Mord. ?Die Leute in Potzlow waren wie gelähmt. Dazu kam die Medienkarawane, die durch das Dorf gestiefelt ist. Die Leute haben sich zugedeckelt und eingegraben, dann kamen wir und wollten das aufbrechen“, so der Berater. Sie hatten viel vor in Potzlow, auf dem Programm standen Reflektion, Prävention und eine psychologische Begleitung für die Familien der Opfer und Täter. Gefruchtet hat nichts, die Hilfe wurde nicht angenommen. „Anfänglich gab es Zusagen und die Bereitschaft, sich intensiver mit dem Thema auseinander zu setzen. Wir haben auf eine langfristige Arbeit, eine Zielsetzung für die nächsten Jahre gehofft – leider ohne Erfolg.“
Das Problem ist nicht nur, dass die Leute keine Hilfe wollen. Auch die mangelnden Möglichkeiten, verkrustete Tabustrukturen aufzubrechen, lassen den Frust weiter gedeihen. Petra Freberg, Sozialarbeiterin in Potzlow seit elf Jahren, wundert die Lethargie gar nicht mehr: „Hier ist der erwachsene Mensch ja schon nicht zufrieden. Wie sollen dann die Jugendlichen, die hier bleiben, enthusiastisch in ihre Zukunft blicken?“ Natürlich gibt es auch eine gute Mittelschicht in Potzlow und Umgebung, die den Tag nicht mit Bierflasche und Frusttiraden auf Westdeutschland, Ausländer und die Regierung verbringen. Und natürlich sind nicht alle Ostdeutsche fremdenfeindlich. Auch in den alten Bundesländern gibt es Arbeitslosigkeit und Intoleranz. Aber? Petra Freiberg spitzt es zu:
„Seit den 60er Jahren ist die Uckermark ausgeblutet an Intelligenz. Es kommt aber auch nichts von außen rein, alle Innovationen gehen wieder weg. Der Grund: Die Leute haben hier keine Möglichkeiten. Zum einen rennt man hier gegen Betonköpfe, zum anderen gibt es keine unterstützenden Maßnahmen von der Regierung. Wir sind die vergessenen Kinder.“ Und diese vergessenen Kinder bekommen Nachwuchs, der leider meistens den gleichen ausgetretenen Pfad beschreitet. „Wenn die keine Alternative finden, welcher Frust setzt sich denn in den Familien fort?“, fragt Freiberg und thematisiert das Entwertungsproblem. „Die haben ein Gefühl der Machtlosigkeit und dass sie ihre Situation sowieso nicht ändern können“. Es ist wie ein Kreislauf, eine Frustspirale.
„Die Lebensumstände, auch im Kinder- und Jugendbereich, sind identisch geblieben wie zu Zeiten des Mordes an Marinus Schöberl. Und es ist ja was getan worden. Es gab Versuche, interessante Alternativen für junge Männer zu etablieren. Aber es hat letztendlich nicht die erreicht, um die es immer ging“, sagt Lorenz. Die Folge: Probleme wie der kollektive Alkoholkonsum sind nach wie vor an der Tagesordnung. Arbeitslose Erwachsene und Jugendliche treffen sich zum gemeinsamen Besäufnis. „Die schmoren wieder in ihrem eigenem Saft. Und niemand ist da und rüttelt die wach und sagt: ‚Leute, wir müssen nach vorne, wir müssen gucken, dass wir was tun können.‘ Man nimmt denen immer wieder alles“, so Freiberg. „Es ist ja nicht nur die Jugendarbeit, sondern man muss auch mit den Eltern arbeiten. Aber die Angebote wurden ja nicht angenommen“, sagt Lorenz.
