
Dies ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung des Textes „Deutsch genug für die AfD? Warum sich Menschen mit Migrationsbiografien von der AfD angesprochen fühlen“ aus dem Sammelband „Rechts, wo die Mitte ist: Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus“, erschienen im Unrast-Verlag.
In der AfD lassen sich viele verwunderlichen Beispiele finden, die zeigen, dass Menschen, die von Benachteiligung und Diskriminierung betroffen sind, selbst entsprechende Denkweisen vertreten und gegenüber anderen ausüben. Angesichts der zahlreichen inneren Widersprüche in der AfD, die entstehen, wenn sich Menschen aus Feind*innen-Gruppen der AfD wie etwa homosexuelle Menschen, Jüdinnen und Juden und eben Migrant*innen in der Partei engagieren, stellt sich die Frage, wie es dazu kommt.
Fast 29 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen, rund 23,8 Millionen, hatten im Jahr 2022 laut Statistischem Bundesamt einen sogenannten Migrationshintergrund, also mindestens einen Familienteil mit Biografien im Ausland. Spätaussiedler*innen finden sich genauso darunter wie syrische Geflüchtete und Nachfahr*innen der sogenannten Gastarbeiter*innengeneration. Gut die Hälfte von ihnen hat einen deutschen Pass und ist dementsprechend auch wahlberechtigt. Im 20. Bundestag, der 2021 gewählt wurde, lag der Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund in der AfD-Fraktion bei 7,2 Prozent (sechs Abgeordnete) – höher als bei der FDP mit 6,3 und der CDU mit 4,1 Prozent, so der Mediendienst Integration. Im 2021 neugewählten Landtag in Baden-Württemberg hat die AfD-Fraktion nach den Grünen sogar die meisten Landtagsabgeordneten mit Migrationshintergrund, mit 12,9 Prozent. People of Color (PoC), also nicht-weiße Menschen, sind jedoch nicht unter ihnen.
Ideologie der Ungleichwertigkeit: Rassismus ist inhärenter Bestandteil der AfD
Zentral für die moderne Form des Rechtsextremismus, für die die AfD in großen Teilen steht, ist ein modernisierter Rassismus. Während sich die neonazistischen Parteien in den vergangenen Jahrzehnten noch offen zu ihrem Rassismus bekannten und dem Erhalt oder der Überlegenheit der ›Rasse‹ argumentierten, behaupten AfD-Vertreter*innen heute zumeist, dass es ihnen lediglich um die Verteidigung der deutschen Kultur und Identität gehe. Wo die NPD-Aktivist*innen vor einigen Jahren noch „Ausländer raus“ auf den Straßen brüllten, fordern AfD-Anhänger*innen heute also „Remigration“ – gemeint ist dasselbe. Die neuen Begriffe sind nur wohlklingender geworden und damit auch massentauglicher, weil sie die menschenfeindlichen Inhalte verschleiern.
Wer ist für die AfD Teil des ›deutschen Volkes‹?
Die AfD spricht, im Unterschied zu den demokratischen Parteien, nicht die Staatsbürger*innen an, sondern ›das Volk‹. Die Zugehörigkeit zum Volk wird von der Partei wahlweise biologistisch-nationalistisch (›hier geboren‹, ›weiße Hautfarbe‹ oder ›gemeinsame Abstammung‹) oder meist ethnisch-kulturell (›deutsche Kultur‹, ›Kulturraum‹ oder ›Identität‹) begründet. Es gibt für Menschen, die diesen Definitionen nicht entsprechen, nur wenige Möglichkeiten, Teil dieser als nahezu unveränderbar geltenden Kollektive zu werden. Dabei ist es nicht so, dass die AfD in ihren Aussagen grundsätzlich jede Form der Migration ablehnt. Vielmehr geht es ihr um das, was sie als sogenannte „Massenmigration“ und „irreguläre Migration“ bezeichnet und gegen die sie permanent wettert.
Migration und Einbürgerung sind für die AfD durchaus möglich, jedoch nur bei völliger Assimilation und gleichzeitiger Aufgabe der vermeintlichen ursprünglichen Kultur und Identität. Jede*r Eingebürgerte*r habe eine „Bringschuld, sich seiner neuen Heimat und der deutschen Leitkultur anzupassen“, heißt es im AfD-Bundestagswahlprogramm von 2017.
