Verschwörungserzählungen, Fake News, Lügen: Auf die Corona-Pandemie folgt die „Infodemie“, die pandemische Verbreitung von Falschinformationen rund um das Virus und die staatlichen Gegenmaßnahmen. Nicht zuletzt in Internetforen finden sich Tausende von Corona-Rebellen zusammen, die ihren Protest gegen den verordneten „Lockdown“ bald darauf auf die Straßen und Plätze der Republik tragen – vorgeblich im Namen von Grundrechten und Demokratie. Dafür hat Umfragen zufolge rund ein Viertel der Deutschen Verständnis (vgl. Spiegel). Was macht die Attraktivität der Bewegung aus? Dieser Frage gehen wir am Beispiel von Rheinland-Pfalz nach.
Im gesamten Land gibt es Regionalgruppen, die sich bei Telegram zu Spaziergängen in den
Innenstädten verabreden und diese De-facto-Demonstrationen oft nicht anmelden. Ende April 2020 demonstrieren in Koblenz erstmals circa 40 Personen, zwei Wochen später kommen bereits 300, parallel dazu protestieren weitere 200 in Mainz. Unter der Woche finden Versammlungen in vielen Städten vom Westerwald bis in die Pfalz statt. An den Protesten nehmen Menschen aus ganz verschiedenen Milieus mit unterschiedlichen Motivationen teil: Darunter sind um ihre Existenz besorgte Künstler, sogenannte Impfkritiker, Globalisierungsgegner, Esoteriker, evangelikale Christen, „Reichsbürger“, Rechtspopulisten und Neonazis. In Bad Marienberg etwa werden die Proteste von Rechtsextremen organisiert, die für ihren Pegida-Ableger Bekenntnis zu Deutschland bekannt sind. Viele Teilnehmer stellen demonstrativ ihre Ablehnung der Schutzbestimmungen zur Schau, indem sie den verordneten Mindestabstand nicht einhalten oder keinen oder einen sichtbar durchlässigen Mundschutz tragen.
Was sie alle vordergründig eint, ist die gemeinsame Ablehnung der staatlichen Maßnahmen gegen die Pandemie. Einige sind in Sorge um die eigene Existenz, das gesellschaftliche Zusammenleben oder die Grundrechte. Solche berechtigten Befürchtungen müssen freilich demokratisch diskutiert werden. Dieser legitime Ansatz vermischt sich auf den Versammlungen der Corona-Rebellen jedoch mit hanebüchenen Verschwörungsmythen, die die Ursachen der aktuellen Krise erklären sollen. Dabei wird das Coronavirus entweder als harmlose Grippe dargestellt oder sein Vorhandensein schlichtweg geleugnet – entgegen allen bisherigen Erkenntnissen der Wissenschaft.
Weiterhin behaupten die Rebellen, in Deutschland werde eine Diktatur errichtet, eine überzeugende Begründung dafür bleiben sie allerdings schuldig. So beklagen sie etwa einen angeblichen Verlust von Meinungs- und Versammlungsfreiheit, während sie ebendiese regelmäßig ausüben. Teils berufen sich sogar „Reichsbürger“ auf das Grundgesetz, die sonst dessen Gültigkeit und die Souveränität der Bundesrepublik bestreiten.
Vor sich her tragen die Corona-Rebellen einen Gestus des „Querdenkens“. Sie möchten sich nach eigenem Bekunden unter keinen Umständen eine politische Position vorgeben lassen – insbesondere nicht von den „Mainstream-Medien“. „Informiert Euch! Es ist Zeit zum Selberdenken!“, lautet der Appell auf einem Flugblatt, das in Trier verteilt wird. Sie trauen sich selbst und ihren Mitstreitern offenkundig zu, die Lage umfassend zu beurteilen. Gemeinhin anerkannte Experten wie den Virologen Christian Drosten halten sie für ebenso korrupt und manipulativ wie die Gesamtheit der etablierten Politiker. Was es ihrer Auffassung nach braucht, um die Wahrheit hinter deren Lügen zu erkennen, sind Informationen aus den richtigen, also „alternativen“ Quellen sowie der altbekannte „gesunde Menschenverstand“. Das narzisstische Gefühl, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben, verschafft ihnen emotionale Befriedigung.
