Am 24. Februar 2022 begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der von russischer Propaganda begleitet wurde, um durch gezielte Falschinformationen die proklamierten Angriffsgründe zu rechtfertigen.
Um dieser Welle an Desinformationen Einhalt gebieten zu können, erließ die EU Anfang März 2022 ein Verbot der russischen Auslandssender „RT DE“ und „Sputnik“. Laut EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen wolle man nicht zulassen, dass die staatsnahen Medien „ihre giftigen Lügen zur Rechtfertigung von Putins Krieg verbreiten oder die Saat der Spaltung in unserer Union säen“. Einer Recherche der ZEIT zufolge wusste RT sogar bereits vor der Invasion von Angriffsplänen und hielt diese Information auf Wunsch des Kremls zurück.
Durch dieses Verbot fielen für die staatsnahe Propaganda wichtige Verbreitungswege weg. Dafür wurden andere Kommunikationskanäle wie Telegram umso populärer und gewannen deutlich an Zulauf. Dies funktionierte aus zwei Gründen: Die Telegram-Kanäle waren nicht neu. Über einen langen Zeitraum hinweg aufgebaut, haben sie sich eine Followerschaft erschlossen, die die Inhalte in verschiedenen Communitys teilt, ohne sie zu hinterfragen. Außerdem ist Telegram eine Plattform, die schon seit 2020 vermehrt von verschwörungsgläubigen Szenen genutzt wurde, etwa durch Leugner*innen der Corona-Pandemie, die zugleich gegen Regierung und Maßnahmen hetzten und ihren Hass mit Desinformationen über angebliche Impfkranke oder an Masken verstorbene Kinder begründeten. Oft überlappt diese Szene, auch auf Telegram, mit einer rechtspopulistisch-antidemokratischen Szene, die in ihrer Ablehnung des „Westens“ bzw. der Moderne Russland verehren und Putin positiv gegenüberstehen – und so auch seiner Desinformation.
Die Vorbereitung russischer Propaganda
Eine Recherche von netzpolitik.org und WELT enttarnte 2020 ein russisches Desinformationsnetzwerk. Journalistisch anmutende Nachrichtenseiten in zahlreichen europäischen Ländern kopierten kremltreue Meldungen und Artikel. Dabei spielte das seriöse Image der Seiten eine zentrale Rolle. So wurde eine vermeintliche „Recherche“, die sich auf den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny und seine Frau konzentrierte, von großen russischen Medien aufgegriffen und als Ergebnis investigativen Journalismus‘ einer populären deutschen Zeitung verbreitet. Der Ursprung, die deutschsprachige Internetseite „Abendlich Hamburg“, ist weder populär noch war der Beitrag nach journalistischen Kriterien gut recherchiert. Heute ist er online nur noch über Archive zu prüfen: Die Seite wurde nach dem vermeintlichen Enthüllungsartikel aus dem Netz genommen. Sie gehörte laut netzpolitik.org und WELT neben anderen zum Desinformationsnetzwerk im Umfeld des Medienunternehmens „News-Front”, das auf der von Russland annektierten Krim ansässig ist. Bereits 2017 verwies eine ZEIT-Recherche auf Aussagen eines ehemaligen Mitarbeiters, dass der russische Geheimdienst die Medienagentur finanziell unterstütze. Ziel des Netzwerks: Desinformationen für Russland als objektiv darstellen, indem sie aus ausländischen „Medien” zitiert werden. Als besonders wichtige Sprachrohre des Kremls gelten „RT DE“ (ehemals: Russia Today) und Sputnik – weshalb ihre Verbreitung in Europa in Kriegszeiten im März 2022verboten wurde. Im Juni folgte das EU-Verbot für die russischen Inlandssender „RTR Planeta“ und „Rossija24“.
Ein Verbot verhindert zwar die direkte Ausstrahlung, nicht aber die Verbreitung der Inhalte auf Social Media: Denn russische Propaganda findet auch großflächig in Sozialen Netzwerken mithilfe von Troll-Armeen statt. Schon bei der russischen Annexion der Krim 2014 machte eine Untersuchung der Universität Cardiff auf die Zunahme prorussischer Troll-Armeen aufmerksam, die mit Falschbehauptungen das Klima in Sozialen Medien zu beeinflussen versuchten. Auch andere kremlnahe Medien machten 2014 bereits gegen die Ukraine mobil und verbreiteten Falschinformationen und Desinformationen. Über acht Jahre hinweg wurden sukzessive Ukrainefeindliche Erzählungen verbreitet, die Leser*innen ideologisch damit auf weitere Handlungen gegen die Ukraine vorbereiten. Eine bekannte und auch von Russland als Kriegsgrund angeführte Desinformation ist die von der angeblich dringend nötigen „Entnazifizierung“ der Ukraine, weil Neonazis dort tonangebend seien. Bereits 2014 wurde diese Falschbehauptung genutzt, um die Annexion der Krim zu rechtfertigen und Angst zu schüren. Wie bei vielen gutgemachten Desinformationen wird ein Teil Wahrheit, nämlich dass es in der Ukraine Neonazis gibt, mit viel Lüge kombiniert, nämlich der, dass diese zunehmend Einfluss auf die politischen Entscheidungen des Landes hätten.
