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Die Ereignisse, die 2011 im Bereich Rechtsextremismus in Erinnerung bleiben

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1. Zwickauer Terrorzelle NSU – „Nationalsozialistischer Untergrund“

Auch wenn ihre Taten schon Jahre zurückliegen: Vor allem wird uns 2011 als das Jahr in Erinnerung bleiben, indem durch einen Zufall die Zwickauer Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) enttarnt wurde. Uwe Mundlos (38), Uwe Bönhardt (34) und Beate Zschäpe (36) begingen in der Zeit von 2000 bis 2007 mindestens 10 Morde und überfielen mindestens 14 Banken. Weitere Morde und Anschläge werden noch geprüft. Dass sie 13 Jahre lang untergetaucht in Thüringen und Sachsen leben, morden und rauben konnten, offenbart nicht nur Abgründe in den Verfassungsschutzämtern der Länder und demonstriert auf das Übelste die mangelhafte Zusammenarbeit zwischen Verfassungsschutz und Polizei, wenn es darum geht, die Menschen in Deutschland zu schützen. Die Ermittlungen zur NSU illustrieren auch den weiter verbreiteten Rassismus in Deutschland: Die Morde waren bisher nie in rechtsextremem Zusammenhang wahrgenommen worden, obwohl die Familien der Opfer dies immer wieder forderten; rassistisch als „Döner-Morde“ bezeichnet, ermittelte die „Soko Bosporus“ auf der Suche nach Tätern ausschließlich im migrantischen Milieu. Dass es eine reale rechtsextreme Terrorzelle in Deutschland gegeben hat, die ihrem rassistischen und demokratiefeindlichen Hass in Morden Ausdruck verlieh, erschütterte ganz Deutschland. (Mehr: NSU auf ngn.de)

2. Anschläge in Oslo und auf Utøya mit 77 Toten durch Islamhasser Anders B. Breivik

Auch das zweite Ereignis 2011 ist ein grausiges: Im norwegischen Oslo zündet der 32-jährige Anders Behring Breivik am 22. Juli 2011 um 15.30 Uhr eine Autobombe im Osloer Regierungsviertel, die sieben Menschen das Leben kostete. Danach verkleidet er sich als Polizist und fährt mit einer Fähre auf die Insel Utøya, auf der gerade ein Kinder-Ferienlager der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF stattfand. Er ruft dort die rund 700 auf der Insel anwesenden Menschen zusammmen und eröffnet dann das Feuer. B. schießt 90 Minuten lang auf die Jugendlichen von 16 bis 21 Jahren. Dabei kamen 77 Menschen ums Leben. Breiviks Motiv: Nationalistischer Islam-Hass. Er pflegte und schürte diesen zuvor jahrelang in einschlägigen Internetforen und Blogs, bereitete die Tat akribisch vor und dokumentierte seine zu Grunde liegenden menschenfeindlichen Ideen folgerichtig ausgiebig im Internet. Breivik sitzt in Haft, der Prozess ist in Vorbereitung – und ganz Norwegen hadert damit diesem Menschenfeind keine Bühne zu bieten, die Breivik in dem Prozess suchen wird (Mehr: Die Attentate auf ngn.de).

3. Zwei Todesopfer rechtsextremer Gewalt in Deutschland 2011

Medial weitaus weniger begleitet – weil zeitlich vor den Punkten eins und zwei liegend – wurden zwei Todesopfer rechtsextremer Gewalt, die Deutschland 2011 zu beklagen hatte:

Duy-Doan Pham, 59 Jahre, Neuss
Am 27. März 2011 wurde der Obdachlose N.N. mit vietnamesischem Migrationshintergrund (Name nach aktuellem Kenntnisstand nicht bekannt) in Neuss (Nordrhein-Westfalen) Opfer zweier Männer im Alter von 18 und 38 Jahren. Zunächst raubten die Täter ihr Opfer aus. Aus Angst, er könne bei der Polizei aussagen, schlugen sie zehn Minuten lang auf den 59 Jahren alten Vater dreier Kinder ein. Anschließend beobachteten sie ihn beim Sterben, bis ihr Opfer an seinem Blut erstickte. Der 18 Jahre alte Täter hatte Hakenkreuze auf seiner Brust tätowiert und unterhielt Kontakte zu Neonazis. Während des Prozessauftaktes vor dem Düsseldorfer Landgericht sagte der 18-Jährige, dass er manche Einstellungen der Nazis teile. Auf Nachfrage des vorsitzenden Richters bezeichnete er Ausländer als „Kanacken“. Der Prozess läuft noch.

