Ich könnte mir vorstellen, dass manche Leser meiner Beiträge über die Jahre die Selbstbezeichnung als Linken eher für Koketterie halten: Habe ich nicht George Bush und Tony Blair verteidigt, die Neocons gelobt, die EU als Imperium bezeichnet und in dem Zusammenhang dem Imperialismus vom alten Rom bis zum britischen Weltreich eine zivilisierende Mission bescheinigt? Bin ich nicht ein begeisterter Anhänger Adam Smiths und des Kapitalismus konsumistischer Prägung, des Freihandels und dessen, was die Populisten „Globalismus“ nennen? Habe ich nicht – bei aller Kritik – immer wieder Angela Merkel gewählt?Bin ich nicht mit Alexander Gauland fast befreundet? Arbeite ich nicht für Axel Springer? Habe ich nicht die Benennung der Kochstraße nach dem Heiligen Rudi Dutschke kritisiert und immer wieder nachzuweisen versucht, dass sich Linke und Rechte oft näher sind, als ihnen lieb ist?
Der Kategorische Imperativ des linken Bürgers
Doch für mich ist Linkssein keine Positionierung auf einem abgesteckten Kontinuum, bei dem andere bestimmen, was links ist und was nicht. Für mich ist Linkssein eine Haltung. Eine bürgerliche Haltung, um es genauer auszudrücken. Eine Bürgerpflicht, die sich aus bürgerlichen Privilegien ableitet, und die man deshalb bei jenen nicht erwarten darf, die solche Privilegien nicht genießen. Der Bürger Karl Marx nannte es den „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Wer solche Verhältnisse nicht hasst, sondern rechtfertigt, weil sie das Ergebnis von Ordnungen sind, deren Bestand wichtiger ist als das Leiden einzelner Menschen oder Gruppen; oder wer die Knechtschaft, Verlassenheit und Verachtung als Ergebnis einer natürlichen Ordnung der Dinge – zum Beispiel des Geschlechts, der Rasse, der Intelligenz oder des Charakters – erklärt, der ist rechts.
Will sagen, bezogen auf die Schule, und damit mag es vorerst sein Bewenden haben: Schon 1977 sagte unser Hauptseminarleiter, ein im übrigen weder pädagogisch noch didaktisch begabter Mann, anlässlich einer Diskussion über „nature and nurture“, also den Einfluss von Herkunft und Umgebung auf Lernfähigkeit und Schulerfolg der Kinder: „Als Pädagogen haben wir gar keine Alternative als so zu tun, als wären alle Kinder gleich intelligent.“ Will sagen: alle nach Kräften zu fordern und zu fördern. Diese Fiktion, die durchaus die Erkenntnis verträgt, dass es sehr wohl Unterschiede gibt in der Begabung im Fleiß, in der Aufmerksamkeit, im Gedächtnis, in den Interessen und vor allem in dem, was man seit einiger Zeit „Grit“ nennt, der Fähigkeit, die Bedürfnisbefriedigung aufzuschieben, gehört in den Bereich der vielen frommen Lügen, die sich Menschen erzählen, und ohne die es kein menschliches Miteinander gibt: Keine Liebe, keine Ehe, keine Elternschaft, schon gar nicht Pädagogik, die den Namen verdient.
Karl Marx und der Freihandel
Marx, den ich oft genug kritisiere, vor allem weil er als Deutscher den deutschen Hang zu Dogmatismus, Systembastelei und Begriffshuberei teilte, hatte – vermutlich da er in England lebte – oft genug auch hellsichtige Erkenntnisse. Ohnehin bestand ein Großteil seiner Arbeit aus der Kritik an anderen Linken: Proudhon, Bakunin, Lasalle, den utopischen und „deutschen“ Sozialisten usw. usf. So schrieb Marx etwa in seiner Kritik des Gothaer Programms der Sozialdemokratie über den Passus, der die internationalen Aufgaben der Partei beschrieb: „In der Tat steht das internationale Bekenntnis des Programms noch unendlich tief unter dem der Freihandelspartei. Auch sie behauptet, das Ergebnis ihres Strebens sei ‚die internationale Völkerverbrüderung‘. Sie tut aber auch etwas, um den Handel international zu machen, und begnügt sich keineswegs bei dem Bewusstsein – dass alle Völker bei sich zu Haus Handel treiben.“
Bis heute hat sich diese Marx‘sche Erkenntnis bei jenen Linken nicht durchgesetzt, die munter gegen TTIP und andere Freihandelsabkommen demonstrierten (es waren die größten Demonstrationen der deutschen Nachkriegsgeschichte, größer als jene gegen die Notstandsgesetze 1968!) und damit Donald Trump und der AFD in die Hände arbeitet. Das heißt: Linke und Rechte arbeiten Hand in Hand gegen den Handel, der die Völker und Nationen praktisch verbindet. Als Linker freilich (und nicht nur als Anhänger des Kapitalismus) muss man für TTIP, CETA usw. sein und gegen den linken und rechten Protektionismus, den schon Marx kritisierte.
Gegen die dogmatische Linke
Noch einmal: Es geht darum, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Viele Linke haben das vergessen. Sie glauben, es gehe darum, den „Imperialismus“ oder den „Zionismus“ oder den „Kapitalismus“ oder die USA zu bekämpfen, möglichst viele Lebensbereiche unter staatliche Kontrolle zu stellen und die parlamentarische Mehrheit jener Parteien sicherzustellen, die von jener Sozialdemokratie abstammen, die Marx kritisierte, oder schlimmer noch, von jener Verbrecherbande, die sich unter Lenin verschwor, um die Welt ihrem Willen zu unterwerfen.