Die AfD begreift also die Nation als „kulturelle Einheit“, die durch andere Kulturen gefährdet sei. Dem völkischen Verständnis der AfD zufolge gibt es Kulturen beziehungsweise Ethnien und Gruppen, die vermeintlich besser zur deutschen Identität passen als andere. Einige würden hingegen gar nicht zu Deutschland passen, seien gar gefährlich, beispielsweise muslimische und muslimisch gelesene Menschen. Muslim*innen könnten sich niemals assimilieren, so die Vorstellung. Deshalb müsse man sich gegen sie verteidigen. Hier wird deutlich, dass es der AfD nicht nur um die Betonung von kulturellen Unterschieden oder Unterordnungsgebote unter eine imaginierte deutsche Leitkultur geht. Vielmehr zeigt sich an entsprechenden Formulierungen die Konstruktion einer Bedrohung sowie das Fortwirken alter rassistischer Denkmuster, die in gegenwärtigen Feindbildern lediglich aktualisiert werden.
AfD-Politiker*innen mit Migrationsgeschichten: Diversitäts-Theater
Trotz ihres so zentralen Rassismus und ihres exkludierenden Volksverständnisses kann die AfD einige Politiker*innen vorweisen, die selber Migrationsbiografien haben. Der AfD-Fraktionsvorsitzende im Hessischen Landtag, Robert Lambrou, Sohn eines griechischen Vaters, hat im Juni 2023 einen Verein mit dem Namen Mit Migrationshintergrund für Deutschland gegründet. Mit dem Verein wolle Lambrou „bei den gut integrierten Menschen mit Migrationshintergrund für eine Mitarbeit in der AfD werben und diejenigen, die unsere Werte und Überzeugungen teilen, dazu einladen, sich uns anzuschließen“. Bedingung, um in dem Verein aktiv zu sein, sei ein Bekenntnis zur „deutschen Leitkultur“ und zum „Fortbestand der Nation als kultureller Einheit“. Anders gesagt: Man akzeptiert hier nur weiße Migrant*innen oder PoC, die eine vermeintlich „deutsche Identität“ angenommen und die ihre migrantische, vermeintlich ursprüngliche Identität aufgegeben haben.
Mit ihrem Engagement in der AfD stellen sich rassistische AfD-Politiker*innen mit Migrationsbiografien als vollkommen assimiliert dar und heben sich gleichzeitig von anderen Migrant*innen ab, die noch nicht so lange in Deutschland sind. Dabei erfüllen AfD-Politiker*innen mit Migrationsbiografien für die Partei zwei Funktionen: Sie lassen die AfD vermeintlich weniger rassistisch und rechtsextrem wirken, zum anderen soll die Partei so wählbar für Migrant*innen sein. Insofern ist das Engagement von AfD-Politiker*innen mit Migrationsbiografien als Teil einer Strategie der AfD einzuordnen. So lässt die AfD etwa gerne Frauen an die Mikrofone, wenn jemand sagen soll, wie schädlich der moderne Feminismus sei und dass ein Zurück zu den alten Werten doch viel erstrebenswerter sei. Ehemaligen Muslim*innen wird Redezeit eingeräumt, damit sie über angebliche Gefahren, die vom Islam und von Muslim*innen ausgehen, wettern können. Und People of Color werden gerne eingesetzt, um vor Migrationsbewegungen, dem vermeintlichen Verlust der deutschen Identität und Kriminalität durch Migrant*innen zu warnen.
Russlanddeutsche: Deutsch genug für die AfD?
