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Demokratieatlas So wird Rechtsextremismus plötzlich normal

Beim Bundesparteitag der Alternative für Deutschland in Riesa sitzt Alice Weidel auf ihrem Platz im Parteivorstand und winkt. (Quelle: picture alliance / dts-Agentur | -)

Dieser Artikel ist ein Beitrag aus dem Demokratieatlas der Amadeu Antonio Stiftung.

In der Beschäftigung mit Rechtsextremismus und seinen Erscheinungsformen drängt sich irgendwann die Frage auf, wann und warum sich Menschen von extrem rechten Ideologien angesprochen fühlen. Auch verschiedene Wissenschaftler*innen haben sich im Laufe der Zeit dieser Frage angenommen. Klar ist: Es gibt sie nicht, die eine Erklärung, die eine grundsätzliche Antwort auf diese Frage liefert. Stattdessen gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze, die eine Zustimmung zu extrem rechten Ideologien versuchen nachzuvollziehen.
Hier bieten wir einen kurzen Überblick über die verschiedenen Ansätze. Die Sammlung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern wirft Schlaglichter auf das breite Forschungsfeld und stärker rezipierte und diskutierte Ansätze.


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Die „normale Pathologie“

Rechtsextremismus sei eine „normale“ Pathologie freiheitlicher Industriegesellschaften, in denen grundsätzlich ein Potential für entsprechende politische Bewegungen vorhanden sei – so die These von Erwin K. Scheuch und Hand D. Klingemann. Die Annahmen der beiden Autoren beruhen auf dem sogenannten Extremismusmodell, einer Theorie, die in der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung umstritten ist. Die Autoren gehen dabei davon aus, dass Rechtsextremismus immer die Vergangenheit romantisiere und die geltende Gesellschaftsform grundlegend ablehne. Obwohl die Thesen Scheuchs und Klingemanns im öffentlichen Diskurs durchaus bekannt sind, gilt ihre Erklärungskraft in der sozialwissenschaftlichen Forschung als gering. Die Annahme, dass extrem rechte Bestrebungen in der Gesellschaft nun mal „normal“ und somit nicht vermeidbar seien, relativiert vielmehr die Gefahr und den politischen Erfolg extrem rechter Gruppierungen in Deutschland und erschwert dadurch die Rechtsextremismusprävention. Die spezifischen Gefahren von Rechtsextremismus werden so aus dem Blickfeld verloren.

Das Extremismusmodell

Das Extremismusmodell (oder auch „Hufeisenmodell“) beruht auf der Annahme, dass sich die demokratische Mitte und „extremistische“ Ränder antithetisch gegenüberstehen. Obwohl das Modell in der Rechtsextremismusforschung heute grundsätzlich abgelehnt und häufig als ideologisch motiviert und stark unterkomplex kritisiert wird, bildet es noch immer die
Grundlage des sicherheitsbehördlichen Verständnisses von Rechtsextremismus. Die bekanntesten Vertreter des Modells in Deutschland sind Uwe Backes und Eckhard Jesse. Sie
gehen nicht nur davon aus, dass Rechtsextremismus und Linksextremismus in ihrem Bestreben ähnlichen seien, sondern auch, dass es in der Gesellschaft eine gemäßigte Mitte gebe,
die grundsätzlich demokratisch eingestellt sei. In der Analyse von extrem rechten Einstellungen und Gruppierungen bleibt dieses Modell nicht nur unterkomplex, sondern ignoriert
auch die breite Zustimmung für extrem rechte Ideologieelemente in der sogenannten gesellschaftlichen „Mitte“.

Der „Extremismus der Mitte“

Seymour Martin Lipset prägte den Begriff des „extremism of the center“. Demnach finden sich extremistische Positionen in allen Teilen der Gesellschaft und nicht nur an deren konstruierten politischen Rändern. Laut dem Soziologen geht von allen drei extremistischen Spektren (links, Mitte, rechts) dieselbe Anziehungskraft aus. Da es auch in der konstruierten gesellschaftlichen Mitte antipluralistische Bestrebungen geben könne, folgerte Lipset, dass es auch zur demokratischen Mitte ein extremistisches Gegenstück geben müsse, den Faschismus.
Die Ansätze des „Extremismus der Mitte“ widersprechen damit dem Hufeisenmodell. Ihre Grundannahmen, wie die zum Zusammenhang von bürgerlichen Milieus und Rechtsextremismus, werden heute von weiten Teilen der Rechtsextremismusforschung geteilt. Im öffentlichen Diskurs hält sich jedoch weiterhin das Bild einer gemäßigten und friedfertigen gesellschaftlichen „Mitte“, weswegen Lipsets Annahmen dort weniger Anklang finden.