Freilich führt schon die Tatsache, dass die allermeisten unter ihnen letztlich dieselben kruden Thesen aus den immer gleichen zweifelhaften Quellen ohne jedwedes ernsthafte Hinterfragen übernehmen, das Mantra von der Eigenständigkeit des Denkens ad absurdum. Als Nächstes wollen wir einige der Mechanismen ihrer Mobilisierung aufzeigen.
Widerstand gegen die Diktatur
Bei den Demonstrationen der Corona-Rebellen sind zahlreiche Merkmale des Rechtspopulismus wiederzuerkennen. Dazu gehört maßgeblich ein allgegenwärtiges Freund-Feind-Schema, in diesem Fall hauptsächlich in den Formen „Wir, das Volk, gegen die diktatorische Regierung“ und „Wir gegen Gates“. In der oft betonten Beteuerung, weder „links“ noch „rechts“, sondern bloß „Mensch“ zu sein, scheint die Idee eines einheitlichen Volkswillens auf. Danach wären alle Bürger einer Meinung und Diskussionen zwischen politischen Lagern somit grundsätzlich überflüssig. Der einheitliche Wille müsste bloß noch umgesetzt werden. Äußert doch einmal jemand eine abweichende Ansicht, wird er zurechtgewiesen – so soll die Einheit wiederhergestellt werden. Hier zeigt sich der antidemokratische Charakter der Bewegung besonders deutlich.
In ihrem Selbstbild sind die Rebellen demokratische Freiheitskämpfer, die sich selbstlos für das Gute aufopfern. Gegenseitig machen sie sich Angst vor der Regierung und erleben im „Widerstand“ gegen die Staatsgewalt kollektive Freude und Erfolge; etwa dann, wenn sie trotz Distanzierungsgebot und Versammlungsverbot Demonstrationen oder niedrigschwellige Spaziergänge durchführen.
Wer die Regeln des Infektionsschutzes bricht und dabei mit der Polizei aneinandergerät, erscheint den Rebellen als widerständiger Held. Die Bewegung verbreitet Videos von solchen Auseinandersetzungen mit der Polizei bei Telegram, weil sie greifbare Opfer braucht, die das Narrativ vom diktatorischen Staat, der gewaltsam gegen friedliche Bürger vorgeht, untermauern. Unterlässt es die Polizei jedoch einzuschreiten, fühlen sie sich in ihrem Handeln bestätigt und werden die staatliche Autorität künftig noch weniger anerkennen.
Zunächst tun sich Ordnungsämter und Polizei schwer damit, einen Umgang mit den Versammlungen zu finden. In Trier begleiten sie etwa die ersten drei zwar nicht offiziell angemeldeten, aber immerhin öffentlich beworbenen Demonstrationen gar nicht. In Koblenz machen die Behörden Auflagen für angemeldete Versammlungen, die von vielen Teilnehmern permanent missachtet werden. Vor Ort ist die Polizei offenbar überfordert damit, deren Einhaltung durchzusetzen. So feiert die Bewegung fast ungestörte Erfolge. Das Koblenzer Ordnungsamt zieht später die Konsequenz, weitere Versammlungen der Anmelderin Sabiene Jahn zu verbieten, weil sie die Auflagen nicht durchsetzt. Eine unangemeldete Kundgebung in Landau löst die Polizei auf (vgl. Rheinpfalz).
Die Trierer Polizei verhindert Mitte Mai ein geplantes Treffen, noch bevor sich Teilnehmer zu einer größeren Menschenansammlung zusammenfinden können, ist bei zwei späteren Demonstrationen aber wiederum nicht im Einsatz; seit Ende Mai schließlich begleitet sie die unangemeldeten Demonstrationen und ermittelt wegen der fehlenden Anmeldungen gegen unbekannt. Dieser Flickenteppich erweckt tatsächlich den Eindruck staatlicher Planlosigkeit und Überforderung – oder der Willkür. Es liegt an den Behörden, einen gangbaren Weg zur Durchsetzung infektionspräventiver Auflagen zu finden, ohne unverhältnismäßig repressiv zu agieren. Generelle Versammlungsverbote wirken eher kontraproduktiv, weil sie die Opferinszenierung begünstigen.
