Ein überraschtes Schulterzucken, spitzes Grinsen und betretenes Schauen auf die eigenen Schuhe – größere Reaktionen lässt sich Björn Höcke nicht entlocken, als während des Süddeutschland-Treffens der AfD-internen Parteiströmung „Der Flügel“ die Nationalhymne angespielt wird und der Saal die verpönte erste Strophe des „Lieds der Deutschen“ anstimmt. „Deutschland, Deutschland über alles“ singt er nicht mit, im Gegensatz zu anderen Führungsfiguren des national-konservativen „Flügels“, die am 4. Mai neben ihm auf der Bühne im fränkischen Greding stehen. Darunter sind MdB Hansjörg Müller und der AfD-Kandidat zur Europawahl, Bernhard Zimniok. Höcke selbst ist zu sehr Politprofi: er weiß, dass ein solcher Vorgang von zu vielen Handykameras mitgeschnitten wird, um nicht für den Skandal zu sorgen, der dann auch prompt folgte.
Um allzu unliebsame Kameras vom Treffen der AfD-Rechtsaußen fernzuhalten, wurde rund um den Veranstaltungsort ebenfalls Personal aus der zweiten Reihe des „Flügels“ aktiv. Lautstark schüchterte etwa Dubravko Mandic aus Freiburg anwesende Journalisten ein. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen entriss er einer Pressevertreterin das Handy und handelte sich damit eine Anzeige ein. Mandic, praktizierender Rechtsanwalt, war Mitglied im Bundesvorstand der vom Verfassungsschutz beobachteten „Patriotischen Plattform“ und ist einer der wichtigsten Vertreter des „Flügels“ in Baden-Württemberg. Im Nachgang der Vorgänge in Greding schließlich wurden aus Mandics Anwaltskanzlei Abmahnungen an Personen verschickt, die Videoaufnahmen seines Auftritts beim „Flügel“-Treffen verbreitet hatten.
Ebenfalls an den Einschüchterungsversuchen beteiligt waren Rüdiger Irmgart, Vorsitzender des AfD-Kreisverbandes Weilheim, der durch den bayerischen Landtag in den Rang eines ehrenamtlichen Mitglieds des Bayerischen Verfassungsgerichtshof gewählt wurde, und Erhard Brucker aus Regensburg, Aktivist bei “Pax Europa” und Redner bei Pegida München.
Zurück zur Nationalhymne: Björn Höcke selbst äußerte sich bereits am folgenden Tag zu dem Vorfall, nannte ihn einen „Fauxpas“, betonte aber gleichzeitig, entgegen landläufiger Meinung sei das Absingen aller drei Strophen der Nationalhymne nicht verboten. Höckes mittlerweile routinierter Umgang mit dem Presseecho ist Teil einer beliebten Diskursstrategie der AfD: skandalträchtigen Aussagen oder Handlungen folgt (wenn auch oft halbherziges) Zurückrudern. Übrig bleibt allerdings ein doppelter Diskurseffekt: zum einen wird der Bereich des Sagbaren erweitert: Menschenverachtende Aussagen rufen zwar Empörung hervor – wenn sie allerdings keine weiteren Konsequenzen für die AfD-Politiker*innen nach sich ziehen, scheint ihr Inhalt irgendwie doch akzeptabel zu sein. Gleichzeitig signalisiert die AfD jenem Teil des eigenen Klientels, der von mehr oder weniger offenen NS-Bezügen, Rassismen oder anderen menschenverachtenden Inhalten eher angezogen als abgeschreckt wird, dass man sehr wohl auf einer Linie ist. Die Partei müsse sich nur eben an die Spielregeln des demokratischen Diskurses halten und deshalb allzu krasse Aussagen zurücknehmen.
Stichwortgeber dieser Strategie der gezielten Provokation ist der neurechte Verleger Götz Kubitschek, der seinem „alten Freund“ Björn Höcke auch in der causa „Lied der Deutschen“ prompt beispringt. So wittert Kubitschek in einer Wortmeldung auf dem Blog der von ihm verantworteten Zeitschrift “Sezession” gar einen agent provocateur innerhalb der Partei, der den rechtsnationalen Kräften in der AfD mit dem Abspielen der ersten Strophe des Deutschlandliedes schaden wollte.
Wie gut eine solche Provokationstaktik aufgehen kann, beweist die vom Thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow losgetretene Debatte über eine mögliche Änderung der Nationalhymne. Der Linken-Politiker hatte sich nach dem Vorfall auf dem Flügel-Treffen in Greding dahingehend geäußert, er singe die dritte Strophe der Hymne zwar mit, bekomme aber dabei die Bilder von Naziaufmärschen im Dritten Reich nicht aus dem Kopf. Viele Ostdeutsche hätten ein indifferentes Verhältnis zur Hymne, deshalb sei es vielleicht angebracht, erneut über Vorstöße aus der Nachwendezeit nachzudenken, die eine neue, gemeinsame Hymne für das wiedervereinigte Deutschland gefordert hatten. Aus allen politischen Richtungen regt sich seitdem Widerspruch, selbst die Kanzlerin lässt ausrichten, sie finde die Nationalhymne „sehr schön“.
Gesetzt wurde das Thema also vom rechten Flügel der AfD – wie bewusst die Provokation erfolgte sei dahingestellt. Das „Deutschland, Deutschland über alles“ aus Greding funktionierte jedoch nicht nur als Kopfnicken in Richtung jener Kreise, in denen die erste Strophe der Hymne durchaus häufiger gesungen wird. Es löste außerdem eine bundesweite Debatte über die Nationalhymne aus, an deren Ende mit Bodo Ramelow plötzlich ein politischer Gegner der AfD in die Defensive gerät. Die AfD schlachtet die Debatte bei Facebook aus und postet: „Hände weg von unserer Nationalhymne, Herr Ramelow! Keiner hasst Deutschland mehr als die Linken. Welch pathologische Ausmaße das inzwischen annimmt, beweist heute Bodo Ramelow, Noch-Ministerpräsident von Thüringen.“
Wer nun aus welchen Gründen auch immer ein besonders positives Verhältnis zum „Lied der Deutschen“ hat, weiß sich jetzt nicht nur einig mit einem Großteil der politischen Öffentlichkeit – vielleicht erinnert man sich auch daran, wer es noch vor Kurzem so ernst mit der Hymne meinte, dass er sie in allen drei Strophen absingen ließ. Ramelows Vorstoß kam so einer Steilvorlage für die AfD gleich, nach ihrem “Fauxpas” die Berichterstattung zu drehen. Schade nur, dass Politiker*innen aller Parteien wie der Großteil der Presselandschaft bereitwillig auf die Umdeutung des Themas anspringen und anscheinend lieber Ramelows Vorschläge zerreißen, als über den eigentlichen Skandal zu sprechen: dass sich bedeutende Funktionäre einer Bundestagspartei durch das Absingen aller Strophen der Nationalhymne bedenkenlos und lachend in die Tradition des Nationalsozialismus stellen.