Die Wahlkampfkampagne der wissenschaftlich mittlerweile als rechtsextrem einzustufenden Alternative für Deutschland (AfD) zielt darauf ab, drei Fliegen mit einem Slogan zu schlagen: Das Kampagnenmotto versucht nicht nur eine völkische Ideologie und entsprechende politische Positionen und Forderungen zu normalisieren, sondern stellt politisch Andersdenkende als Gefahr für das „normale“ Leben der Deutschen dar, während es gleichzeitig das Gedenken an den Holocaust als zentrales Element des modernen deutschen Selbstverständnisses ablehnt.
Die Kampagne wurde auf dem 12. Bundesparteitag der AfD im April 2021 vorgestellt, der aus zwei Gründen für Schlagzeilen sorgte: Zum einen fand der Parteitag mitten in der dritten Covid-19-Welle als Präsenzveranstaltung statt und diente der AfD als Bühne für das zur Schau stellen von „Normalität“ trotz steigender Infektionszahlen, mit dem die Partei ihre ablehnende Haltung gegenüber den Covid-19-Restriktionen und somit ihre Solidarität mit teilweise rechtsextremem Protesten von Querdenken und Co. einmal mehr Ausdruck verlieh (siehe taz). Zum anderen war das Verabschieden des Wahlprogramms für die diesjährige Bundestagswahl ein zentraler Punkt auf der Parteitagsagenda. Das nach zwei Tagen zäher, parteiinterner Diskussionen verabschiedete Programm enthält deutlich radikalere politische Positionen als das vorherige und fordert beispielsweise den Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union, Grenzzäune, die Abschiebung und „Re-Migration“ von Asylsuchenden und eine strikte Einwanderungspolitik nach japanischem Vorbild (siehe Spiegel). Während die AfD sich also klar für einen zunehmend extrem-rechtsnationalen politischen Kurs entschieden hat, versucht das Motto des Parteitages, das zugleich als Wahlkampfmotto fungiert, radikale Programmatik der Partei herunterzuspielen und lautet vermeintlich schlicht: „Deutschland. Aber normal.“
In seiner scheinbaren Einfachheit und Inhaltsleere erinnert der AfD-Spruch an andere bekannte und berüchtigte rechtspopulistische Slogans, wie etwa „Take back control“, den Slogan der „Leave“-Kampagne während des Brexit-Referendums oder Trumps „Make America Great Again“. Wie auch seine erfolgreichen Geschwister, sollte der AfD-Slogan keinesfalls unterschätzt werden, denn er ist komplexer, als er auf den ersten Blick erscheint. In der Tat ist der Slogan so strategisch inhaltsleer, dass er auf mindestens drei verschiedene Arten eine Sehnsucht nach „deutscher Normalität“ formuliert. Dies wird unter anderem im dazugehörigen Wahlwerbespot deutlich.
Das 80 Sekunden lange Video zeigt Aufnahmen von weißen, vermeintlich deutschen, Familien in Vergangenheit und Gegenwart in 1990er-Jahre-Homevideo-Ästhetik und hochauflösender Bildqualität, Kinder und Erwachsene die alltäglichen Tätigkeiten nachgehen, Luftaufnahmen von deutschen Städten und Landschaften sowie einen kleinen Hund, der auf einem Staubsaugerroboter durchs Bild reitet. Die Bildlandschaft wird von generisch-erbaulicher Musik begleitet, während eine freundliche Männerstimme die politischen Forderungen der AfD nach „sicheren Grenzen“ oder einer ethnonational definierten deutschen Heimat als „normal“ deklariert. Diese betonte Harmlosigkeit und Wohlfühlatmosphäre des Wahlkampfspots veranschaulichen die recht offensichtliche, wortwörtliche Lesart des Slogans, nämlich den Versuch, rechtsextreme politische Inhalte und ethnonationalistische Idealvorstellungen als „normal“ und somit legitime politische Position und erstrebenswerte Zukunftsvision zu etablieren.
Andere Sequenzen des Wahlkampfvideos kombinieren die von der freundlich-warmen Männerstimme gestellte Frage „Ist nicht ‚normal‘ genau das, was uns heute fehlt?“ mit Bildern junger Klimaaktivist:innen, linker Protestierender und Szenen, die die Auswirkungen der Covid-19-Restriktionen illustrieren. Klimaaktivismus, antirassistische Proteste und die Lockdownmaßnahmen der Bundesregierung werden somit als Störung einer idealisierten ”Normalität“ dargestellt. Ähnlich wie der berüchtigte Alt-Right Slogan „It’s ok to be white“ dienen diese Darstellungen dazu, das rechtsnationale Streben nach der Aufrechterhaltung einer etablierten, ethno-deutschen Vorherrschaft als die bloße Verteidigung des „normalen“, alltäglichen Leben der „gewöhnlichen Deutschen“ umzudeuten. Dabei wird die „Normalität“ einer strukturell rassistischen, den Klimawandel leugnenden und die Gefahren rechtsextremer Gewalt verharmlosenden Gesellschaft nicht nur zum Ideal konstruiert, sondern erscheint zudem als kostbar, gefährdet und schützenswert. Dies mobilisiert eine militante Normalität als gefühlt widerständische und geradezu heroische politische Position und impliziert die Notwendigkeit einer ständigen Wachsamkeit und einer Bereitschaft das „normale Leben durchschnittlicher Deutscher“ gegen „unnormale“ politische Gegner und progressive gesellschaftliche Strömungen verteidigen zu müssen.