Demonstranten stilisieren sich auch jenseits der direkten Konfrontation mit dem Staat zu Opfern. So deuten sie die Schutzmaske gerne zum „Maulkorb“ zur Unterdrückung unliebsamer Meinungen um,
wähnen sich angelehnt an George Orwell in der „Covid-1984“-Dystopie oder heften sich gar einen Judenstern an: Statt „Jude“ steht „nicht geimpft“ darauf geschrieben; die Träger glauben wohl, bereits entrechtet zu sein, verfolgt zu werden und bald einer gezielten staatlichen Vernichtung zum Opfer zu fallen. Mehr Pathos und Geschichtsblindheit kann wohl kein anderes Symbol in sich vereinen.
Proteste gibt es während der Corona-Pandemie immer wieder. Zunächst dominieren im März und April linke Demonstrationen der Seebrücke für die Evakuierung des griechischen Flüchtlingslagers Moria die öffentliche Wahrnehmung. Obwohl diese Versammlungen häufig verboten sind, finden sich hier Personen unter Einhaltung vernünftiger Maßnahmen (wie des Tragens von Masken und der Wahrung des Mindestabstands) zusammen. Mitte April entscheidet das Bundesverfassungsgericht, dass Demonstrationen nicht grundsätzlich ohne Einzelfallprüfung verboten werden dürfen, und macht damit den Weg frei für legale Versammlungen im Einklang mit dem Infektionsschutz.
Die größten Proteste von Corona-Rebellen finden am 9. und 16. Mai mit jeweils mehr als 5000 Teilnehmern in Stuttgart statt. Zu dieser Zeit sind Versammlungen also legal wieder möglich, bereits in Kraft getreten sind weitreichende Lockerungen im Einzelhandel sowie in Kultur- und Freizeiteinrichtungen. Auch die Kontaktbeschränkungen sind bereits gelockert, sodass sich wieder zwei Haushalte im öffentlichen Raum treffen dürfen. Die rechte Rebellion erreicht also mit den Lockerungen ihren Höhepunkt, nicht mit den Beschränkungen. Hierin zeigt sich die Irrationalität der Protestierenden besonders deutlich: Die etablierte Politik hat den von ihnen so vehement geforderten Weg längst eingeschlagen – allerdings weniger mit Rücksicht auf die Proteste denn zugunsten der Wirtschaft. So sieht keine ernsthafte Revolte gegen die herrschende Ordnungaus. Darüber täuscht auch die Selbstverortung der Rebellen in der Tradition der DDR-Montagsdemonstrationen nicht hinweg.
Widersprüche, Lügen, Andeutungen
Bei den Corona-Rebellen ist kein Interesse an Sachbezogenheit sowie stringenter Argumentation erkennbar. Die aufgestellten Behauptungen erweisen sich bei näherem Hinsehen meist schnell als haltlos, weil es an plausiblen Begründungen fehlt und sie mit der beobachtbaren Wirklichkeit offenkundig nicht übereinstimmen. Teils knüpfen diese Mythen an einzelne Fakten an, jedoch werden daraus unlogische Schlussfolgerungen gezogen. So stimmt zum Beispiel die Aussage, Bill und Melinda Gates finanzierten die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über ihre Stiftung zu einem erheblichen Teil. Nur folgt daraus nicht, dass sie auch deren politische Ausrichtung bestimmen würden, geschweige denn, dass sie dadurch irgendeinen Einfluss auf nationale Gesundheitspolitiken hätten.
Die vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Virus weisen sie von vornherein zurück. Umso mehr stürzen sie sich auf vermeintliche Ungereimtheiten, um diese wie fehlende Puzzleteile in die vorgefertigte verschwörungsmythische Schablone einzufügen. Den Rebellen geht es also offensichtlich nicht um einen wirklichen Erkenntnisgewinn, sondern um Komplexitätsreduktion und Schuldzuweisungen.
Zusätzlichen Halt finden sie dabei immer wieder bei „alternativen“ wissenschaftlichen Experten wie dem Hals-Nasen-Ohren-Arzt Dr. Bodo Schiffmann. Er suggerierte zum Beispiel, es fänden keine Autopsien verstorbener Corona-Patienten statt. Richtig ist, dass das Robert-Koch-Institut (RKI) auf die gesundheitlichen Gefahren von Obduktionen aufmerksam machte und riet, diese auf ein nötiges Mindestmaß zu beschränken. Später ändert das Institut seine Einschätzung und betont, dass Obduktionen zum Verständnis von Covid-19 beitragen können.