André K., 50 Jahre, Oschatz
Am 27. Mai 2011 wurde der Obdachlose André K. in Oschatz (Sachsen) von drei Männern im Alter von 25 bis 36 mit Schlägen und Tritten schwer misshandelt. Zeugen fanden ihn blutüberströmt und mit schwersten Kopfverletzungen im Wartehäuschen des Oschatzer Südbahnhofs. Sechs Tage später starb der 50-Jährige an den Folgen des Angriffs. Mindestens einer der Angreifer ist ein bekennender Neonazi. Nach derzeitigem Ermittlungsstand haben sich die vermeintlich rechten Schläger verabredet um Andre K. aus Hass gegen „Asoziale“ und „Penner“ anzugreifen. Sie sollen ihn mit Schlägen und Tritten malträtiert und anschließend einfach liegen gelassen haben. Der Tod von André K. hat überregional nur sehr wenig Beachtung gefunden.

(Mehr: Todesopfer rechtsextremer Gewalt auf ngn.de)

4. Außergewöhnliche Gewalttat: Rassistische Menschenjagd in Winterbach Rems-Murr-Kreis

Auf einem Gartengrundstück in der 7.700-Menschen-Stadt Winterbach (Rems-Murr-Kreis) feiern im April rund 70 „vorwiegend der rechtsextremen Szene zuzuordnende“ Gäste einen Geburtstag. 10 bis 20 Gäste beleidigen später in der Nacht auf dem Nachbargrundstück sechs junge Männer mit Migrationshintergrund als „Scheißkanacken“ und drohen „Wir machen Euch fertig“. Dann greifen sie an. Fünf Migranten flüchteten in eine Gartenhütte. Einer der rechtsextremen Verfolger steckt die Hütte mit einem brennenden Ast in Brand, während die anderen neben ihm stehen. Die Angegriffenen setzten per Handy einen Notruf ab und ließen sich telefonisch bewegen, die Hütte zu verlassen. Sie erlitten unter anderem Rauchvergiftungen. Die Gartenhütte brannte vollständig nieder. Die Tat löste eine Welle der Empörung aus. Zwei mutmaßliche Täter stehen deshalb aktuell in Stuttgart vor Gericht (mehr auf Endstation rechts).

5. Rechtsextremer Bombenbastler aus Weil am Rhein kommt ohne Anklage davon
Der Fall des damals Rechtsextremen aus Weil am Rhein, der als Stützpunktleiter der Jungen Nationaldemokraten in Lörrach bekannt war, ging im September 2009 durch die Presse: Nach einem anonymen Hinweis nahm die Polizei den damals 22-Jährigen fest – und fand bei ihm ein Handbuch zur Herstellung von Schwarzpulver, ein Schweizer Sturmgewehr samt Munition, dass als „Kriegswaffe“ gilt, Messer, die unter das Waffengesetz fallen – und eben 22 Kilogramm chemische Rohmaterial zum Bombenbau: Kalkammonsalpeter, Wasserstoffperoxid, Schwefelsäure, Nitromethan und Calciumkarbid. Bestellt hatte der Thomas B. die Materialien sukkzessiv und systematisch im Internet, zum Teil über die Adressen anderer Rechtsextremer. Die Polizei gab damals an, noch nie habe man eine größere Menge derartigen Materials bei Neonazis in Deutschland gefunden. Das müsste reichen, um den Straftatbestand „Vorbereitung eines Explosionsverbrechens“ zu erfüllen? Leider legte der Bombenbauer keinen Zettel daneben, was genau er mit der Bombe angreifen wolle – und so wurde die Anklage fallen gelassen. Er kommt einfach davon (mehr auf ngn.de).

6. NPD: Missglückte Fusion und neuer Chef
Für die NPD war 2011 nicht gerade ein Glanzjahr. Im Januar geben NPD-Chef Udo Voigt und DVU-Chef Matthias Faust die Fusion der beiden größten rechtsextremen deutschen Parteien bekannt – in der NPD wurde das gleichgültig, in der DVU empört aufgenommen und auch Rechtsstreitigkeiten deshalb begonnen – so bleibt bisher die Frage, ob Faust bevollmächtigt war, die Fusion einzuleiten, ungeklärt. Aber faktisch ist sie vollzogen und die DVU tot bis handlungsunfähig. Bei Wahlen blieb die NPD 2011 erfolglos, kam nicht in die Bremer Bürgerschaft und nicht ins Berliner Abgeordnetenhaus, auch in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gab es keine Erfolge. Besonders bitter für die Neonazi-Partei: Der recht sicher geglaubte Einzug in den Landtag von Sachsen-Anhalt scheiterte. Lediglich in Mecklenburg-Vorpommern gelang der Wiedereinzug in den Landtag. Am Ende des Jahres musste nach 15 Jahren Udo Voigt seinen Hut nehmen: Der neue bundesweite NPD-Vorsitzende heißt Holger Apfel.