Inzwischen gibt es keine Angebote mehr. Den Kommunen fehlt das Geld, die dafür notwendigen Stellen zu bezahlen und Initiativen zu finanzieren. Das Jugendhaus Strehlow finanziert sich selbst, über einen Privatinvestor und die integrierte Gaststätte. Es ist eine wertvolle Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche. ?Aber wir haben hier kaum noch Jugendliche?, sagt Peter Feike. ?Die hauen doch alle ab, zumindest die, die was auf dem Kasten haben. Was sollen die auch hier? Gibt ja nix.? Der Rest bleibt da und braucht Hilfe auf dem Weg aus der Perspektivlosigkeit, die ihm das Haus geben kann. Inzwischen heißt es „Kindervereinigung e.V.“.
Peter Feike arbeitet ehrenamtlich – wie zahlreiche andere Menschen in Schlüsselpositionen in der Gegend. Auch Sozialarbeiterin Petra Freiberg kümmert sich ehrenamtlich um die Kinder und Jugendlichen. Ihre Kollegen: ehrenamtlich oder Ein-Euro-Jobber, nicht ausgebildet für den Beruf Jugendbetreuer. Die lokalen Bürgermeister in den Ortschaften: ehrenamtlich. Ebenso die Feuerwehr und der Sportverein.
„Früher ging es ja noch, aber die ganze Förderstruktur ist inzwischen weggebrochen. Alles ehrenamtlich, das kann doch nicht gut gehen“, sagt Feike. „Man muss sich nicht wundern, wenn sie interessenlos werden und abhauen“, schimpft der Bürgermeister weiter. „Wir haben einfach ein Defizit an Jugendarbeit, vor allem wenn es darum geht, mit rechtsextremen jungen Männern zu arbeiten“, weiß auch Lorenz. Nach dem Mord an Marinus Schöberl war er ein Jahr lang in Potzlow beratend vor Ort. Auch heute steht er noch in engem Kontakt mit Petra Freiberg. Die ehrenamtlichen Bemühungen überall machen ihn wütend: „Wir brauchen professionelle Sozialarbeiter, die gut bezahlt werden. Prekäre Arbeitsverhältnisse machen es nicht besser. Aber selbst Weiterbildungen für nicht ausreichend qualifizierte Leute vor Ort sind nicht durchsetzbar.“
„Das sind doch unsere Jungs“ – Solidarisieren mit Rechtsextremen
Ein sehr wackliges Kartenhaus also, aus dem die Jugend-, Sozial- und Gemeindearbeit gestrickt ist. Petra Freiberg hat ihre Karten bald alle gespielt ? sie schreibt inzwischen Bewerbungen. Nach elf Jahren Jugendarbeit in Potzlow und Strehlow will sie nicht mehr. ?Mir fällt es nicht leicht zu gehen. Gerade jetzt, wo ich sehe, dass ich doch geschätzt werde im Dorf, dass da viele traurig sind, dass ich gehe. Aber ich muss auch an mich denken. Macht ja sonst keiner.? Petra Freiberg hat viel erlebt in dem kleinen Dorf. Und gelernt. ?Die Sachen, die ich damals gesagt habe, nach Marinus Tod, die würde ich auch heute wieder sagen. Die kann ich nicht zurücknehmen. Aber heute würde ich anders auf die Dorfgemeinde zugehen, nicht so forsch, nicht so direkt.? Freiberg hatte die Gemeinde zu Veränderungen aufgefordert und sie mit Alkohol- und Jugendproblemen konfrontiert. Sie hoffte auf einen Neuanfang.
Nach dem Mord an Marinus Schöberl hat sich die Gemeinde abgeschottet gegen jede Kritik, Petra Freiberg galt als Netzbeschmutzerin. „Das Problem sind die Eltern. Jeder schützt seine Tür und wenn du was über die Kinder sagst, bist du gleich sonstwas“, sagt Freiberg. Wer mit dem Finger auf die Gemeinde zeigt, wird ausgeschlossen. Da wird sich lieber solidarisiert mit allen, auch den Tätern, als sich in Frage stellen zu lassen. Noch dazu von einem Außenstehenden.