Zustimmung bei migrantisierten Menschen finden die Politiken der AfD jedoch bereits seit geraumer Zeit. Besonders in einer Gruppe findet die AfD seit Langem verhältnismäßig treue Unterstützer*innen: bei Deutschen mit sowjetischem oder postsowjetischem Hintergrund. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) hat zwei Studien durchgeführt, im Jahr 2015 und 2019, um das Wahlverhalten von Migrant*innen zu analysieren. Im Fokus standen unter anderem die zwei größten migrantischen Gruppen in Deutschland. Das sind Menschen mit türkischen (2,8 Millionen) und mit russischen (1,4 Millionen) Migrationsbiografien. Die Studien zeigen: Viele russischstämmige Wahlberechtigte, etwa 60 Prozent dieser Gruppe, wählen Parteien rechts der Mitte und 40 Prozent eher links. Im rechten Spektrum ist hier eine Verschiebung von der CDU/CSU hin zur AfD zu beobachten. Im Rahmen der Studie „Deutsche mit Migrationshintergrund bei der Bundestagswahl 2017“ zeigte sich, dass rund 15 Prozent der Deutschen mit sowjetischem oder postsowjetischem Hintergrund, sogenannte Russlanddeutsche, für die AfD stimmten, etwas mehr als in der Gesamtbevölkerung. Knapp ein Drittel dieser AfD-Wähler*innen im Jahr 2017 hatte bei der vorherigen Bundestagswahl im Jahr 2013 noch nicht an der Wahl teilgenommen. Es ist demnach nicht verwunderlich, dass die AfD die rund 1,4 Millionen wahlberechtigten Russlanddeutschen aktiv umwirbt, schließlich können aus früheren Nichtwähler*innen treue Unterstützer*innen werden. Seit 2014 übersetzt die AfD ihre Wahlprogramme daher auch ins Russische. Aber warum scheint es für viele russlanddeutsche AfD-Wähler*innen kein Problem darzustellen, eine Partei zu wählen, die Einwanderung ablehnt?
Generell lässt sich sagen, dass Menschen mit Migrationsbiografien, die selbst einem rechtskonservativen Weltbild anhängen und patriachal geprägt sind, sich für die AfD begeistern können, weil diese ein antimodernes Familien- und Geschlechterbild vertritt und sich gegen Geschlechtergerechtigkeit, sexuelle Vielfalt und Aufklärung darüber in der Schule sowie gegen Abtreibungen ausspricht. Besonders für postsowjetische Wähler*innen seien konservative Werte, die traditionelle Familie, die Verankerung im christlichen Glauben und die Pflege von überliefertem Brauchtum zentral, beobachtet etwa der Politikwissenschaftler Achim Goerres. Viele von ihnen hätten eine ablehnende Haltung gegenüber Geflüchteten aus dem arabischen Raum so Goerres in der FAZ 2023, die vermutlich auch mit einer Statusverunsicherung einhergeht. Rassistische Narrative gegen andere Einwanderungsgruppen werden zudem noch von pro-russischen Propaganda-Medien befeuert, die sich speziell an russischsprachige Minderheiten in Deutschland richten. In diesen Medien seien rassistische Motive „sehr ausgeprägt, gar dominierend“, analysiert etwa der Autor Nikolai Klimeniouk 2018 bei der Bpb.
Hinzu kommen vielfältige Diskriminierungserfahrungen bei in Deutschland ansässigen Russlanddeutschen. Zum einen identifizieren sich viele als deutsch, gelten aber bis heute in großen Teilen der Mehrheitsgesellschaft nicht als Deutsche. Gleichzeitig spielen in ihrem Alltag antislawischer Rassismus und antikommunistische Ressentiments eine Rolle, also die Diskriminierung von Menschen mit Migrationsgeschichten aus osteuropäischen Ländern oder Personen, denen eine solche unterstellt wird. Damit verbundene Abwertungen können auf kulturellen, religiösen oder politischen Unterschieden basieren, häufig werden aber einfach Stereotype und Vorurteile auf bestimmte Menschen projiziert und so Diskriminierung ausgeübt, teilweise sogar unter Anwendung von Gewalt. Hier wird ihr Weißsein zwar nicht infrage gestellt, aber als minderwertig konstruiert. Viele Deutsche mit postsowjetischem Hintergrund haben daher ein ambivalentes Verhältnis zu ›Deutschsein‹ einerseits und ›Migrationserfahrung‹ andererseits. „Manche Russlanddeutsche begreifen sich als die ›richtigen Deutschen‹, die als Umgesiedelte ihre Identität verteidigen mussten“, so Achim Goerres. Sie betrachten sich nicht als Migrant*innen, sondern als deutsche Heimkehrer*innen. Weil sich dieser Teil der Russlanddeutschen als Deutsche sieht, stellt es für sie auch keinen Widerspruch dar, eine nationalistische Partei zu wählen. Ihre Vorstellung vom Deutschsein, die vor allem auf Ethnizität beruht, wird jedoch von der deutschen Mehrheitsgesellschaft oft nicht geteilt – von großen Teilen der AfD hingegen schon.
