von Hannah Peaceman
Der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) ist durch eine langjährige rassistische Mordserie bekannt geworden. In der Berichterstattung und öffentlichen Wahrnehmung geht mit der Nennung dieser Tatsache aber nicht selbstverständlich eine Diskussion über Rassismus einher; diese Auseinandersetzung musste und muss, nicht zuletzt durch politische Bildung, erstritten werden. Selbstverständlich war der NSU darüber hinaus auch antisemitisch. Das lässt bereits die Selbstbezeichnung vermuten, die unmissverständlich an den Nationalsozialismus und dessen antisemitische Ideologie anknüpft. Angesichts dieses offensichtlichen Zusammenhangs ist auffällig, dass sich bisher niemand intensiver mit dem antisemitischen Weltbild und den antisemitischen Taten des NSU auseinandergesetzt hat: In keinem der Berichte der Untersuchungsausschüsse spielt der Antisemitismus eine eigenständige Rolle. Eine Ausnahme ist der Hinweis von Hajo Funke in einem Interview des BR (2015). Der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte am OLG München trägt hier ebenfalls nicht zur Aufklärung bei. Mit ihrer Festlegung auf die »Triothese« hat die Bundesanwaltschaft von Anfang an die Aufklärung der ideologischen Hintergründe des neonazistischen Netzwerks und seines gesamtgesellschaftlichen Kontexts blockiert; das Gericht unter Manfred Götzl ist der BAW hier weitestgehend gefolgt. Die mangelnde Aufklärung des NSU-Komplexes durch die Bundesanwaltschaft ist im Detail in der Anklageschrift des Tribunals»NSU-Komplex auflösen« nachzulesen. Dabei müsste es eigentlich für eine demokratische Gesellschaft von großem Interesse sein, zu verstehen, wie eine rassistische Mordserie von der Mehrheitsgesellschaft so lange unentdeckt bleiben konnte, welche gesellschaftlichen und politischen Strukturen einen Nährboden für neonazistische Ideologien bieten, und schließlich auch, wie Rassismus und Antisemitismus miteinander zusammenhängen.
Das Tribunal »NSU-Komplex auflösen«, das vom 17. bis 21. Mai 2017 in Köln stattfand, hat für diese Fragen erstmals Raum gegeben. Neben einer gesellschaftlichen Anklage, die die rassistischen Strukturen und Akteur*innen auf allen Ebenen zu benennen versuchte, wurde den Opfern und Betroffenen der neonazistischen Anschläge die Möglichkeit gegeben, ihre Perspektiven und Forderungen öffentlich in den Mittelpunkt zu stellen. Lea Wohl von Haselberg und Hannah Peaceman haben im Rahmen des Tribunals eine Veranstaltung zu »NSU und Antisemitismus. Medienanalyse und Solidarisierung« angeboten. Dabei war unser Ziel zum einen, eine Beschäftigung mit dem Zusammenhang von NSU und Antisemitismus anzustoßen. Zum anderen ging esdarum, aus jüdischen Perspektiven eine Diskussion über das Ausbleiben von Solidarisierungen zwischen Betroffenen von Antisemitismus und Rassismus – das im schlimmsten Fall zu »Opferkonkurrenzen« führt – zu eröffnen. Die Diskussionen während des Workshops identifizierten eine Reihe offener Fragen und machten deutlich, dass die Beschäftigung mit dem Zusammenhang von NSU und Antisemitismus auch in der politischen Bildungsarbeit noch eine Leerstelle markiert.
Im Folgenden soll zunächst eine Chronologie antisemitischer Taten des NSU aufgezeigt werden. Daran anschließend werden vor dem Hintergrund des NSU Fragen zur Verschränkung von Antisemitismus und Rassismus aufgeworfen, die für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem NSU notwendig sind und für politische Bildungsarbeit relevant sein können. Eine Chronologie des Antisemitismus des NSU Soweit bekannt, hat der NSU keine Morde an Jüd*innen verübt. Die folgende Übersicht deutet an, welche Rolle der Antisemitismus für das Weltbild des Neonazinetzwerks NSU gespielt hat und in welchem Zusammenhang dieser mit den rassistischen Morden steht. Das neonazistische Umfeld um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Jena, Rudolstadt und Saalfeld fällt spätestens seit den frühen 1990er Jahren immer wieder durch Holocaustleugnung und -relativierung sowie durch Provokationen in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, das Stören von Gedenkfeiern und die Schändung von Friedhöfen auf. Ein Beispiel ist der Anschlag auf die Jüdische Landesgemeinde Türingen in Erfurt, bei dem Neonazis zwei Schweineköpfe auf das Gelände werfen. Am 9. November 1995 wird in Jena eine an einem Fernwärmerohr aufgehängte Puppe entdeckt, die mit einem gelben Stern markiert ist. 1996 hängt eine ähnliche, mit Bombenattrappen versehene Puppe auf einer Autobahnbrücke über der A4 (Aust, S.; Laabs, D. 2014: Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU. Pantheon, S. 45, 161, 169) Beide Taten werden dem späteren NSU zugerechnet. 1996 erregen Mundlos und Böhnhardt Aufsehen, als sie in SA-ähnlichen Uniformen durch die KZ-Gedenkstätte Buchenwald laufen.
Nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 finden Ermittler*innen auf Festplatten der Untergetauchten »Feindlisten«. Neben »linken« politischen Gegner*innen, Moscheen, Kirchen, Gemeindezentren und Parteien findet sich auch eine Liste mit 233 jüdischen Einrichtungen. Im ausgebrannten Versteck wird ein umgestaltetes Monopolyspiel namens »Pogromly« gefunden, dessen Ziel es ist, möglichst viele Jüd*innen in Konzentrationslager zu bringen.73 Das Spiel wurde in der neonazistischen Szene verkauft, der Erlös trug zum Lebensunterhalt des Kerntrios bei. Beate Zschäpe soll im Mai 2000 (ein halbes Jahr vor dem ersten Mord des NSU) erkannt worden sein, als sie die Synagoge Rykestraße in Berlin Prenzlauer Berg ausspähte. Auch drei Sprengstoffanschläge auf einem jüdischen Friedhof an der Heerstraße in Berlin-Charlottenburg, die nie aufgeklärt worden sind, werden mit dem NSU in Verbindung gebracht.
Bei der Chronologie antisemitischer Taten des NSU fällt im Vergleich zu den rassistischen Morden auf, dass keine lebendigen Jüd*innen angegriffen worden sind. Warum es nie dazu gekommen ist, obwohl das Ausspähen der Synagoge Rykestraße Hinweise auf einen geplanten Anschlag geben könnte, ist Spekulation. Es sollen jedoch einige Punkte genannt werden, die als Denkanstöße für die weitere Diskussion über das Verhältnis von NSU und Antisemitismus zu verstehen sind: Erstens findet jüdisches Leben in Deutschland aus Angst vor antisemitischen Bedrohungen und Angriffen fast immer hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der nicht-jüdischen Öffentlichkeit statt. Die Frage ist also: Wie viel wusste der NSU überhaupt über jüdisches Leben in der Gegenwart? Auffällig ist, dass die antisemitischen Taten, die der NSU begangen hat, fast immer einen Bezug zum Nationalsozialismus und dem Holocaust aufweisen. Oft werden nicht-jüdische Personen oder Institutionen als »jüdische Mächte« markiert und diffamiert, etwa die Bundesregierung, der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl oder »die Medien«.75 Beides spricht dafür, dass Jüd*innen für den NSU v.a. in Form antisemitischer Bilder eine Rolle gespielt haben. Zwei Aspekte können zusätzlich antisemitische Angriffe mutmaßlich erschwert haben: Jüdische Einrichtungen sind in Deutschland rund um die Uhr bewacht. Außerdem erfahren antisemitische Taten vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands eine weitaus größere Aufmerksamkeit als rassistische Taten. Es könnte dem NSU bewusst gewesen sein, dass der Verfolgungsdruck gestiegen wäre, hätte das Netzwerk jüdisches Leben gezielt angegriffen. Eine Herausforderung politischer Bildungsarbeit in der Post-Migrationsgesellschaft ist die Verschränkung von Antisemitismus und Rassismus vor dem Hintergrund des NSU. Eine wichtige Tese in der Beschäftigung mit dem NSU und Antisemitismus ist daher: Antisemitismus und Rassismus stehen in einem Zusammenhang miteinander, ideologisch wie strukturell – das sollten die vorangegangen Überlegungen andeuten. Es gibt also gesellschaftliche Bedingungen, die die antisemitischen Taten und rassistischen Morde ermöglicht haben. Es gibt außerdem gesellschaftliche Bedingungen, die eine gemeinsame Beschäftigung mit Antisemitismus und Rassismus verhindern. Die folgenden zwei Punkte skizzieren die Wirkmächtigkeit von Antisemitismus und Rassismus, die sich rassismus- und antisemitismuskritische Bildungsarbeit zum Ausgangspunkt machen könnte:
Erstens: Wir leben in einer Gesellschaft, in der nach wie vor rassistische und antisemitische Bilder wirkmächtig sind und in der die Stimmen der Betroffenen marginalisiert werden.76 DerNSU hat den Alltag der Postmigrationsgesellschaft angegriffen, die Nachbarin, den Gemüsehändler, den Friseursalon. Jüdisches Leben in Deutschland zeichnet sich im Gegensatz dazu durch Nichtsichtbarkeit aus – meist aus Angst vor antisemitischen Angriffen. Rassismus und Antisemitismus stellen für Betroffene eine Bedrohung dar, der sie entweder ausgeliefert sind oder vor der sie sich hinter Panzerglas verstecken müssen.