Ein weiterer wichtiger Baustein der Desinformationsverbreitung im Krieg sind Influencer*innen auf Social Media. Dazu gehören reichweitenstarke Accounts und Kanäle, die teilweise von Russland finanziell unterstützt werden, teilweise aber auch von sich aus die Propaganda verbreiten, weil sie von den Falschinformationen überzeugt sind.
Kayvan Soufi-Siavash, auch bekannt unter dem Namen „Ken Jebsen“ und ehemaliger Betreiber von KenFM, ist ein prominentes Beispiel für die Verbreitung von Falschinformation in verschwörungsgläubigen Kreisen. KenFM existiert zwar nicht mehr, doch mit der Plattform „apolut“ arbeitet Soufi-Siavash nach Medienrecherchen längst am Aufbau eines neuen Mediums, das er aus dem europäischen Ausland betreiben möchte, um deutschen Kontrollen aus dem Weg zu gehen. Dort erscheinen immer wieder Beiträge, die russische Propaganda verbreiten und den Angriffskrieg rechtfertigen. Obwohl „apolut“ sich als „unabhängige Medienplattform“ inszeniert, die „täglich politische Berichterstattung“ gewährleistet, werden die Beiträge oft als Kommentare gekennzeichnet. In einem Beitrag von Peter Haisenko, der schon 2014 pro-russische Falschinformationen zum Abschuss von MH17 verbreitete, werden unwidersprochen Desinformationen aus Russland wiedergegeben. Der Beitrag ist zwar als Kommentar gekennzeichnet, trotzdem entsteht der Eindruck, als sei hier von belegbaren Tatsachen die Rede. So spricht Haisenko davon, dass Russland von „einigen Millionen Ostukrainern um Hilfe gebeten worden [sei], das interne Morden durch die ukrainische Armee zu beenden“, oder davon, dass lediglich militärische Ziele außerhalb Kiews angegriffen worden seien. Keine der Aussagen ist jedoch empirisch belegt, und einige sind faktisch widerlegt.
Vor allem der Messengerdienst Telegram ist für russische Desinformationenwichtiger denn je geworden. Prorussische Kanäle und Accounts haben innerhalb kürzester Zeit zehntausende Abonnent*innen gewonnen. Einer davon ist der Kanal „Neues aus Russland“, der von der Medienaktivistin Alina Lipp betrieben wird. Die junge deutsche Frau ist fest verankert in der verschwörungsgläubigen Szene und lebt in Russland. Ihre Inhalte verbreitet Lipp sowohl auf Deutsch als auch auf Russisch. Immer wieder lassen sich ihr Falschnachrichten nachweisen – die durch sie teilweise hohe Reichweiten erzielen. Ihrer Beliebtheit tut das keinen Abbruch: Im Schnitt wird ein Post von ihr über 80.000 Mal angesehen. Seit Kriegsbeginn hat sich ihre Abonnent*innenzahlen mehr als verzwanzigfacht – von etwa 7.600 auf 184.500. Ihre Inhalte finden Anklang in verschwörungsideologischen Szenen, besonders aber in QAnon-Gruppen, der Esoterik-Szene oder in prorussischen Communitys.
Auch andere Telegram-Kanäle reihen sich in das prorussische Desinformationsnetzwerk ein. Sie posten mit hoher Frequenz Mitteilungen, die oft Falschnachrichten enthalten. Dazu gehören u.a. „Russländer & Friends” mit mehr als 50.000 Abonnent*innen, die beispielsweise das Narrativ der „Entnazifizierung“ verbreiten.
Blogs sind ein weiteres wichtiges Sprachrohr der Propaganda. Auf Telegram hat der prorussische und in Russland gehostete Blog „Anti-Spiegel“ über 60.000 Abonnent*innen. Er wird von dem Medienaktivisten Thomas Röper betrieben, der nach eigenen Angaben in St. Petersburg lebt. Seine Artikel sind ebenfalls Gegenstand von Faktenchecks, die ihm die Verbreitung von Falschinformationen nachweisen.
Prorussische Desinformationsnetzwerke funktionieren also vielschichtig. Ihr Geflecht besteht aus russischen Staatsmedien, Troll-Armeen und Sockenpuppen-Accounts, Influencer*innen und ihren Fans, die Inhalte ohne Prüfung und selbst bei klarer Widerlegung weiterverbreiten. Die Falschinformationen, die in Videos, Bildern oder Texten geteilt werden, lassen sich nicht immer überprüfen, und die Fülle an Meldungen ist nur schwer zu sortieren. Davon profitiert die russische Propaganda, deren Netzwerk über Jahre aufgebaut wurde. Weil die zahlreichen Quellen Lügen und Desinformationen gegenseitig bestätigen, immer wieder teilen und so zu vermeintlichem Allgemeinwissen machen, wird Gegenrede zunehmend schwerer, und der Zweifel des „Ist nicht vielleicht doch etwas dran?” ist gesät.
Den de:hate-Report 4, Desinformationen: Von prorussischen Kampagnen zu Narrativen in der Energiekrise, gibt es hier zum Download