Indem die AfD diese Wähler*innengruppe aktiv umwirbt, auch in russischer Sprache, und in ihr Volksverständnis mit einbettet, bekommen hier Menschen mit postsowjetischem Hintergrund die Anerkennung, nach der sich viele sehnen. Erika Steinbach, ehemalige Präsidentin des Bundes der Vertriebenen und AfD-Unterstützerin, beschrieb den Unterschied zwischen Aussiedler*innen und Geflüchteten auf einer Wahlkampfveranstaltung im Jahr 2017 wie folgt: „Damals kamen Deutsche zu Deutschen“. Björn Höcke propagierte zum Tag der Deutschen Einheit in Gera 2022, nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, den Schulterschluss mit Russland. Der Diktator Putin und sein Russland seien die natürlichen Partner Deutschlands, weil „die Deutschen und die Russen eine ähnliche seelische Prägung haben“. Das ist blanker Rassismus in völkischen Worten. Russlanddeutsche würden aufgrund ihres Kulturraums ›demselben Kulturkreis‹ angehören, so die modern-völkische Annahme. In großen Teilen der AfD werden Russlanddeutsche also als Deutsche akzeptiert, als (noch) Teil des deutschen Volkes, oder ihm zumindest sehr nahe stehend. Das impliziert jedoch gleichzeitig, dass, Menschen aus beispielsweise arabischen oder zentralafrikanischen Staaten irgendwie ›anders‹ seien und nicht dazugehören. Die AfD klassifiziert also Migrant*innen in weiß, demselben Kulturkreis zugehörig, der eigenen Identität sehr nah – und nicht-weiß, nicht dem deutschen Kulturkreis zugehörig und weit entfernt von der deutschen Identität.
Migrant*innen als Wähler*innen: PoC und Muslim*innen
Doch auch bei türkeistämmigen Deutschen, der größten migrantischen Wähler*innengruppe, scheint es zunehmend Potenzial für konservative und rechte Parteien zu geben. Laut der KAS-Studie von 2019 hielten viele von ihnen nicht länger der SPD die Treue, sondern gaben ihre Stimmen stattdessen CDU und CSU. Aber auch die AfD kann sich für einige als Auffangbecken gerieren. Nämlich dann, wenn Unsicherheiten aufbrechen, wenn sich Migrant*innen „in ihrer Identität, bei Genderfragen oder vom Feminismus“ bedroht fühlen, erklärt die Migrationsexpertin Sineb El Masrar im Spiegel.
Zuletzt schien es, als sei das Wähler*innenpotenzial der AfD zumindest vorerst ausgeschöpft. Nun versuchen Teile der Partei zaghaft, auch Menschen mit Migrationsbiografien, die keine Russlanddeutschen sind, als neue Wähler*innen zu erreichen. Anfang 2024 veröffentlichte die AfD ein knapp zweiminütiges Video auf verschiedenen Social-Media-Plattformen. Sechs Menschen mit Migrationshintergrund sagen darin Sätze wie „Ich bin damals in die AfD eingetreten, weil ich immer mehr Probleme auf der Straße mit Ausländern bekommen habe“ und „Wir wollen Remigration“. Es ist ein vorsichtiger Versuch, sich für PoC als wählbare Alternative darzustellen, der jedoch durch innerparteiliche Konflikte erschwert wird. Der völkische Teil der AfD und deren Anhänger*innen fordern schließlich eine Homogenisierung Deutschland, mit der Ausweisung aller optisch sichtbaren Migrant*innen und ihrer Nachfahren. Um diese völkisch-nationalistischen Wähler*innen nicht zu verprellen, bemüht sich die AfD derzeit um eine Gleichzeitigkeit von Werben um migrantische Wähler*innen einerseits und antimuslimischer und migrationsfeindlicher Agitation andererseits.