Insoweit hat man es mit dem normalen wissenschaftlichen Diskussionsprozess zu tun, zu dessen elementarsten Merkmalen das Revidieren überholter Hypothesen gehört. Für die Corona-Rebellen aber ist Schiffmann der Kronzeuge, der das RKI ein für alle Mal Lügen gestraft hat. Ein weiteres klassisches Instrument autoritärer Agitation, das sich bei den Rebellen wiederfindet, ist die mehr oder minder subtile Andeutung verborgener „Wahrheiten“. An die Stelle klarer Aussagen treten dabei vage Hinweise. Das entspricht dem Gestus des kritischen Selberdenkens und verdeckt zugleich inhaltliche Inkonsistenzen. So werden bestimmte Vorstellungen beispielsweise häufig als (rhetorische) Fragen formuliert: „Starben wirklich so viele an Covid-19?“ oder: „Warum hat Schweden keine dramatische Todesstatistik, obwohl kein Lockdown stattfand?“ Auf diese Weise kann Verschwörungsideologie propagandistisch verschlüsselt werden, wobei die Entschlüsselung freilich meist nicht schwerfällt. Das adressierte Publikum versteht ohnehin, was gemeint ist, und begreift sich umso mehr als verschworene Gemeinschaft von Bescheidwissern.
Sündenböcke, Geraune, Katastrophenszenarien
Unmittelbare Schuldzuweisungen an Minderheiten sind bei den Corona-Rebellen eher selten zu beobachten; im Gegenteil gibt man sich teilweise betont inklusiv und vielfältig. Ihre Schuldigen findet die Bewegung stattdessen weitgehend im Establishment: die Regierung, die Leitmedien, das RKI – und ganz besonders den US-Milliardär und Microsoft-Gründer Bill Gates (mitunter auch seine Ehefrau Melinda), der die angebliche Entwicklung des Virus in einem Labor finanziert haben soll. Über die Bill & Melinda Gates Foundation habe er die WHO, das in Deutschland für die Bekämpfung der Pandemie zuständige RKI, die „Mainstream-Medien“, ja eigentlich die ganze Welt unter seine Kontrolle gebracht. Nun wolle er die Pandemie zum Anlass nehmen, um den Bürgern bei vermeintlich bevorstehenden Zwangsimpfungen heimlich Mikrochips einzupflanzen und sie damit zu überwachen oder gar ihre Gedanken zu steuern. Teilweise steht auch Gates vermeintliches finanzielles Interesse an Zwangsimpfungen im Vordergrund. „Gib Gates keine Chance“ steht darum inzwischen auf Schildern und T-Shirts, die im Stile der „Gib Aids keine Chance“-Kampagne gehalten sind.
Indem die Corona-Rebellen Gates mit dem prominenten Slogan an die Stelle der Aids-Seuche setzen, entmenschlichen sie ihn und legen nahe, ihn vom Erdboden zu tilgen. In ihrem Weltbild spielt er die Rolle eines mächtigen und bösartigen Strippenziehers, der das „einfache Volk“ mit Impfstoffen vergiften will, um sich über von ihm kontrollierte Pharmakonzerne persönlich zu bereichern. Damit greifen sie eine ganze Reihe klassischer antisemitischer Vorstellungen auf und wenden sie gegen Gates: Die Juden hätten die Pestseuche verbreitet; sie wollten die Menschen vergiften; sie träfen im Hintergrund insgeheim die eigentlichen Entscheidungen; sie wollten nur Geld scheffeln. Verschwörungsmythen liefern keine plausiblen Erklärungen für komplexe Vorgänge, sondern präsentieren bloß Einzelpersonen, die als Sündenböcke fungieren. Auf diese Weise wird die Komplexität der Welt gedanklich auf ein bequem zu konsumierendes Minimum reduziert.
