In der ersten Rubrik unseres Reports stellen wir aktuelle Ergebnisse aus unserem fortlaufenden Monitoring der verschwörungsideologischen und extrem rechten Telegram-Szene in Sachsen vor. Diese Ergebnisse sind vorrangig deskriptiv und sollen vor allem als Ausgangspunkt für weitere Recherchen innerhalb unseres Projektes, aber auch darüber hinaus dienen. Wir interessieren uns hierbei vor allem für Mobilisierungsdynamiken und thematische Verschiebungen. Außerdem verändert sich die Zusammensetzung unseres Samples. Gruppen können für uns nicht mehr einsehbar sein, gelöscht oder umbenannt werden. Neue Kanäle versuchen für sich Aufmerksamkeit zu generieren. Und inzwischen kommt es offenbar auch zu Spaltungen von Gruppen. Um die Bedeutung der Online-Mobilisierung einschätzen zu können, blicken wir in dieser Ausgabe genauer auf den größten Kanal unseres Samples und zeigen, wie die Freien Sachsen trotz gleichbleibender Abonnementzahl deutlich an Reichweite ein-
gebüßt haben
Zusammensetzung des Samples
Zunächst wollen wir einen genaueren Blick auf die Zusammensetzung unseres Samples werfen. Abbildung 1 fasst die Bedeutung verschiedener, in Kategorien zusammengefasster Akteure im Hinblick auf das gesamte Nachrichtenaufkommen, die Kanal-Abonnements, die Zahl der Gruppen sowie die Zahl der Kanäle zusammen. Die meisten Nachrichten werden in regionalen Gruppen verfasst. Hier beteiligen sich häufig mehrere Personen und teilweise werden auch Diskussionen geführt. Die mit Abstand meisten Abonnements hat nach wie vor der Hauptkanal der Freien Sachen, insgesamt fallen etwa 50 % aller Abonnements auf den Haupt- oder auf einen der Nebenkanäle. Fast jedes sechste Abonnement geht
auf das Konto von Influencer*innen, also von Einzelpersonen, die für sich selbst versuchen Reichweite zu erzielen. Gut jedes zehnte Abonnement folgt einem regionalen Kanal. Im Vergleich dazu haben die sächsischen Querdenken-Kanäle, die AfD, offen erkennbare Neonazis (u.a. NPD und III. Weg) usw. kaum Reichweite. Die meisten Gruppen kategorisieren wir als regionale Gruppen, das heißt, sie haben einen klaren lokalen Bezug (meist eine Stadt) und lassen sich nicht eindeutig einem Netzwerk oder einer Organisation zuordnen. Jeweils etwa 10 % der Gruppen lassen sich dem Label „Eltern stehen auf“, den Freiheitsboten sowie der Kategorie „überregionale Gruppen“ zuordnen. Die Anzahl der AfD- oder Freie Sachsen-Gruppen ist dagegen verschwindend gering. Wir schließen daraus, dass die meisten Gruppen
einer Bottom-up-Idee folgen und zumindest formal wenig bis keine zentrale Organisation stattfindet. Von
den Kanälen, die eher für die unidirektionale Kommunikation vorgesehen sind, lassen sich hingegen anteilig mehr den Freien Sachsen, der AfD, NPD, Identitären Bewegung und weiteren Organisationen zuordnen. Auch die zahlreichen regionalen Kanäle kommunizieren unidirektional.
Zwar besteht unser Sample zu einem großen Teil aus lokalen, zumindest vordergründig unabhängigen Gruppen und Kanälen, allerdings lässt ein Blick auf die Nachrichtenzusammensetzung (Abbildung 2) vermuten, dass lokal generierte Inhalte – etwa Diskussionen zwischen User*innen – deutlich abgenommen haben. Lag der Anteil der Weiterleitungen im ersten Quartal des Jahres 2021 bei etwa 20 %, so sind es inzwischen etwa 50 %. Gleichzeitig ist der Anteil an nicht weitergeleiteten Nachrichten in Gruppen auf inzwischen 40 % zurückgegangen. Hierbei sind Nachrichten, die zwar selbst verfasst, aber aus kopierten Textfragmenten bestehen, noch nicht berücksichtigt. Die lokale Vernetzung hat sich also zumindest verändert: So werden zwar noch viele Menschen erreicht, aber eine engagierte Beteiligung findet deutlich weniger statt.
Schließlich ist auch das Nachrichtenaufkommen (siehe Abbildung 3) nach dem Allzeithoch zum Jahreswechsel 2021/2022 und einem vorübergehenden Anstieg im Herbst 2022 inzwischen wieder im Rückgang begriffen. Auch dies spricht für eine gewisse Demobilisierung, die vermutlich auch auf die Ernüchterung in Anbetracht der ausbleibenden Mobilisierungserfolge auf der Straße zurückzuführen ist.