Die AfD hetzt folglich Menschen mit Migrationsgeschichten, die schon länger im Land sind, gegen die auf, die seit 2015 dazugekommen sind. Im Zentrum steht der Vorwurf, dass ›die Neuen‹, die in den letzten Jahren nach Deutschland geflohen sind, innerhalb kurzer Zeit den Status bekämen, den sich frühere Einwander*innen über Jahre hätten erarbeiten müssen. Und diese Argumentation verfängt durchaus und kann bei Migrant*innen zu einer Ablehnung von Einwanderung oder zur Stimmabgabe für die AfD führen. Diese ist jedoch stets mit der Grundannahme verbunden, dass sich eine härtere Migrationspolitik nur gegen ›neuere‹ oder anderen ethnischen Gruppen zugehörige Menschen richten werde und nicht etwa gegen eine*n selbst oder die eigene Community. Der eigene Status Quo soll nämlich erhalten bleiben. Hieran sieht man, dass auch die neoliberale Konkurrenzgesellschaft, der ihr inhärente Kampf um stets knappe Ressourcen und ein dazu noch immer auf Ausgrenzung angelegtes Migrationsrecht in Deutschland als maßgebliche Faktoren für extrem rechte Einstellungen unter Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte fungieren.
Aber auch ein genereller Hang zum Verschwörungsdenken, das vermeintlich böse jüdische Mächte im Hintergrund und/oder eine angeblich alles kontrollierende USA imaginiert, sowie eine generelle, auf Verschwörungsmythen fußende Ablehnung des Westens finden sich in der AfD und erhalten zumindest teilweise Zuspruch in migrantischen Milieus.
Wie weit extrem rechte Einstellungen unter Migrant*innen, die nicht der Gruppe der Russlanddeutschen angehören, verbreitet sind, lässt sich allerdings nicht abschließend beantworten, schließlich gibt es keine homogene Gruppe von Migrant*innen und generell wenig Forschung zu diesem Thema. Was man aber sagen kann, ist Folgendes: Es wird immer einen bestimmten Anteil von Menschen geben, die anfällig sind für Ideologien der Ungleichwertigkeit, für Autoritarismus und für Nationalismus. Seit vielen Jahren weisen nicht nur Aktivist*innen mit Migrationsbiografien, sondern auch Rechtsextremismusforscher*innen darauf hin, dass es durchaus auch Rechtsextremismus in der Einwanderungsgesellschaft gibt, wie etwa die türkische Bewegung Graue Wölfe.
Dass Migrant*innen nicht nur Opfer von Rassismus sind, sondern auch selbst rassistische Einstellungen haben können, gerät jedoch oft aus dem Blick, nicht zuletzt aus Angst, dadurch rassistische Vorstellungen zu bedienen. Antisemitismus, Antiziganismus, die Ausgrenzung Schwarzer Menschen, Colorism (die ungleiche Behandlung gleich-rassifizierter Menschen aufgrund unterschiedlicher Hautfärbung), antiasiatischer-Rassismus, die Herabsetzung behinderter Menschen oder die Diskriminierung von Geflüchteten auch unter Migrant*innen, PoC und anderen marginalisierten Gruppen sind aber reale Probleme. Ebenso findet auch innerhalb migrantischer Gruppen eine Kulturalisierung von Konflikten und Kriminalität statt.
Viele Menschen mit Migrationsbiografien haben in der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft Zurückweisung, Ablehnung und Ausgrenzung erlebt. Um das zu kompensieren, um sich aus der Position der Marginalisierung herauszubewegen, werden dieselben Strategien angewandt, durch die sie selbst marginalisiert wurden und werden. In einem Dominanzdenken werden dann unter Umständen andere Menschen abgewertet, um sich selber schließlich über sie zu erheben. Die eigenen Rassismus-Erfahrungen schützen nicht davor, selber rassistisch zu agieren, Rassismen zu entwickeln und Menschen aufgrund von Differenzen abzuwerten.
Wenn man Rassismus nicht nur als Einstellung versteht, sondern auch als System, in dem Privilegien durch Anpassung erlangt werden können, erscheint es also gar nicht mehr so widersprüchlich, dass auch Menschen mit eigenen Rassismus-Erfahrungen eine extrem rassistische, menschenfeindliche und in großen Teilen rechtsextreme Partei wählen oder sich gar in ihr aktiv beteiligen. So können Menschen von Opfern beziehungsweise Betroffenen zu Profiteur*innen von Rassismus werden.
