Aktuell ist die große mediale Aufmerksamkeit für die „coronakritischen“ Demonstrationen erloschen, was aber nicht heißt, dass sich in der Szene nicht viel tut. Die rechtsoffene Stuttgarter Initiative „Querdenken 711“ hatte nach zwei Großdemonstration in Berlin erstmal eine Hauptstadt-Pause angekündigt und sich wieder ins „Ländle“ nach Süddeutschland zurückgezogen. Dieses Wochenende sollen zwei Veranstaltungen stattfinden, die auf der Website von „Querdenken 711“ beworben werden: Die „Friedenskette Bodensee“ am 3. Oktober und die „Erntedank Demo“ in Konstanz am 4. Oktober. Insgesamt sind 27 Demos am Wochenende in der Region angemeldet. Es werden mehrere tausend Teilnehmer*innen erwartet. (vgl. Südkurier)
Die „Friedenskette Bodensee“ ist eine Initiative, die mit einer Menschenkette den Bodensee über vier Länder „umarmen“ und damit einen Weltrekord aufstellen möchte. Die Veranstalter*innen legen wert darauf, dass keine politischen Statements gezeigt werden – so heißt auf ihrer Website. Zudem wird an die Teilnehmenden appelliert, sich an die bestehenden Hygieneverordnungen zu halten. Auf „Youtube“ bewirbt die Initiative ihr Vorhaben mit einem kitschigen Video voller Stockvideos und unterlegt mit schnulziger Weltmusik. Der Hauptorganisator Alexander Ehrlich war zu Gast auf dem Kanal des rechts-alternativen „Youtubers“ Thomas Grabinger („Digitaler Chronist“), um für die Kette mit dem Motto „Friede und Europa“, Werbung zu machen. Alexander Ehrlich ist Besitzer des Busunternehmens „Honk für Hope“, welches logistisch eng mit „Querdenken 711“ und deren Gründer Michael Ballweg zusammenarbeitet.
Im Vorfeld kommt es zu einigen Problemen: Zum Beispiel wird das österreichische Vorarlberg als Risikogebiet eingestuft, was für wenig Begeisterung unter den Teilnehmenden sorgt, da nun ein Covid-19-Test nötig wäre, um an diesem Bereich des Bodensees, Teil der Kette zu sein.
Schlechte Stimmung und fehlende Unterstützung
Der unpolitische Touch der Veranstaltung und die Beschränkung auf die Themen „Frieden und Europa“ kommen in der Szene nicht gut an, was sich in der fehlenden Mobilisierung zeigt, die auf den bisherigen „Querdenken“-Veranstaltungen noch gegeben war. Zudem wird von den Teilnehmenden kritisiert, dass es kaum Programm gäbe während des siebenstündigen Kettenaufbaus. Mit der Stimme eines Lehrers erklärt Organisator Ehrlich darauf seinen Demoschüler*innen, dass man sich auch selbst beschäftigen könne – mit Spaziergängen, Essengehen oder Ähnliches. Die schlechte Stimmung spiegelt sich auch in den Anmeldezahlen wider. Auf dem „Telegram“-Kanal der Initiative bitten die Veranstalter*innen vehement um Anmeldungen und Verbreitung. Auch die Werbung und Mobilisierungshilfe von „Querdenken“ hält sich bisher in Grenzen. Auf der „Facebook“-Seite von „Querdenken 711“ findet sich lediglich ein Aufruf an der „Friedenskette“ teilzunehmen (Stand 2. Oktober 2020). Auch andere Größen der Szene wie die Verschwörungsideologen Oliver Janich oder Heiko Schrang posten zwar brav die Seite der „Friedenskette“ auf ihren Social-Media-Kanälen, zeigen sich dabei aber wenig enthusiastisch.