Ein Flugblatt der Corona-Rebellen in Trier etwa stellt apropos Gates bloß Fragen, zum Beispiel: „Erhält das RKI von Bill Gates Geld?“ Getarnt als Frage, versteckt sich hierin aber die absurde Unterstellung, das RKI wäre abhängig von Gates, der daher die 1.100 Mitarbeiter unter seiner Kontrolle hätte. Der sogenannte kritische Anspruch ist bestenfalls Bauernschläue: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“ Weil die sachliche Beschäftigung mit Inhalten zu schwierig und zu unbefriedigend wäre, muss jeder Zusammenhang zwanghaft personalisiert werden. Sodann kann man aus tatsächlichen oder imaginierten Personenbeziehungen oder bloßen Korrelationen (zwei Ereignisse hängen irgendwie miteinander zusammen) scheinbare Kausalitäten (das eine Ereignis ist die Ursache des anderen) konstruieren.
Mit den Behauptungen, die Bundesregierung oder Bill Gates wollten die Diktatur einführen und das Volk versklaven, wird nicht nur Schuld zugeschrieben, sondern werden überdies Katastrophenszenarien beschworen. Das verstärkt die Verunsicherung der Rebellierenden, woran autoritäre Propaganda wiederum anknüpfen kann, indem sie einen vermeintlichen Ausweg anbietet.
Entlastende Realitätsverweigerung
Weiter ruft das Trierer Flugblatt dazu auf, in Telegram-Gruppen nach Gleichgesinnten zu suchen, sich also aktiv in Echokammern zu begeben, in denen ständig die gleichen Inhalte wiederholt und verbreitet werden. Influencer wie Ken Jebsen, Eva Herman, Attila Hildmann und Bodo Schiffmann geben der Bewegung dort die Marschrichtung vor. Das ist das Gegenteil einer idealen demokratischen Öffentlichkeit, in der unterschiedliche Meinungen angehört, überprüft und kritisch diskutiert werden.
Offline zeigt sich dasselbe Muster von Harmoniesucht gepaart mit Diskursunfähigkeit. Auch die „Querdenkerbommel“, ein Symbol der Corona-Rebellen, hilft dabei, sich von vornherein auf Gesprächspartner zu beschränken, die man sofort als Gleichgesinnte oder Sympathisanten erkennen kann und von denen daher kein Widerspruch zu erwarten ist. Man richtet sich ein in einer alternativen Realität.
Die basalen Tatsachen der Krise blenden die Rebellen beharrlich aus, darunter: die exorbitante Anzahl an Menschen, die hierzulande und weltweit nachweislich bereits an Covid-19 gestorben sind; die vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über die schlechtestenfalls exponentielle Verbreitung des Virus sowie über die erhebliche Gefährlichkeit von Covid-19; die Wirksamkeit des Lockdowns hinsichtlich der Reduktion der Infektionsrate; die Wirksamkeit bestimmter Schutzmaßnahmen der Isolation, des Abstandhaltens und der Hygiene; die Notwendigkeit, zur Rettung von Menschenleben einen Impfstoff gegen das Virus und/oder wirksame Behandlungsmethoden gegen Covid-19 zu entwickeln; die Herkunft des Virus aus China.
Was neben all den wirren Gedanken über die ganz große Weltverschwörung bei den Corona-Rebellen ebenfalls keinen Platz findet, sind rationale und lebensnahe Überlegungen hinsichtlich der Folgen der Pandemie und Vorschläge zur wohlüberlegten Neujustierung der staatlichen Gegenmaßnahmen. Kaum ein Wort verlieren sie zu wirtschaftlichen Problemlagen von Arbeitnehmern, unbedacht bleiben die Überbelastung von Frauen wegen unzureichender Kinderbetreuung oder auch Vereinsamung und Depression. Das ist umso erstaunlicher, als nicht wenige unter den Rebellen selbst genau davon betroffen sein dürften.
Geht es um die Auswirkungen der Krise auf die Gesellschaft, fällt bei ihnen immer wieder das Stichwort „Angst“. Ganz offensichtlich hat ein relevanter Teil der Bevölkerung Angst vor Covid-19 und den Langzeitfolgen der Pandemie. Die Rebellen meinen, die Regierung nutze diese Angst aus, um hinterrücks eine Diktatur einzuführen. Tatsächlich sind sie es selbst, die sich und ihrem Publikum die Angst vor der Diktatur einreden. Sie selbst verbreiten Angst, indem sie ohne Mundschutz einkaufen gehen oder bei Demonstrationen keinen Mindestabstand zu Journalisten, Polizisten und Passanten halten. In diesen Momenten verbindet sich ein narzisstisches Gefühl der Unbesiegbarkeit mit der Gelegenheit einer Machtdemonstration gegenüber Dritten, woraus die Rebellen einen sadistischen Lustgewinn ziehen können.