Fazit: Das neoliberale Versprechen und weiß versus Migration
Ist es nun also ein Widerspruch, dass eine zutiefst rassistische Partei auch von Menschen mit eigenen Rassismus-Erfahrungen gewählt wird und diese sich gar in ihr engagieren? Ja, aber einer, den die Partei in gewissem Maße auszuhalten fähig ist und der ihr durchaus auch nutzt. Schließlich scheint die AfD sich auch unter Migrant*innen als politische Antwort auf soziale beziehungsweise gesellschaftliche Probleme im Neoliberalismus profilieren zu können. Das kapitalistische Aufstiegsversprechen, durch Leistung ökonomisch und dadurch auch gesellschaftlich aufzusteigen, wird nur selten eingelöst – das erleben besonders Menschen mit Migrationsbiografien, die häufig aufgrund von strukturellem Rassismus schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben als weiße.
Widersprüchlich scheint es auch nicht, wenn wir uns an das völkische Verständnis von Kultur und Identität der AfD erinnern. Für viele AfD-Vertreter*innen sind Menschen mit beispielsweise sowjetischem oder postsowjetischem Hintergrund weiß-gelesen und werden in dieser Klassifizierung potenziell als Mitglieder der deutschen Kultur anerkannt. People of Color sind hingegen im Volksverständnis der AfD nicht mitgemeint. Und wenn doch, dann sind sie oft white passing, also Menschen, die für weiß gehalten werden, obwohl sie tatsächlich einer marginalisierten Gruppe angehören, die von der Mehrheitsgesellschaft nicht als weiß klassifiziert wird. Einige wenige Ausnahmen gibt es hingegen in der AfD. Diese wenigen PoC-Miglieder werden jedoch bewusst in der Öffentlichkeit lanciert. Die AfD spielt das Diversitäts-Theater mit, um weniger rechtsextrem zu wirken. Sie versucht damit, ihr Image aufzupolieren und sich auch für Menschen mit Migrationsbiografien als wählbare Alternative darzustellen. Das Verhältnis zu Migration und der Akzeptanz von einigen migrantisierten Gruppen scheint dabei als eine Reaktion und eine Anpassung an die deutsche Einwanderungsgesellschaft zu sein. Die deutsche Vielfaltsgesellschaft ist nun einmal geprägt von Migration. Diese Realität akzeptiert auch die AfD zu gewissen Teilen und reagiert darauf.
Letztendlich ist schwer zu sagen, wie hoch das Wähler*innenpotenzial für die AfD unter Migrant*innen ist. Es fehlen schlicht Studien zum Thema. Aber Abwertung, Diskriminierung und Rassismus finden sich auch in migrantischen Communitys. Abgesehen von der Gruppe der Russlanddeutschen scheint das Potenzial der migrantischen AfD-Wähler*innenschaft jedoch nicht allzu groß zu sein. Besonders die Islamfeindlichkeit und der antimuslimische Rassismus halten offenbar noch immer vor allem muslimische Wähler*innen davon ab, ihre Stimme der AfD zu geben. Auch der Verein Mit Migrationshintergrund für Deutschland von Robert Lambrou scheint nicht so stark zu wachsen, wie es sich die AfD wünschen würde. Gestartet ist er im Juni 2023 mit 36 Mitgliedern, acht Monate später sind lediglich 14 neue Mitglieder hinzugekommen. Dabei muss man als Mitglied nicht einmal einen Migrationshintergrund haben. Aber auch für die Gruppe der Russlanddeutschen müssen wir festhalten, dass 2017 immerhin 85 Prozent von ihnen nicht die AfD gewählt haben.
Statt zu fragen, weshalb auch Menschen mit Rassismuserfahrungen ihre Stimmen der AfD geben, sollten wir uns viel eher die Frage stellen, weshalb sie oft von der politischen Teilhabe ausgeschlossen werden, weshalb ihre Wahlbeteiligung stets unter dem Bundesdurchschnitt liegt und warum sich demokratische Parteien nicht stärker um diese Gruppen bemühen.
Den gesamten Text finden Sie im Buch, „Rechts, wo die Mitte ist: Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus“, erschienen im Unrast-Verlag.