Es dauert nicht lange, bevor die Demonstration auf der Reichstagswiese im Regen und Streit versinkt: Am 8. September versammeln sich einige Hundert Impfgegner, Querdenkerinnen und Verschwörungsgläubige vor dem Deutschen Bundestag, laut Polizei sind es zum Höhepunkt 500 Teilnehmende. Anlass ist die Abstimmung über neue Infektionsschutzmaßnahmen für den Herbst. Die Demonstrierenden wollen ihre eigene „Volksabstimmung“ halten. Doch über die richtige Strategie herrscht Uneinigkeit. Und der Tag geht nicht ohne Drama über die Bühne.
Angemeldet wurde die Versammlung vom „Demokratischen Widerstand“, einer „Querdenken“-Gruppe um Anselm Lenz und Hendrik Sodenkamp. Im Vorfeld waren die Erwartungen hoch: Auf dem Messengerdienst Telegram hofften die Veranstalter*innen offenbar auf mindestens 20.000 Teilnehmende. Doch schon die Namen auf dem Demoplakat verraten die schwindende Anziehungskraft der Bewegung: Die Hildmanns, Jebsens und Ballwegs sind inzwischen auf der Flucht, im Ausland oder hinter Gittern. An deren Stelle treten lauwarme Headliner wie Markus Haintz, Melchior und Anselm Lenz, die die großen Massen nicht mobilisieren können.
Vor dem Bundestag treffen sich ab 10:00 Uhr die üblichen Verdächtigen: rechtsalternative Streamer, Kamerateams von Verschwörungssendern, Compact-Verkäufer und einzelne AfD-Abgeordnete. Von einem Miet-LKW singt ein Mann mit Gitarre Protestlieder, während Friedensflaggen im Wind wehen. Ein Mann mit Melonenhut und Monokel trägt einen Reichskriegsflagge-Pin auf seinem Revers. Die Forderungen der Anwesenden heute sind inzwischen altbekannt: Politiker*innen sollen weggesperrt werden, die Regierung seien Faschisten, die Medien „gleichgeschaltet“. Sie sprechen von „Verbrechern“ und „Marionetten der Pharmaindustrie“ im Parlament.
Immer wieder wird der Nationalsozialismus relativiert: Impfungen gegen das Coronavirus werden mit Menschenversuchen in den Konzentrationslagern verglichen. Der „Nürnberger Kodex“ ist das Schlagwort der Stunde. Vor allem dient Gesundheitsminister Karl Lauterbach als Feindbild Nummer eins: „Lauterbach rein in die Geschlossene!“, heißt es auf einem Plakat. Immer wieder skandiert die Menge: „Lauterbach muss weg!“
Auch Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ist auf der Demonstration Thema. Manche Teilnehmende fordern, dass die Gaspipeline Nord Stream 2 sofort in Betrieb genommen wird, nachdem das deutsch-russische Projekt auf Eis gelegt wurde. Auf anderen Plakaten ist „Stopp NATO!“ zu lesen. Reza Begi, der auf Demonstrationen immer wieder den Holocaust geleugnet haben soll, verlangt lautstark, dass der russische Präsident hier eine Rede halten soll. Eine Frau mit einem roten Regenschirm, auf dem neben Impfgegner-Botschaften auch ein „Z“ steht – ein prorussisches Symbol für Putins Angriffskrieg –, wird von der Polizei abgeführt.
Während der Redebeiträge auf der Bühne kommt es immer wieder zu Zwischenrufen aus dem zunehmend frustrierten Publikum. Die Veranstalter*innen vom „Demokratischen Widerstand“ sehen sich in Erklärungsnot, dass die Demonstration, die „Volksabstimmung“, an den eigenen demokratischen Anspruch gescheitert ist: „Wir können nicht jeden Punkt mit euch abstimmen, das geht nicht“, sagt die Versammlungsleiterin „Dolli“.
Die Demonstration ist offenbar manchen Teilnehmenden nicht radikal genug: Sie versuchen, mithilfe eines Megafons die Menge anzuheizen. Das wiederum stößt auf Kritik von der Bühne: „Solche Stressmacher haben hier nichts zu suchen!“, sagt Dolli. Ihr „Diskurs“-Angebot kommt aber nicht gut an. „Sorry, dass wir gewagt haben, wissen zu wollen, wie es euch nach zweieinhalb Jahren Dreckspandemie geht. Dann beantwortet es eben nicht. So what!“, sagt sie trotzig. Ein Demonstrant aus Hannover kontert, dass er 300 Kilometer gefahren sei, „nur um im Stuhlkreis mit sechs Leuten rumzusitzen“. Andere seien sogar aus Bayern angereist. „Entweder machen wir hier eine Demo oder wir können nach Hause fahren“, sagt der Mann frustriert.
Doch bevor die Demonstration in Stimmung kommen kann, prasselt der Regen in Strömen nieder. Viele suchen einen trockenen Unterschlupf unter Bäumen am Rand der Wiese, während der pitschnasse Kern bleibt und auf die Reden im Bundestag über den Lautsprecher mit Buhrufen antwortet. Als der Regen etwas nachlässt, sind viele Demonstrierende schon nach Hause gegangen. Unter dem Rest entbrennt ein neuer Streit – dieses Mal über die richtige Sprache.
Dolli bezieht sich in einem weiteren Redebeitrag auf Widerstandskämpfer*innen in der Geschichte. Ihr Ton ist nun deutlich schärfer als zu Beginn des Tages. Auch jetzt müsse der Widerstand am Ende „Opfer kosten“, Opfer nehme sie „in Kauf“. Ein Mann unterbricht ihre Rede und fragt, warum es überhaupt Opfer geben muss: „Wir müssen friedlich sein!“, appelliert er. Dolli antwortet, dass es dafür zu spät sei. Personen wie Oliver Janich würden momentan doch schon weggesperrt werden. Auch bei ihr sei das LKA schon zu Besuch gewesen.
Während die Demonstration um die richtige Wortwahl für ihre Revolution ringt, verabschiedet der Bundestag das neue Infektionsschutzgesetz mit 389 zu 313 Stimmen. Ab dem 1. Oktober gelten neue Corona-Regeln wie eine bundesweite FFP2-Maskenpflicht in Fernzügen, Kliniken, Pflegeheimen und Arztpraxen. Auch andere Maßnahmen wie Tests in Schulen sind durch das neue Gesetz möglich. Das kann den Kern der Bewegung aber offenbar nicht dämpfen: Schon am morgigen Freitag um 10:00 Uhr ist die nächste Demonstration vor dem Bundestag angemeldet. Und schon wieder ist Regen angesagt.