Offenkundig gehört es zu den Launen der Natur – obschon nicht ohne menschlichen Einfluss –, Viren hervorzubringen, die dem Menschen in erheblichem Maße gefährlich werden können. Auch ist die gegenwärtige Pandemie mitnichten die erste ihrer Art. Dass derartige Geschehnisse auf dieser Erde im Bereich des Möglichen liegen, ist sattsam bekannt. In der kategorischen Weigerung der Corona-Rebellen, die überdurchschnittliche Gefährlichkeit der gegenwärtigen Pandemie anzuerkennen, kommt ihr tief sitzender Antirationalismus zum Ausdruck. Ihr angebliches kritisches Nachdenken, auf das sie so stolz sind, ist keines, weil es statt nach Erkenntnis bloß nach emotionaler Befriedigung strebt. Abgekoppelt von der Welt, wie sie ist, dreht sich ihr ständiges „Hinterfragen“ selbstbezüglich im Kreis. Die immer gleichen Antworten, die es liefert, stehen von vornherein fest. Insofern sie die Gefahr nicht vollständig bestreiten, sondern herunterspielen, nehmen sie gleichmütig hin, dass Menschen sterben, die gerettet werden könnten. Ähnlich wie bei der AfD und vielfach bei den etablierten Parteien kommt somit auch hier ein impliziter Sozialdarwinismus zum Vorschein.
Die Wirklichkeit – komplex, ambivalent, mitunter grausam – ist den Corona-Rebellen unerträglich. Sich mit Vernunft zur Welt zu verhalten, haben sie nie gelernt. Sie sind unfähig und unwillig, das epidemiologische Geschehen als Realität zu begreifen, ihre eigene Rolle in der Pandemie zu erkennen und Schlüsse für ein eigenverantwortliches Handeln zu ziehen. Tatsächliche Freiheit empfinden sie als Bürde, weil sie der Komplexität der Welt nicht gewachsen sind. Sie geben vor, für die Freiheit zu kämpfen, in Wahrheit aber fliehen sie vor ihr. Das Ziel dieser Flucht sind die schützenden Arme des Kollektivs unter der Leitung einiger Auserwählter, die ihren Anhängern die Last der Verantwortung von den Schultern nehmen, indem sie ihnen den Kurs vorgeben. So entpuppen sich die vermeintlich so aufmüpfigen Rebellen denn auch bald als brave Mitläufer. Wie stark die Identifizierung der Einzelnen mit dem Kollektiv ist, wird besonders deutlich, wenn doch einmal Widerspruch aufkommt, dann nämlich beschuldigt man die potenziellen Abweichler umgehend und lautstark der „Spaltung“, also der Störung der Harmonie. Auch hiermit geben sich die scheinbar Widerständigen letztlich als konformistische Rebellen zu erkennen: Ihre Aggressionen richten sie vor allem gegen Schwächere – Fremdgruppen oder eben Abtrünnige –, während sie sich den irrationalen Autoritäten ihrer Eigengruppe unterwerfen.
Die narzisstische Rebellion
Womöglich erleben die nun rebellierenden Einzelnen das Überfordertsein mit der Krise ferner als narzisstische Kränkung: Die Ohnmacht gegenüber dem Virus, noch dazu einem besonders gefährlichen, weil unsichtbaren Feind, stellt das individuelle Selbstwertgefühl fundamental infrage. In Anlehnung an den Philosophen Theodor W. Adorno lässt sich dieser Gedanke noch weiter verallgemeinern, nämlich dahin gehend, dass die Menschen im Kapitalismus auch in normalen, nicht krisenhaften Zeiten ständig narzisstische Kränkungen erfahren – etwa durch den Verlust eines Arbeitsplatzes –, weil sie abhängig sind von ökonomischen Bedingungen, auf die sie keinen Einfluss haben. Weil sie dabei zudem in Konkurrenz zueinander stehen, ist jeder Einzelne zugleich genötigt, sich selbst narzisstisch zu überhöhen, um seine Chancen am Markt zu steigern. Die begleitende Erzählung lautet bekanntlich, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied. Waren die tatsächlichen Lebenschancen der Einzelnen im Laufe der neoliberalen Phase des Kapitalismus ohnehin bereits in historischem Maße geschrumpft, so verschärft die Corona-Krise diese prekäre Lage jetzt noch zusätzlich.
