Der Junge aus dem Ghetto wächst nach dem Krieg in Israel auf. Er wird Vater einer Tochter: Tsipi Lev heißt sie. Die große blonde Frau sitzt in ihrem Wohnzimmer in Laucha und ringt um Fassung. Das Überfallopfer vom 16. April ist ihr Sohn. Seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen.
Für Tsipi Lev gibt es seit dem 16. April eine direkte Linie vom Warschauer Ghetto zur Bushaltestelle am Lauchaer Bahnhof, wo ihr Sohn überfallen wurde. Vor acht Jahren kam die Choreografin mit ihm und dem älteren Bruder nach Deutschland. Ein Projekt in Berlin wartete, vom Vater der Jungs hatte sie sich getrennt. Sie zog zu ihrer neuen Liebe nach Laucha. „Nie hätten wir gedacht, dass uns hier etwas passieren kann“, sagt sie.
Juden in Laucha – „wir sind die Paradiesvögel“, sagt Tsipi Lev. Anfangs seien sie beargwöhnt worden, doch schnell fanden sie Freunde. Tsipi Lev fühlt sich „gut integriert, mein Lebensgefährte hat dabei sehr geholfen“. Olaf Osteroth lebt seit 1990 in Laucha. Er half mit, den Flugplatz der alten Segelfliegerstadt wieder auf Vordermann zu bringen und am Gymnasium Segelflug-Unterricht zu etablieren. Heute hat er eine Firma für Ballontouren. Tsipi Lev kreiert Modeschmuck und engagiert sich für den Schüleraustausch des Gymnasiums mit Israel. Sie hält Kontakt zu Tanz- und Showgruppen aus ihrer Heimat, die in der Region regelmäßig auf Festen auftreten.
Das ist die bunte Seite von Laucha, die fröhliche, die internationale. Es gibt auch eine braune Seite: Mit 13,5 Prozent holte die rechtsextreme NPD bei der Kommunalwahl im vorigen Jahr das höchste Ergebnis in Sachsen-Anhalt. Mit zwei Abgeordneten zog sie in den Stadtrat ein. Einer davon ist Lutz Battke, jener parteilose, aber rechtsextreme Schornsteinfeger, der sich vor Gericht bisher erfolgreich gegen den Entzug seiner Kehrerlaubnis durch das Land wehrte. Battke trainiert auch den Nachwuchs im Fußballclub BSC 99 Laucha – von seiner rechten Einstellung wollen viele im Ort lieber nicht so genau etwas wissen. Tsipi Levs älterer Sohn kickte ein paar Jahre im Verein. Sein jüngerer Bruder wollte auch dort anfangen. „Als wir gemerkt haben, dass Battke der Trainer ist, haben wir ihn sofort wieder rausgenommen“, erinnert sich seine Mutter.
Im Kader der ersten Mannschaft des BSC 99 steht auch Alexander P. – der 20-Jährige, der am 16. April den jüngeren Sohn von Tsipi Lev überfallen haben soll.
Es ist gegen 18 Uhr, als der 17-Jährige mit dem Zug aus dem nahen Naumburg in Laucha ankommt. An der Bushaltestelle unweit des Bahnhofs entdeckt er einige Schulfreunde. Sie reden. Plötzlich, erinnert er sich, sei der Angreifer auf ihn zugerannt und habe ihn mit der Faust unters Auge geschlagen. „Ich habe mir die Hand vors Gesicht gehalten, aber er schlug immer weiter und beschimpfte mich als ,Judenschwein‘.“ Schließlich kann der Schüler flüchten, aber er kommt nicht weit: Sein Peiniger stößt ihn zu Boden, traktiert ihn mit Tritten. Zeugen versuchen vergeblich, den Schläger zurückzuhalten. Erst Mario Träbert bereitet dem Spuk ein Ende. Der 28-Jährige fährt zufällig mit dem Auto vorbei: „Ich habe sofort gesehen, dass das kein Spaß mehr ist.“ Er brüllt den Schläger an, der solle aufhören. „Der war so verdutzt, dass er von seinem Opfer kurz abgelassen hat.“ Der 17-Jährige kann zu Träbert ins Auto steigen, der bringt ihn in Sicherheit.
Der junge Israeli erstattet Anzeige. Die Polizei ermittelt gegen P. wegen gefährlicher Körperverletzung und politisch motivierter Beleidigung. In Laucha gilt der 20-Jährige als bekannter Rechter. Schon zweimal fiel er laut Polizei auf wegen Propagandadelikten, die Verfahren wurden aber eingestellt.
Die Freunde von Tsipi Lev und Olaf Osteroth in Israel wissen noch nichts von dem Überfall. „Sie würden uns raten, sofort die Koffer zu packen“, sagt Lev. Schon als sie beschlossen hatte, mit ihren beiden Söhnen nach Deutschland zu gehen, war die Familie ihres Ex-Mannes skeptisch: Ihr geht nach Nazi-Land, hieß es. Und nicht nur das: Der Vater ihres Ex-Mannes war einer der Trainer der israelischen Olympia-Mannschaft 1972 in München, er kam bei der gescheiterten Geiselbefreiung ums Leben. „Aus Sicht seiner Familie war das ein Versagen der deutschen Behörden“, sagt Osteroth.
Nach dem Überfall hat Tsipi Lev zuerst gedacht: „Wir müssen hier weg.“ Sie schlief schlecht. Sie hatte Angst. Nicht um sich, aber um ihren Sohn. Sie hat immer noch Angst. Der 17-Jährige dagegen sagt, für ihn sei alles wie vorher. Vielleicht ist noch nicht wirklich angekommen, was passiert ist. Für seine Mutter steht mittlerweile fest: „Wir werden bleiben.“ Jetzt erst recht. Nach dem, was Nazi-Deutschland den Juden angetan habe, könne es doch nicht sein, dass sich die dritte jüdische Generation in diesem Land nicht frei auf der Straße bewegen könne, sagt Tsipi Lev. Sie erzählt von ihrem Vater, der 1998 mit 69 Jahren starb: „Er hat mich gelehrt, nicht zu hassen und nicht Rache zu üben. Und aufzupassen, dass so etwas nie wieder passiert.“ Es ist sein Vermächtnis.
Dieser Artikel erschien zuerst am 18.05.2010 in der Mitteldeutschen Zeitung. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.