Ein Debattenbeitrag von Christian Petry.
Ein schlechtes Gewissen ist nach der Silvesternacht 2015/2016 in Köln entstanden. Selbstkritisch haben sich danach die Medien gefragt, ob sie nicht vorher vielleicht doch zu einseitig, zu gut, zu blauäugig, zu naiv über Flucht, Migration und Willkommenskultur berichtet hatten. Es gab Vorwürfe und Selbstvorwürfe: die Probleme der Integration seien nicht deutlich genug geschildert, berechtigte Sorgen der Bevölkerung zu wenig zu Wort gekommen. Ja, der Selbstzweifel ging so weit, dass gelegentlich die Frage zu lesen und zu hören war, ob nicht etwas Wahres an dem Protest-Ruf „Lügenpresse“ gewesen sei. Jedenfalls wurde danach häufig und mahnend an das Mantra journalistischer Objektivität und Ausgewogenheit erinnert, das Hajo Friedrichs, der frühere Moderator der Tagesthemen kurz vor seinem Tod formuliert hatte: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten; dass er überall dabei ist, aber nirgendwo dazugehört.“
Ich bin nicht sicher, ob Friedrichs selbst imstande und willens gewesen wäre, sein Engagement an die Kette seiner Leitlinie zu fesseln, wenn es um Themen ging, die ihm sehr nahe gingen – wie das der ökologischen Gefährdung unserer Welt. Und ich bin gar nicht sicher, ob es angesichts der Gefährdung demokratischer Kultur richtig ist, den Blick so ruckartig zu verändern, wie das in der vergangenen zwei Jahren geschehen ist.
Schon die Objektivität verlangt einen aufmerksamen Blick zurück in die Wirklichkeit dessen, was einmal stolz und positiv, jetzt aber eher skeptisch Willkommenskultur genannt wurde.
Die vernachlässigten Fakten: Professor Werner Schiffauer hat an der Spitze einer Arbeitsgruppe des Rats für Migration 2017 unter dem Titel „So schaffen wir das- eine Zivilgesellschaft im Aufbruch“ insgesamt 90 „wegweisende Projekte“ an vielen Orten in Deutschland analysiert. Im kommenden Jahr werden er und diese wissenschaftliche Arbeitsgruppe in einem zweiten Band die Haltungen und die Strategien der Kommunen beschreiben, in denen diese Projekte bemerkenswert erfolgreich sein konnten und können. Getragen werden sie von freiwilligen und ehrenamtlich arbeitenden zivilgesellschaftlichen lokalen Initiativen und Organisationen. Oft wird in der auf die Diskussionen der nationalen Ebene fokussierten Öffentlichkeit nicht ausreichend beachtet, was sich auf der lokalen Ebene tut. Das Interessante ist nämlich, dass es sich hier um den Kern von stabilen, multikulturell offenen, kosmopolitisch orientierten, liberal und demokratisch eingestellten und auch furchtlosen Lebenswelten handelt, die zusammengenommen einen beachtlichen Teil der Bevölkerung bilden. Dort ist die Stimmung 2016 nicht gekippt. Dort haben die Berichte von der Platte in Köln das Bild von den Aufgaben, den Möglichkeiten und den zu bearbeitenden Problemen der Integration nicht zerstört und die Motivation sich auf diese einzulassen nicht verkleinert.
Wenn man es hochrechnet, wie viele Menschen sich von ihren Einstellungen her um den Kern des fantasievollen und beharrlichen ehrenamtlichen Engagements gruppieren lassen, so kommt man auf rund ein Drittel der Bevölkerung. Es gibt hier ein großes Potential für eine neue Bürgerbewegung, wenn es gelingen würde, die oft isolierten lokalen Initiativen zu einem Netzwerk zusammen zu führen. Es wäre schön, wenn die Medien ihre Aufmerksamkeit auf die Lebenswelten, ihre Stäken und Entwicklungen in diesem Drittel richten würden, und z.B berichteten, wie anders, wie friedlich, wie respektvoll Silvesterbegegnungen in vielen Orten verlaufen.
Aber die Medien sind ja Gott sei Dank nicht mehr die Gate Keeper der Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter. Die Zivilgesellschaft selbst könnte ein Gegenbild entwerfen, wenn sie den politischen Nutzen sieht, die Wege dorthin bahnt und selbst geht.
Das wäre mein Wunsch für 2018. Vielleicht wäre das ein guter Anfang zu berichten, wie anders als in den meisten Medien zu finden das alte Jahr bei ihnen geendet und das neue Jahr begonnen hat: um ein Gegenbild zu erzeugen, das nicht ängstigt, sondern ermutigt.
Zum Autor: Christian Petry ist Sozialwissenschaftler und Mitglied des Stiftungsrats der Amadeu Antonio Stiftung.