Das psychische Resultat ist eine wachsende (realistische) Abstiegsangst, die einen Umschlag des Narzissmus in Autoritarismus auslösen kann. Denn wer Angst hat und die bedrohliche Lage nicht rational zu fassen vermag, der neigt eher dazu, sein Heil in der Unterordnung unter emotional vielversprechende Autoritäten zu suchen, die für jedermann unmittelbar verständliche Erklärungen anbieten. Die auf Affektmobilisierung abgestimmte Propaganda tut ihr Übriges. Einer solchen Deutung nach ließen sich die Corona-Rebellen also als kollektiv narzisstische Bewegung begreifen. Indem sie ihre Anhänger von Ohnmacht und Angst zu heilen verspricht – durch Bestrafung der „Schuldigen“ und Durchsetzung des „wahren Volkswillens“ –, stellt sie ihnen das Ende aller narzisstischen Kränkungen in Aussicht.
Marco Kurz: Agitator sucht Mitläufer
Brauchen die Corona-Rebellen politische Führung? Zu Beginn des Lockdowns versucht Marco Kurz, der mittlerweile ausgetretene Gründer des Frauenbündnis Kandel, den aufkeimenden Protest gegen die Grundrechtseinschränkungen auf die Straße zu tragen. Zunächst werden seine Versammlungen wegen des Infektionsschutzes verboten. Am 2. Mai hält Kurz erstmals eine eigene Kundgebung im baden-württembergischen Offenburg ab, an der kaum mehr als ein Dutzend Personen teilnehmen. „Ich möchte den Schwachen helfen, selbst dann, wenn ich selbst nicht betroffen bin“, sagt er dort. Seine Rede ist geradezu idealtypisch populistisch: hier die rechtschaffenen Normalbürger – dort die korrupte Elite, die auf deren Kosten lebt und sie gängelt. In den Worten des Redners: „Wir aber sind Menschen, wir tragen die Menschlichkeit in unseren Herzen“, die „Politmarionetten“ dagegen hätten „weder Herz noch Verstand“. Indem er also suggeriert, hinter den unmenschlichen Politikern stünden einflussreiche Mächte, die in Wahrheit das Sagen hätten, bedient er eine klassische verschwörungsideologische – und antisemitische – Denkfigur.
Kurz adressiert seine Rede volksnah, emotional und eingängig an sein Publikum. In seinem Selbstbild ist er Demokrat, was auf dem Höhepunkt seiner Agitation besonders deutlich wird: „Im Namen der Demokratie: Lasst und zusammenstehen und sie die Macht des Volkes spüren lassen! […] Nieder mit dem Regime! Wehrt euch! Artikel 20, Absatz 4!“ Dieser Artikel des Grundgesetzes gesteht jedem Deutschen das Recht zum Widerstand zu gegen „jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“. Eine schlüssige Argumentation, wonach das „Regime“ die demokratische Ordnung angreifen würde, bleibt Kurz allerdings schuldig. Mehr als vage Behauptungen hat er nicht anzubieten: „Ich denke mal, diese Gewaltenteilung, die wir hier eigentlich laut unserem Grundgesetz hätten, die funktioniert nicht mehr.“ Im selben Augenblick übt er unter anderem ebenjene grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit aus, die das Bundesverfassungsgericht erst zweieinhalb Wochen zuvor eingedenk der Krise bekräftigt hat. Auch von seinem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung kann er Gebrauch machen und die Rede live und unzensiert ins Internet streamen, ohne von den anwesenden Polizisten daran gehindert zu werden. Um die demokratische Ordnung scheint es nicht so schlecht zu stehen, wie Kurz meint.