Der „autoritäre Charakter“

Den Überlegungen zum autoritären Charakter liegen die psychoanalytischen und sozialpsychologischen Studien Theodor W. Adornos zugrunde, laut denen gewisse Charaktereigenschaften oder Persönlichkeitsmuster die Grundlage für bestimmte politische Orientierungen legen. Das Individuum in seiner Wechselwirkung mit der Gesellschaft rückt bei diesem Erklärungsansatz also ins Zentrum. Seine Kernthese ist, dass autoritäres Denken und Handeln im Laufe der Sozialisation einer rechtsextremen Person verinnerlicht werden.
Im Autoritarismus wird Individuen nicht nur eine bestimmte Aufgabe zuteil, sondern er beinhaltet auch immer das Versprechen, selbst Teil eines „starken und erfolgreichen“ Kollektivs zu werden.

Relative Deprivation

Relative Deprivation beschreibt die subjektive Wahrnehmung, den eigenen ökonomischen oder sozialen Status verloren zu haben, oder die Angst hiervor. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Statusverlust tatsächlich droht oder bereits passiert ist. Die eigene Wahrnehmung reicht, um sich benachteiligt zu fühlen und „Schuldige“ für die eigene Lage finden zu wollen.
Verschiedene empirische Studien belegen den Zusammenhang zwischen extrem rechten Einstellungen und relativer Deprivation: Fühlen sich vermehrt Personen aus bestimmten Regionen oder Bevölkerungsgruppen von Deprivation bedroht, so projizieren sie diese Ängste verdichtet auf (konstruierte) Bevölkerungsgruppen, die sich scheinbar in einer oder mehreren sozialkonstruierten Ordnungskategorien von der Mehrheitsbevölkerung unterscheiden. Indem sich Aggressionen gegenüber den betreffenden Gruppierungen entwickeln und entladen, entstehen oder verstärken sich extrem rechte Ideologien.

Modernisierung

Die Grundlage dieses Erklärungsansatzes besteht in der Annahme, dass sich durch die ökonomischen Veränderungen der Moderne auch die sozialstrukturellen Kontexte wandeln. In der Konsequenz entstehen neue Anforderungen und Möglichkeiten für Individuen, wie wachsende Flexibilität und Mobilität, die aber auch dazu führen können, dass soziale Stabilität und Verlässlichkeit verloren gehen. In Verbindung mit Rechtsextremismus wird die Modernisierungsthese als Erklärungsmodell unter anderem vom Wilhelm Heitmeyer in Bezug auf Jugendliche herangezogen, da diese Gruppe besonders von verunsichernden Veränderungen geprägt ist. Die These ist, dass extrem rechte Vorstellungen in diesen Phasen Sicherheit und Identifikationsangebote bieten. Warum solche Unsicherheiten und Ängste nicht bei allen Menschen zu einer Hinwendung zum Rechtsextremismus führen, kann mit diesem Erklärungsansatz allerdings nicht erklärt werden.

Protestwahl

Gewinnen rechtsextreme Parteien an Stimmen, wird öffentlich oft die These diskutiert, dass es sich dabei um eine Protestwahl handle. Dahinter steht die Annahme, Personen, die ideologisch nicht gefestigt seien, würden auch rechtsextreme Parteien wählen, um die eigene Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien zum Ausdruck zu bringen.
Letztlich lässt sich die Motivation für diese oder jene Stimmabgabe nicht an den Wahlergebnissen ablesen. Wirft man aber einen Blick in die Einstellungsforschung und Nachwahlbefragungen, wird deutlich, dass rechtsextreme Ideologien grundsätzlich große Zustimmung in der Bevölkerung erlangen, weswegen die Protestwahlthese mit Vorsicht zu behandeln ist. Menschen wählen dann nicht trotz, sondern wegen einer rassistischen Programmatik eine extrem rechte Partei.

Einfluss der politischen Kultur

Die vorangegangenen Erklärungsansätze machen deutlich, dass es viele Faktoren gibt und geben kann, die Rechtsextremismus bedingen. Dadurch, dass sich extrem rechte Einstellungen bei einem breiten Teil der Bevölkerung finden und kein klares Randproblem darstellen, nimmt auch die gesamte politische Kultur hier Einfluss. Sowohl die Art, wie mediale Debatten geführt werden und welche Narrative sich im öffentlichen Diskurs durchsetzen, als auch (partei-)politische Kommunikation können Ressentiments in der Bevölkerung schüren und Feindbilder bestärken, die extrem rechte Argumentationen befeuern und entsprechenden Akteur*innen in die Karten spielen.

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