Warum aber sollte es richtig sein, gegen die Rassendiskriminierung in den USA zu protestieren, den Rassismus in Afrika aber nicht zu geißeln, obwohl er in Ruanda zum Beispiel zu einigen der schlimmsten Völkermorde unserer Zeit geführt hat? Oder die Behandlung von Arabern in der Westbank durch israelische Soldaten zu kritisieren, nicht aber die völlige Entrechtung der Araber im Iran? Wieso ist der blutbesudelte Stalinist Che Guevara noch ein Held der Linken, der friedliche Revolutionär Lech Walesa fast schon vergessen? Warum werden die Massenmorde der „Befreier“ in Algerien, Kenia, Vietnam, Zimbabwe vornehm verschwiegen? Warum wird die Behandlung von Frauen und Schwulen in „Palästina“ wie in der gesamten arabischen Welt sowie auch im christlichen Afrika vornehm beschwiegen? Und so weiter und so fort. Es ist nicht „links“, an der Seite von frauenfeindlichen nationalistischen und religiösen Fanatikern wie der Hamas gegen Israel zu kämpfen. Es ist nicht „links“, die korrupte Einparteienherrschaft der ANC in Südafrika zu dulden. Es ist nicht „links“, Verständnis für Russlands imperiale Absichten aufzubringen. Und so weiter und so fort.
Für den Kapitalismus als emanzipatorische Bewegung
Und es ist auch nicht links, gegen den Kapitalismus zu sein. Im Kommunistischen Manifest schrieben Marx und Engels: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ Und vergessen wir nicht: Der „jetzige Zustand“, das sind „alle Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Nur, wer völlig blind durch die Weltgeschichte geht, kann glauben, die Verhältnisse, in denen Menschen erniedrigt, geknechtet und verlassen sind, würden hauptsächlich durch den Kapitalismus verschuldet. Wir haben in den 200 Jahren seit der Geburt von Karl Marx gelernt, den Kapitalismus für unsere Zwecke in Bewegung zu setzen, seine emanzipatorischen Kräfte für uns zu nutzen und seine zerstörerischen Kräfte zu bändigen. Allein in China hat die Kommunistische Partei mit Hilfe des Kapitalismus mehr Menschen in kürzerer Zeit aus der Armut geholt als je zuvor in der Menschheitsgeschichte.
Die „wirkliche Bewegung, die den jetzigen Zustand aufhebt“, ist eben nicht die traditionelle Linke, mit ihrer Konzentration auf die Gewerkschaften und den Staat, mit ihrer Verachtung des Markts, der Innovation und des Unternehmertums. Sie ist da eher ein Bremsklotz. Wissenschaft und Technik, Kommunikation und Unterhaltung, Frauenbewegung und sexuelle Emanzipation, offener Handel, Migration und poröse Grenzen, Investitionen und Erziehung sind die Triebkräfte der Moderne, und es ist kein Zufall, dass die Dunkelmänner aller Schattierungen gerade sie bekämpfen. Und ja, diese Dunkelmänner könnten gewinnen, haben in der letzten Zeit Geländegewinner erzielt, weshalb man den Terror unnachgiebig bekämpfen, Diktatoren stürzen oder mit Sanktionen belegen, wirklich demokratische – nicht „antiimperialistische“ – Bewegungen unterstützen muss.
Humboldt lebt
Und noch ein Wort zur Schule: Es ist leicht, Experimente wie die Gesamtschule zu kritisieren. Insbesondere kann man kritisieren, dass sie die akademische Exzellenz dem Ideal einer für Alle gleichwertigen Schule opfern. Freilich tun das die High Schools und Colleges in den USA seit jeher ganz bewusst. (Zunächst freilich nur für „Weiße“. Seit 1954 zunehmend auch für Schwarze.) Die Frage darf ruhig gestellt werden, was wichtiger ist: Latein oder soziale Durchmischung. Die Antwort ist nicht auf Anhieb klar, ebenso wenig wie die Frage, was wichtiger ist: Musik oder Chemie, Sport oder Mathe, Handarbeit oder Kopfarbeit.
Die Schulform wurde geändert; eine Änderung des Curriculums und der Lehrmethoden fand nicht statt. Dabei zeigen Deutschlands Grundschulen, Steiner-Schulen und Reformschulen, wo nicht willkürlich getrennt wird, dass integrativer Unterricht möglich ist, wenn der Inhalt und die Form stimmen. Marx nannte als ideal eine Gesellschaft, in der es möglich wäre, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“. Wie kann da eine Schule „links“ sein, die darauf aus ist, lauter einseitig ausgebildete Menschen zu produzieren, die als Fabrikarbeiter, Angestellte oder Beamte funktionieren? Was Marx beschreibt, ist das Humboldt‘sche Bildungsideal, auf die Gesellschaft übertragen. Das mag utopisch sein, obwohl inzwischen Kapitalisten und CDU-Politiker übe das „bedingungslose Grundeinkommen“ diskutieren; aber es wäre, so man wollte, immer noch möglich, Humboldts Bildungsideal in der Bildung zu realisieren. DAS wäre links.
Zuerst veröffentlicht auf www.starke-meinungen.de am 08.01.2017. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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