Zu guter Letzt spricht der Slogan das geschichtsrevisionistische Verlangen an, sich als Deutsche:r „wieder normal zu fühlen“. Während diese Lesart des Kampagnenmottos nicht explizit formuliert ist, fällt sie doch jeder:m ins Auge, der:dem die Versuche der AfD bekannt sind, die deutsche Erinnerungskultur zu verändern und insbesondere den Holocaust und die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg und während des Nazi-Regimes zu verharmlosen und zu relativieren (siehe Centre for Analysis of the Radical Right). Nahezu untergehend in der Flut aus generischer Bild- und Musiklandschaft (und gleich nach dem staubsaugerreitenden Spitz), zeigt das Wahlkampfvideo eine fröhliche junge Frau, die ein mit Deutschlandfahne bedruckten T-Shirt trägt und zwei kleine Deutschlandfahnen schwenkt. Diese Szene, die unweigerlich an Fanmeilen und Fußballgroßveranstaltungen denken lässt, kommentiert die männliche Stimme aus dem Off mit den Worten: „Und ja, auch Deutschland ist normal“.
Was anderswo als geradezu banale Aussage oder Understatement gelten würde, kann in einem deutschen Kontext als implizite Ablehnung der „besonderen“ deutschen Erinnerungskultur gelesen werden und reproduziert indirekt die grundsätzliche AfD-Position, dass „die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus […] zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen [ist], die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst“, wie die Partei in ihrem 2016 beschlossenen Das Grundsatzprogramm schreibt.
In dieser Lesart wird „normal“ somit zu einer Chiffre für einen neu-rechten Ideologie- und Vorstellungsraum, der es erlaubt, das moderne Deutschland als völkische Gemeinschaft zu denken, die sich über „positive“ historische Errungenschaften und Ereignissen sowie ethnonationale Kontinuitäten definiert und für die Nazivergangenheit und Völkermord keine oder nur eine sehr untergeordnete Rollen spielen. Während diese Dimension des Wahlkampfmottos nicht auf den ersten Blick offensichtlich sein mag, kann der Slogan als zentrales Element in den „dog whistle politics“ der AfD gedeutet werden, in dem eine deutsche Sehnsucht nach dem sprichwörtlichen Schlussstrich unter dem Gedenken an Holocaust und Nazizeit widerhallt. Damit versucht die AfD vor allem jene 25 Prozent der deutschen Bevölkerung zu adressieren, die sich einer Umfrage zufolge nach einem Ende des Holocaustgedenkens sehnen und bereits überproportional unter den AfD-Wähler*innen vertreten sind (siehe Deutsche Welle).
Es wird sich zeigen, ob der Slogan sich im 2021-Wahlkampf als erfolgreich erweist und ob er es insbesondere vermag, parteiinterne Konflikte, die zu einer zentralen Herausforderung für sich die AfD werden könnten, zu überwinden oder zumindest zu überlagern. Es kann jedoch festgehalten werden, dass das Wahlkampfmotto weder ausschließlich ein verzweifelter Versuch ist die Partei, angesichts ihrer Beobachtung durch den Verfassungsschutz und dessen Einstufung der AfD als in Teilen rechtsextrem, als „normal“ und „harmlos“ darzustellen (siehe Spiegel und taz). Noch zielt der Slogan nur darauf ab, die Coronamüdigkeit und entsprechende Frustrationen in der deutschen Bevölkerung politisch auszunutzen, nachdem die AfD während der Pandemie leicht an Unterstützung verloren hatte, da das AfD-Kernthema, eine restriktive und ausgrenzende Migrationspolitik, kaum eine Rolle auf der politischen Agenda spielte.
Vielmehr hat das Motto das Potential zu einem „Catch-All“-Slogan, der so vage ist, dass er bedeutsam und somit ansprechend für verschiedene, sich teilweise überschneidende Wähler:innengruppen sein kann: Solche, die sich nach dem endgültigen Ende von Kurzarbeit und Maskenpflicht sehnen, solche die nicht auf Diesel, SUV, und ein extragroßes Steak auf dem Kohlegrill verzichten möchten, solche die weiterhin von rassistischen, antisemitischen, islamfeindlichen, patriarchalen und LGBTIQ*-diskriminierenden Strukturen profitieren und ausgrenzende Begriffe und Denkmuster „ja wohl noch sagen dürfen“ wollen, solche, die sich nur in einer Gesellschaft unter deutscher Vorherrschaft wohlfühlen, und solche, die sich einen „unbeschwert-normalen“ deutschen Patriotismus wünschen, der die Nazivergangenheit, den Holocaust und andere deutsche Verbrechen als, um den AfD-Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland zu zitieren, „Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte“ trivialisiert.
Dieser Artikel erschien zunächst auf Englisch auf RANTT Media und der Webseite des Centre for Analysis of the Radical Right (CARR). Sophie Schmalenberger promoviert über die AfD in einem erinnerungskulturellen Kontext an der Universität Aarhus in Dänemark.