Austausch von Gruppen und Kanälen
Beim Aktualisieren unseres Samples fiel auf, dass seit unserer letzten Veröffentlichung im Oktober 2022 etwa 35 Gruppen und Kanäle nicht mehr auffindbar sind. Das bedeutet, dass diese entweder nicht mehr existieren oder dass sie auf privat umgestellt wurden. Die meisten der verschwundenen Kanäle und Gruppen – darunter die Auftritte der AfD Nordsachsen und des AfD-Politikers Edgar Naujok (MdB) – wiesen zuvor lediglich ein- bis zweistellige Abonnementzahlen und sehr wenig inhaltliche Aktivität auf. Es ist davon auszugehen, dass diese schlichtweg eingestellt wurden. Dass einige Kanäle auf privat gestellt wurden, wissen wir entweder aus eigenen Recherchen oder wir gehen davon aus, wenn sie bis zu ihrem Verschwinden noch aktiv genutzt wurden. Vermutlich wurden auch im Zuge des behördlichen Vorgehens gegen eine Reichsbürgergruppe im Dezember 2022 deutschlandweit diverse Gruppen und Kanäle mit Bezug zur Szene auf privat gestellt.
Seit der letzten Veröffentlichung des Digital Reports konnten wir aber auch 43 neue Gruppen und Kanäle der Szene identifizieren, die nun in unser Monitoring einfließen. Darunter fallen drei neue Gruppen und Kanäle der Freien Sachsen für die Region Hoyerswerda/Kamenz/Bernsdorf, den Kreis Leipzig sowie für die Stadt Freital. Dazu kommen Auftritte der sogenannten Freien Jugend,welche zumindest Kontakte zu den Freien Sachsen aufweisen. Relevant ist vor allem der Hauptkanal der Freien Jugend Sachsen, der aus dem Kanal der Freien Jugend Erzgebirge hervorgegangen ist. Außerdem gibt es Kanäle der Freien Jugend für Leipzig sowie die Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Neu aufgenommen haben wir auch die Kanäle der Musikerinnen Runa und Alva, die über das rechte Label Neuer Deutscher Standard aktiv sind. In der Kategorie „Alternative Medien“ sind die Kanäle „Sachsenprovider“ (seit Mai 2022 existent, 26 Abos), „Sachsenkontakte“ (seit Mai 2022, 31 Abos), sowie „Sachsenmikrofon“ (seit April 2021, 96 Abos) hinzugekommen, welche scheinbar ein Netzwerk bilden, da sie untereinander in den Kanalbeschreibungen verlinkt sind.
Insgesamt umfasst unser sächsisches Sample nun 203 Kanäle und 115 Gruppen.
Neben der Zusammensetzung des Samples veränderten sich im Vergleich zu unserer letzten Auswertung auch die Kanal-Abonnements und Gruppengrößen teilweise deutlich (siehe Abbildung 4). Wieder belegen die Freien Sachsen Platz eins der Zugewinne. Wie auch im Vorquartal ist von Ende Oktober 2022 bis Anfang Januar 2023 ein stetiger Zuwachs von etwa 2 % zu vermerken, was bei mittlerweile etwa 151.000 Follower*innen über 3.000 neue Profile bedeutet. Den höchsten prozentualen Zuwachs hingegen erlangte der Kanal des Neonazis und Freie Sachsen-Aktivisten Michael Brück mit 43 % (Platz zwei nach absolutem Zugewinn): Ab Ende Dezember 2021 erschienen dort lange keine Nachrichten mehr, der letzte Post beinhaltete ein Interview mit Brück durch die völkische Initiative „Zusammenrücken in Mitteldeutschland“.
Am 16. Oktober 2022 wurde dann eine Umfrage auf den Kanal gestellt, ob dieser reaktiviert werden solle. Die Umfrage bejahten über 80 % – seitdem gibt es wieder kontinuierlichen Content und steigendes Interesse. Platz drei bei den Zuwächsen belegt der Kanal von PEGIDA-Gründer Lutz Bachmann, der im Oktober schon auf Platz fünf (+3 %) landete. Auch der Account von „Balaclava Graphics“ (ein neonazistisches „Medienkollektiv“ aus Bautzen) fällt durch kontinuierliches Wachstum auf und belegt Platz vier. „Dresden vereint“ und „Leipzig spaziert“ sind ebenfalls wieder unter den Top 10 mit einem ähnlichen Anstieg wie bereits im Oktober.