7. Dresden: Neonazi-Aufmarsch blockiert und hinterher schickaniert
Der Neonazi-Aufmarsch in Dresden wurde auch 2011 erfolgreich blockiert – doch an den Blockadepunkten war in diesem Jahr auch mehr Anspannung zu spüren. Die Polizisten hatte die deutliche Ansage bekommen, den Neonazis ihre Demonstration zu ermöglichen. Während sich die Nazis am 19. Dezember auf dem Bahnhofsgelände langweilten und Dresden als Misserfolg verbuchen mussten, hatten auch die Gegendemonstrant/innen nur kurzen Grund zur Freude. Es kam zu Polizeigewalt gegen Gegendemonstrant/innen, es gab einen Nazi-Angriff auf ein alternatives Wohnprojekt, bei dem die Polizei zusah, und im Anschluss an den Nazi-Aufmarsch unverhältnismäßige Hausdurchsuchungen bei Pressebüros, Anklagen gegen Jugendpfarrer und Handydaten-Auswertungen von 60.000 Menschen, die sich im Umfeld der Demonstration aufhielten.

8. Unsterbliche: Volkstod als Popkultur

Die Kampagne der „Unsterblichen“ belegt die Wichtigkeit von Internet und sozialen Netzwerken für die rechtsextreme Szene – und die Freude an rechtsextremem Nervenkitzel: Unter dem Label der „Unsterblichen“ treffen sich Neonazis unangemeldet nachts in Städten, verhüllen ihre Gesichter mit weißen Masken und laufen mit brennenden Fackeln durch menschenleere Wohngebiete – um diese Aktionen unterlegt mit dramatischer Musik und gefilmt aus monumentaler Perspektive bei Videoportalen einzustellen und über die sozialen Netzwerke zu vermarkten. Die Videos sind so gut gemacht, dass sie weite Verbreitung finden – und Nachahmer/innen in zahlreichen Städten.

9. Extremismusklausel gängelt Projekte
Seit 2011 müssen Projekte, die gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus arbeiten und dafür vom Bundesfamilienministerium im Programm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ gefördert werden wollen, eine „Extremismusklausel“ (auch „Demokratieerklärung“ genannt) unterzeichnen. Damit sollen die Projektmitarbeitenden bestätigen, dass sie auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen – und auch alle ihre Partner/innen überprüfen, ob sie das auch tun. Für die Projektarbeit ist der zweite Teil der Forderung unerfüllbar – aber auch der erste bereits eine grobe Misstrauens-Unterstellung gegenüber Projekten, die zum Teil seit Jahren erfolgreich für eine demokratische Kultur arbeiten. Allerdings hat die „Extremismusklausel“ nicht nur arbeitspraktische Auswirkungen – sie hat auch die Diskussion über Arbeit gegen Rechtsextremismus maßgeblich beeinflusst. Eine leichtfertige Kriminalisierung der Arbeit gegen Rechtsextremismus ist im Agieren von Behörden, der Berichterstattung der Medien und in den Diskussionen in öffentlichen Foren im Internet spürbar (Tenor: Wer gegen Rechtsextremismus ist, ist potenziell linksextrem, bis er oder sie das Gegenteil beweist). Dies animiert und ermutigt nicht gerade, sich gegen Rechtsextremismus aktiv einzusetzen – und zerstört so die Intention, die Förderprogramme gegen Rechtsextremismus eigentlich haben (sollten).

Mehr auf netz-gegen-nazis.de:

Jahresrückblicke 2011

| Die Ereignisse, die 2011 im Bereich Rechtsextremismus in Erinnerung bleiben
| Baden-Württemberg: Gewalttätige und bewaffnete Nazi-Strukturen
| Bayern: „Unpolitische“ Neonazis und „gefährliche“ Demokrat_innen
| Berlin: Brandanschläge und verheimlichte Demonstrationen
| Brandenburg: „Spreelichter“ und „Unsterbliche“
| Bremen: Von Wahlkampf und unpolitischen Überfällen
| Hamburg: Rechtsextreme PR-Offensive
| Hessen: Gaskammerpartys und terrorisierte Nachbarn
| Mecklenburg-Vorpommern: Gewalt innerhalb und außerhalb des Wahlkampfes
| Niedersachsen: Bald mit qualifizierter Opferberatung
| Nordrhein-Westfalen: Nazis setzen auf Islamfeindschaft und Gewalt
| Rheinland-Pfalz: Verfestigung der Strukturen und „Blood & Honour“-Konzerte
| Saarland: Proteste gegen „Deutschenfeindlichkeit“ undPotenzielle NSU-Morde
| Sachsen: Ein Todesopfer, eine Terrozelle und viele Nazi-Events
| Sachsen-Anhalt: Gerichtserfolg für Neonazikonzert und knapp verpasster Landtagseinzug
| Schleswig-Holstein: Legitimationsstrategie im Landtagswahlkampf
Thüringen: Mehr als NSU: Rechtsrock-Events und ein neues Schulungszentrum

| Belltower.news 2011

Jahresrückblick 2010

| Jahresrückblick 2010: Top Ten Ereignisse

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In den letzten Wochen wurde die Anwältin Seda Başay-Yıldız massiv bedroht, eine Serie politisch motivierter Brandstiftungen richtete sich gegen linke Wohnprojekte im Rhein-Main-Gebiet. Mit der „Frankfurter Erklärung in Solidarität mit den Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“  stärken zivilgesellschaftliche Organisationen die Betroffenen.

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