?Entgegen der Erkenntnis, dass man es längst mit Akteuren eines überregional agierenden politischen Netzwerkes zu tun hat, sieht man Neo-Nazis lediglich im Kontext der jeweiligen Gemeinde und spricht selbst bei gefährlichen und bereits delinquenten Gewalttätern noch von “den Jungs“, die man ja habe aufwachsen sehen und auf die man glaubt, durch Gespräche einwirken zu können, schreibt Werner Treß in seiner Publikation „Strategie und Taktik der NPD in Brandenburg vor den Kommunalwahlen 2008. Eine Analyse“. Und weiter: „Solange vor allem kommunale Verantwortungsträger die Gefahr der aggressiven neo-nazistischen Agitationspraxis nicht ernst nehmen, steht zu befürchten, dass die in den neuen Bundesländern ohnehin mitgliederschwachen demokratischen Parteien ihre kommunale Verankerung und damit den unmittelbaren Kontakt zur Bevölkerung weiter einbüßen werden“.
Auch das Mobile Beratungssystem hat diese Erfahrung gemacht: ?Wir können nicht einfach diagnostizieren dort ist ein braunes Nest, da muss jetzt mal der Blitz einschlagen. Weil dann der Effekt erzielt wird, dass die Leute sich sofort wie in einer Wagenburg zusammenscharen und genau das Gegenteil erreicht wird. Die solidarisieren sich dann eher mit Rechtsextremen?, erzählt Dirk Wilking, der Leiter des Brandenburgischen Instituts für Gemeinwesenberatung, zu dem auch das Mobile Beratungssystem gehört.
Entwertung, Lethargie, Perspektivlosigkeit – ein Nährboden für Fremdenfeindlichkeit? Dr. Michael Kohlstruck setzt sich intensiv mit dem Problem rechte Jugendliche im Osten auseinander. Er ist der Leiter der 1999 eingerichteten Arbeitsstelle für Jugendgewalt und Rechtsextremismus des Zentrums für Antisemitismusforschung (ZfA) an der TU-Berlin.
Kohlstruck differenziert zwei Aspekte im braunen Jugendsumpf: „Es gibt zwei verschiedene Kerngruppen. Die einen sind ideologie- und politikgeleitet. Die schlagen, weil sie ihr Opfer wirklich als politischen Gegner betrachten. Und die anderen schlagen, weil sie keine andere Sprache finden. Die treffen sich dann in der Mitte, in diesen ideologischen Fragmenten, die von der NPD oder von anderen Rechtsextremen ausgehen. Und damit wird dann sich selbst erklärt, warum man nun diesen Personenkreis verachtet, warum er nichts taugt und man drauf schlagen darf.“
Es ist eine Mischung aus Aggressivität, Geltungsdrang und dem Versuch, sich über Härte und körperliche Gewalt Achtung zu verschaffen. Zu dieser Härte gehört auch der Alkoholkonsum. Zeigen, wie viel man verträgt und was man alles aushält. Viele Jugendliche in Potzlow und den umliegenden Orten sind schon als Kind das erste Mal betrunken. Rechte Ideologie und Frustation rechtfertigen die Gewalt.
„Was will denn die Bulette hier?“
Es geht gar nicht mehr nur um Ausländer als Feindbild. Feind ist jeder, der die Hegemonie der Gruppe stört: Anders aussehend, anders denkend, zugezogen. ?Die sind doch sogar schon Berlinextrem?, sagt Petra Freiberg über die Offenheit der Potzlower. ?Was will denn die Bulette hier??, heißt es dann. Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns. Da wird sich aus der rechten Ideologie bedient, um Gewalt zu rechtfertigen. Marcel Schönfeld, Haupttäter im Potzlow-Mord erklärt seine Definition von rechts: ?Rechts sein, das ist nicht kloppen, das ist nur zu einer Gruppe dazugehören, die zusammenhält. Wenn einer was vor den Kopp kriegt, wird dem beigestanden.?