Ebenfalls Zuwachs verzeichnen die Kanäle der AfD Sachsen und des AfD-Politikers Karsten Hilse (MdB). Wobei der Kanal der AfD Sachsen einen stärker werdenden Zulauf (von 12 % im vorletzten auf 20 % im letzten Quartal) und Karsten Hilse einen stabil hohen Zulauf von 30 % verbucht. Ein weiterer Newcomer ist der Kanal von „Werra Elbflorenz“ mit +24 % auf Platz 9. Die Dresdner Kameradschaft bildet eine rechtsextreme Melange aus Ehemaligen der Freien Kameradschaft Dresden sowie des nicht mehr in Erscheinung tretenden Dresdner Ablegers der Identitären Bewegung.
Bei den Verlusten (siehe Abbildung 4) belegt Platz eins der Kanal des Influencers Tommy Positiv mit fast 8.000 weniger Follower*innen als noch vor drei Monaten. Damit hat sich der bereits im letzten Report verzeichnete Abwärtstrend weiter verstärkt. Noch verbleiben dem Kanal mehr als 14.000 Follower*innen. Für die Abkehr sorgte vermutlich eine thematische Verschiebung weg von den Corona-Protesten hin zu der Tätigkeit von Tommy Positiv als Life-Coach. Verbunden mit einem Imagewechsel versucht er sich nun im Bereich Geldanlagenberatung insbesondere im Bereich Kryptowährungen. Diese Umorientierung ist bei Influencer*innen im verschwörungsideologischen Bereich nicht ungewöhnlich. Vermutlich wird
hier versucht, die durch das Thema Corona-Maßnahmen generierten Abonnements zu monetarisieren. Nicht zuletzt erschien in letzter Zeit weniger Content auf dem Kanal, jedoch kündigte Tommy Positiv am 10. Januar 2023 an, bald wieder mehr produzieren zu wollen. Platz zwei belegt der Kanal des Protest-Streamers Michael Wittwer. Der schon im Oktober verzeichnete deutliche Verlust hat sich von -43 % auf -57 % nochmals verstärkt – in der letzten Auswertung belegte der Kanal Platz eins der Verluste. Auch der Kanal Martin Kohlmanns verzeichnet weiterhin Verluste, obwohl nun wieder vereinzelt Nachrichten gepostet werden (etwa vier pro Monat). Als Newcomer bei den Verlusten sehen wir auf Platz fünf ebenfalls den Kanal eines Protest-Streamers: „Dünzel Direkt“. Der Betreiber Jonas Dünzel aus Zwickau
ist Mitglied der AfD und fiel 2020 mit Tweets über das Verweigern der Maskenpflicht auf.
Die Kanäle „Dresden spaziert“, „Querdenken Dresden“ wie auch „Infokanal Dresden“ bauen weiterhin ab, vermutlich zu Gunsten von „Dresden vereint“. Jedoch überwiegt hier der Verlust von insgesamt etwa -2.000 gegenüber den etwa +500 Zugewinn von „Dresden vereint“. Ebenfalls neu bei den Verlusten mit
fast 50 % ist die Diskussionsgruppe der Bürgerbewegung Leipzig, welche parallel zu einem entsprechenden Kanal existiert. Auch hier lassen sich als Grund Konflikte in der lokalen Protestszene vermuten. Verluste verbuchen auch der Kanal „No Covid Zone Sachsen“ und derjenige von „Alex Malenki“, einem Leipziger Influencer der Identitären Bewegung.
Weiterleitungen
Bei der Betrachtung der zehn häufigsten Quellen von Weiterleitungen ergibt sich ein ähnliches Bild wie im Digital Report aus dem Oktober 2022. Dennoch sind einige Veränderungen zu erwähnen. Zunächst fällt die Empfänger-Kategorie „Alternative Medien“ ins Auge. Hierbei handelt es sich um Telegram-Auftritte, welche sich als Nachrichtenportale präsentieren und deren Berichte einseitig sind oder schlicht Falschdarstellungen beinhalten.
Und hier werden vor allem Nachrichten aus anderen Quellen weitergeleitet. Die starke Vertretung der Kategorie „Alternative Medien“ rührt daher, dass für diese der Kanal SachsenProvider in unserem Sample neu hinzugekommen ist. Dieser Kanal teilt massiv Nachrichten der Freien Sachsen sowie der Bewegung Zwickau, weist allerdings nur 26 Follower*innen auf (Stand 19.01.2023).
Unter die wichtigsten sächsischen Quellen (Abbildung 5) gesellt sich zum Hauptkanal und dem mittel–
sächsischen Kanal der Freien Sachsen ein weiterer für Nordsachsen. Neu hinzu kommt der Kanal „Frei Heit TV“ eines Leipziger Streamers, welcher seit September 2022 existiert. Dieser gibt an, Montagsdemonstrationen in Sachsen zu dokumentieren, seine Berichterstattung beschränkt sich jedoch weitestgehend auf Proteste von „Das Gesundheitswesen steht auf“ in Dresden und der „Bürgerbewegung Leipzig“.