Zweitens: Dass der Antisemitismus des NSU in der öffentlichen Diskussion so gut wie gar nicht thematisiert wird, gibt Hinweise darauf, wie mit Antisemitismus in Deutschland umgegangen wird und wie Rassismus und Antisemitismus als voneinander getrennte Probleme verhandelt werden. Wie der Bericht des unabhängigen Expert*innenkreises zu Antisemitismus, beauftragt durch die Bundesregierung, aus dem Jahr 2017 zeigt, sind Jüd*innen in Deutschland, aber nach wie vor von antisemitischen Bedrohungen und Angriffen betroffen. Antisemitismus wird zwar öffentlich geahndet, insbesondere im Vergleich zu Rassismus, der meist tabuisiert wird – die Anerkennungshürden sind allerdings sehr hoch. Wird darauf verwiesen, dass eine Aussage antisemitisch ist, wird das oft bestritten oder als Empfindlichkeit der Betroffenen bezeichnet. Eine weitere Strategie ist die Auslagerung des Antisemitismus als Problem der »Anderen«, spezifischer der (muslimischen) Migrant*innen. Das ist eine doppelt perfide Herrschaftsstrategie: Denn im gleichen Zug, in dem der Antisemitismus als Problem der »Anderen« ausgelagert wird, wird dadurch der Rassismus gegen diese »Anderen« legitimiert.
Auf der Basis dieser zwei Punkte ergeben sich drei Ideen für rassismus- und antisemitismuskritische Bildungsarbeit im Kontext des NSU.
1. Rassismus- und antisemitismuskritische Bildungsarbeit ist parteinehmend. Sie richtet sich offen gegen jede Form des Rassismus und des Antisemitismus. Sie thematisiert die Rahmenbedingungen politischer Haltungen und die Notwendigkeit ihrer Parteinahme, z.B. gegen die Tabuisierung von Rassismus oder die Delegitimierung von Antisemitismus.2. Rassismus- und antisemitismuskritische Bildungsarbeit nimmt Betroffenenperspektiven ein. Sie stellt Fragen wie: Welchen Bedrohungen sind Betroffene ausgesetzt? Was sind Reaktionen der Betroffenen auf die Bedrohungen? Was sind staatliche Umgangsweisen und Versäumnisse? Welche Bedeutung haben die Perspektiven von Betroffenen im gesamtgesellschaftlichen Kontext und warum werden sie von »uns« oft nicht gehört?3. Rassismus- und antisemitismuskritische Bildungsarbeit nimmt die gesamtgesellschaftlichen Strukturen in den Blick. Sie setzt sich mit dem Zusammenhang von Rassismus und Antisemitismus auseinander. Welche Mechanismen sind es, die die Betroffenenperspektiven marginalisieren und tabuisieren – von Migrant*innen und Jüd*innen?80 Welche Mechanismen sind es, die Betroffene von Rassismus und Antisemitismus auseinandertreiben? Schließlich: Wie können Solidarisierungen mit Betroffenen von Rassismus und Antisemitismus aussehen?
Ein Auszug aus der BROSCHÜRE:
Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus der
„Le_rstellen im NSU-Komplex: Geschlecht, Rassismus, Antisemitismus“.
Hrsg.: Amadeu Antonio Stiftung
Berlin 2018
Als PDF zum Download hier:
http://www.gender-und-rechtsextremismus.de/w/files/pdfs/fachstelle/leerstellen_internet.pdf
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