Peter Feike sieht keine rechte Szene in Potzlow. „Wir hatten sie mal, vor zehn Jahren und weniger, zum Zeitpunkt des Mordes von Marinus auch.“ Sicher, es gibt keine organisierte NPD, die öffentlich auf sich aufmerksam macht mit Parteiveranstaltungen und Ständen auf dem Marktplatz. „Aber das ist eben auch ein verkürztes Verständnis von Rechtsextremismus. Zu der rechten Szene in den ländlichen Regionen Brandenburgs gehören die beiden Komponenten: Die einen, die schlagen und die anderen, bei denen das politische und das ideologische das Primäre ist. Das kann man nicht auseinander dividieren“, sagt Dr. Kohlstruck.
„Wir haben keine rechte Szene“
Wie kommt es, dass solch ein erschütternder Vorfall wie der Mord an Marinus das Dorf nicht wachrüttelt und in Aktion versetzt? Dirk Wilking, hat Antworten, die tiefer gehen als allgemeine Schuldzuweisungen und Klischees über den dummen Osten. ?Vor dem Mord in Potzlow hat niemand dem Dorf den Spiegel vorgehalten und den Menschen gezeigt, wie sie sind. Diese Position können nur Menschen einnehmen, die vom Dorf auch Ernst genommen werden. Früher waren das mal Pfarrer, oder Lehrer und Ärzte. Menschen, die in Bezugssystemen sind, die weit über das Dorf hinausgehen. Diese traditionellen Korrektive gibt es heute einfach nicht mehr. Lehrer sind verschwunden, weil die Schulen in die größeren Städte zentriert wurden. Und dann entfällt in diesen Regionen häufig, wie in Potzlow auch, die Politik.?
Die Landesregierung Brandenburg fördert nur noch die ?Leuchttürme? der wirtschaftlichen und städtischen Entwicklung der Region. Aus Bildung und sozialer wie wirtschaftlicher Entwicklung hat sie sich überwiegend heraus gezogen. Viele Dörfer leben vom Tourismus, da kann man kein schlechtes Image durch rechte Gewalt gebrauchen. Wenn bekannt wird, dass sich in einer Schule Gewaltdelikte und offen zur Schau getragener Rechtsextremismus mit entsprechenden Übergriffen häufen, läuft sie Gefahr, geschlossen zu werden. Das verführt Eltern, Lehrer und Schulleiter nicht unbedingt dazu, Vorfälle mit rechtsextremem Hintergrund an die große Glocke zu hängen.
Potzlow hat auch immer noch die gleichen Probleme wie vor sechs Jahren. Der Tourismus hilft, wie der Radweg nach Usedom. „Wir haben wenigstens ein paar Hotels und Gaststätten in der Umgebung. Aber in der tiefsten Uckermark, an der Grenze zu Polen, da ist doch der Hund begraben. Wir können auch froh sein, dass wir den Oberuckersee haben. Aber wir könnten noch mehr aus uns machen“, so Feike. Was schwer ist, wenn noch nicht einmal Geld für neue Spielplätze bewilligt wird.
„Der Nährboden für rechtes Gedankengut war schon früher da und wir müssen gucken, dass wir den wegarbeiten mit den Eltern, Kindern und Jugendlichen. Wir haben schon viel geschafft, doch stehen wir immer noch am Anfang?, sagt Petra Freiberg. „Nun müssen wir gucken, wie es weitergeht. Und beobachten, was diese Ruhe bedeutet was rechte Übergriffe angeht. Und lasst uns hoffen, dass wir uns nicht in der Ruhe vor dem nächsten Sturm befinden.“
Dieser Artikel erschien am 12. September 2008 im Tagesspiegel. Wir bedanken uns für die freundliche Unterstützung.