Seinen persönlichen politischen Führungsanspruch verdeutlicht Kurz durch Aktionismus: Auseinandersetzungen mit Versammlungsbehörden, häufige Kundgebungen sowie kleinere Aktionen, die seine Anhängerschaft im Internet begeistern – bei einer etwa übertönte er den Muezzin-Ruf in Germersheim mit der deutschen Nationalhymne. Überdeutlich wurde dieser Anspruch, als er seiner ehemaligen Mitstreiterin Julia Juls in einem Social-Media-Beitrag vorwarf, faul, feige und dumm zu sein. Niemals würden Leute wie sie zu furchtlosen „Löwen“ werden, sondern immer „Ratten“ bleiben, die fräßen, was sie im Abfall der „Macher“ fänden. Bei seiner Rede in Offenburg verweist er zudem stolz darauf, vier Klagen vor Verwaltungsgerichten gewonnen zu haben, und kommentiert die Versammlungsauflagen spöttisch und überheblich. Auf diese Weise zielt Kurz auf einen Mitläufereffekt: Er selbst kann Erfolge vorweisen und geriert sich als moralisch und geistig überlegen – die anderen sollten sich seiner siegreichen Bewegung anschließen. Kurz entspricht dem Bild eines Volkstribunen, der nicht nach demokratischen Verfahren gewählt ist, sondern seine Leitungsfunktion durch den Applaus einer vermeintlichen Mehrheit – also per Akklamation – zu legitimieren sucht.
In Offenburg wird man alsbald absehen können, ob Kurz mit seiner autoritären Agitation langfristig an die Affekte der Masse andocken kann. Seine Chancen, das lokale Rebellen-Milieu an sich zu binden, dürften maßgeblich davon abhängen, ob es dem notorischen Selbstdarsteller gelingt, dauerhaft einen Kreis loyaler Unterstützer um sich zu scharen – anders als in Kandel, wo er sich letztlich mit mehreren Mitstreitern überwarf. Im Übrigen wird es gewiss auf die weitere Entwicklung der Krise ankommen.
Worum es jetzt geht
Demokraten sind gefordert, den noch für Argumente zugänglichen Konsumenten rechter Propaganda deren Mechanismen bewusst zu machen und zu zeigen, dass ihre Annahmen der Welt entrückt und ihre Folgerungen destruktiv und menschenverachtend sind. Wer eine solche Mobilisierung wirklich verstehen und nicht nur ordnungspolitische Symptombekämpfung betreiben will, muss seinen Blick um die sozialpsychologische Dimension erweitern. Entscheidend ist der psychische Gewinn, den die Konsumenten aus der autoritären Agitation ziehen. Darauf ist in der öffentlichen Auseinandersetzung abzuheben und die vorgebliche Sorge der Corona-Rebellen um Grundrechte als Vorwand eines antidemokratischen Wahns zu dechiffrieren.
In der Auseinandersetzung könnte es auch zielführend sein, an das Eigeninteresse der Einzelnen zu appellieren. Nicht wenige unter den Zuhörern der Rebellen werden selbst zu Risikogruppen gehören oder solche Bekannten und Verwandten haben, die durch ihr Verhalten unnötig gefährdet werden. Wenn mit gesteigerter Infektionstätigkeit das öffentliche Leben womöglich erneut heruntergefahren werden müsste, beträfe auch das wiederum ihre eigene Existenz und ihre Freiheiten.
Sorge muss eine Entwicklung bereiten, der in diesem Aufsatz nicht nachgegangen werden konnte: die terroristische Radikalisierung. Bekannt ist, dass die Täter von Halle und Hanau von Verschwörungsmythen überzeugt waren und ihre Morde damit begründeten. Anzunehmen ist, dass sich im Zuge der Corona-„Infodemie“ weitere gewaltaffine Einzelne oder Gruppen radikalisieren und die Lösung aller Probleme in terroristischen Anschlägen sehen werden. Sind Feinde einmal markiert, steigt der Handlungsdruck, radikal gegen diese vorzugehen. Das Gefühl der Rebellen, sich im heroischen Widerstand gegen eine Diktatur zu befinden, kann in Gewalt umschlagen und deren Billigung begünstigen.
Jan Maximilian Gerlach recherchiert, fotografiert und schreibt. Vor allem über Neonazismus.
Niklas Wünsch ist Student und Mitherausgeber des im Juli 2020 im Verbrecher Verlag
erscheinenden Sammelbandes „Konformistische Rebellen. Zur Aktualität des autoritären
Charakters“.
Alle Fotos: Jan Maximilan Gerlach, Niklas Wünsch.