Kuscheln war gestern
Die geringe Unterstützung könnte auf die kommende Ausrichtung der gesamten Bewegung hindeuten. Die Stimmung wird zunehmend aggressiver. Erst kürzlich ging ein Video des Arztes Bodo Schiffmann, ein Star der „Querdenken“-Szene, über den Messenger „Telegram“ viral, in dem er weinend und aufgelöst behauptet, in Bayern seien Kinder aufgrund von Maskentragen gestorben. Nach aktuellen Erkenntnissen handelt es sich dabei um Fehlinformationen (vgl. BR). Schiffmann sagt wörtlich: „Kinder sterben, weil sie Masken gegen eine Erkrankung tragen, die es nicht gibt!“ In seinen Reden, zuletzt am 1. Oktober 2020 in Stralsund, betont Schiffmann stets, dass er den Virus nicht leugne. Auch Michael Ballweg lässt die Maske des gemäßigten „Coronakritikers“ zunehmend fallen. In einer „satirischen Rede“ auf der „Querdenken“-Demonstration am 26. September 2020 in Köln zieht er die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 ins Lächerliche und damit auch die bisherigen Opfer und Betroffenen der Pandemie.
Darüber hinaus wurden gewisse Streitigkeiten in der „Coronaleuger-Szene“ scheinbar beigelegt: Der Verschwörungsideologe Attila Hildmann hatte nach der Demonstration am 29. August 2020 die „Querdenken“-Bewegung noch wegen ihrer Distanzierung von den Demonstrationen am Reichstag und vor der amerikanischen Botschaft als „False Flag“ und gelenkte Opposition bezeichnet. Nun ruft er zur Einigkeit auf, denn er habe mit Ballweg, den er vor kurzem noch als Illuminaten bezeichnete, telefoniert und sei nun überzeugt von seiner Integrität. Der Politikwissenschaftler Josef Holnburger vermutet, dass alles auf eine weitere Radikalisierung hindeute, gerade wenn die Veranstaltungen am kommenden Wochenende ein Reinfall werden. Die radikaleren Kräfte würden dadurch darin bestärkt, dass die Kuschelsymbolik der falsche Weg sei.
In Berlin wird es an diesem Wochenende zu mehreren kleinen „coronakritischen“ Veranstaltungen kommen. Michael Ballweg und andere Mitglieder der „Querdenken“ Bewegung sind am 2. Oktober auf einer Demonstration der „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ angekündigt (vgl. Tagesspiegel). Am 3. Oktober soll es unter anderem um 14 Uhr zu einem Flashmob am Brandenburger Tor kommen, bei dem sich alle Teilnehmenden gleichzeitig die Masken runterziehen und Parolen von sich geben. Die Initiator*innen des Flashmobs rufen landesweit zu ähnlichen Aktionen auf.
„Der Dritte Weg“ in Berlin
Radikal trifft derweil schon voll ganz auf die rechtsextreme Kleinstpartei „Der Dritte Weg“ zu, die für den kommenden Tag der deutschen Einheit eine Demonstration in Berlin-Hohenschönhausen angekündigt hat. Der letzte medial beachtete Aufmarsch des „Dritten Wegs“ fand am 1. Mai 2019 in Plauen statt. Damals marschierten um die 500 Neonazis mit Flaggen und Fackeln uniformiert durch die sächsische Kleinstadt. Die an SA-Aufmärsche erinnernde Inszenierung sorgte für Empörung im In- und Ausland (vgl. Belltower.News).
Berlin ist kein beliebtes Pflaster für Nazis, droht ihnen doch meist ein gewaltiger Gegenprotest. Andererseits lockt Berlin doch immer wieder mit seiner Symbolkraft und mit guten politischen Fotomotiven (Reichstag). Diese sind in Hohenschönhausen eher weniger zu finden, dennoch rechnet die „Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus“ (MBR) mit mehr als 100 Teilnehmer*innen und überregionaler Anreise, auch durch den Feiertag und die Tatsache, dass die letzte geplante Aktion in diesem Jahr am 1. Mai ausfallen musste (vgl. taz). Der Berliner Verfassungsschutz zählt nur 30 Mitglieder der rechtsaußen Kleinpartei in Berlin, doch die Demo könnte eine Chance, unorganisierte Rechtsextreme im östlichen Bezirk zu gewinnen. In Hohenschönhausen tauchen immer mehr Flyer und Sticker der Partei auf. Auch Graffiti und Banner werben für die kommende Demo.
Die organisierten Gegenproteste ließen nicht lange auf sich warten. Aus verschiedenen antifaschistischen Gruppen gründete sich in kürzester Zeit das Bündnis „3. Weg versenken“. Mehr als ein halbes Dutzend Gegendemonstrationen sind bereits angemeldet. Mehr Informationen zu den Gegenveranstaltungen finden Sie hier.