Bei den externen Quellen (Abbildung 5) ist „Die Zerstörung der EU“ wie schon im vorangegangenen Quartal am stärksten vertreten. Eine personelle Zuordnung war uns bisher nicht möglich. Der zugehörige Telegram-Link „t.me/allesau“ erinnert an einen anderen bekannten Kanal des verschwörungsideologischen Spektrums mit dem Namen „Alles außer Mainstream“, welcher von Bodo
Schiffmann betrieben wird. Unsere Recherche ergab, dass fast alle Weiterleitungen des Kanals „Die Zerstörung der EU“ von einem Profil in zwei Gruppen der Bürgerbewegung Leipzig sowie in einer Gruppe der Freiheitsboten Markkleeberg stammen. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass dieselben Weiterleitungen in allen drei Gruppen zu identischen Zeiten stattfinden. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hierbei um automatisierte Posts eines sogenannten Bots handelt.
Verglichen mit der letzten Analyse der Top-10-Quellen für Weiterleitungen im Herbst 2022 fallen bei den externen die Kanäle „17 We are the News“ (QAnon) und„Frag uns doch“ weg. Außerdem taucht die Kategorie der Reichsbürger nicht mehr auf, hierfür war „Frag uns doch“ neben „Q7 4 U“ (QAnon) die Hauptquelle (Kiess et al.,2022). Interessant ist, dass die Posts von „Frag uns doch“ ab dem 7. Dezember abrupt aufhören und dies, obwohl am 6. Dezember noch 40 Posts, mit teilweise über 60.000 Views, abgesetzt wurden. Ob dies mit der am 7. Dezember durchgeführten deutschlandweiten Razzia im Reichsbürger-Milieu zusammenhängt, können wir an dieser Stelle nur spekulieren. Neu hinzugekommen sind als externe Quellen unter den Top 10 außerdem die Kanäle „Impfschäden“ und „Klartext 20/21“.
Aktuell aktive Nutzer*innen des Kanals der Freien Sachsen
In der Telegram-App wird bei großen Kanälen angezeigt, wie oft eine Nachricht angesehen wurde. Zwar sind diese sogenannten „Views“ nicht vor Manipulation sicher. Angebote über käufliche View- wie auch Followerzahlen gibt es zahlreiche und sind im Internet leicht zu finden. Laut Telegram sind die View-Angaben nur Näherungswerte und Mehrfachzählungen möglich. Dennoch geben die Views von Posts insbesondere im Vergleich zueinander Aufschluss über das Interesse an bestimmten Nachrichten und den enthaltenen Themen. Hohe Viewzahlen können zu einer (noch) größeren Reichweite beitragen –
beispielsweise durch Rankingseiten oder die Beeinflussung der Algorithmen der Social-Media-Plattformen,
welche den Nutzer*innen Inhalte und neue Profile vorschlagen. Die Betreiber der Plattform Telegram erläutern außerdem, dass die dargestellten Views auch solche beinhalten, welche sich durch Weiterleitung der Nachricht in andere Gruppen und Kanäle ergeben. Deshalb kann die Viewzahl mitunter die Followerzahlen eines Kanals um ein Vielfaches überschreiten. Ist die Viewzahl wesentlich
höher als die Abonnementzahl des Kanals, wurde die Nachricht stark verbreitet – sie ging viral.
In letzter Zeit fiel beim Betrachten des Hauptkanals der Freien Sachsen auf, dass vereinzelte Nachrichten
lediglich um die 60.000 Views aufwiesen, was nicht einmal der Hälfte der Abonnements von aktuell etwa 151.000 entspricht. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hierbei um Nachrichten handelt, welche wenig bis gar nicht weitergeleitet wurden, und die View-Zahl die Anzahl jener Nutzer*innen widerspiegelt, welche die Nachricht direkt im Kanal und nicht als Weiterleitung in einem anderen Kanal betrachtet haben. Eine Untersuchung der Nachrichten ohne Weiterleitungen könnte demnach Aufschluss über die tatsächlich aktiven Nutzer*innen im Kanal geben.
Da unser Sample eine Vielzahl von Telegram-Gruppen sowie Kanäle aus dem sächsischen Raum enthält, kann ermittelt werden, wie oft eine Nachricht der Freien Sachsen zumindest im Freistaat weitergeleitet wurde. Wir gehen davon aus, dass eine Nachricht der Freien Sachsen, die innerhalb Sachsens nicht geteilt wurde, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch darüber hinaus nicht geteilt wurde.
Abbildung 6 stellt die durchschnittlichen Views je Monat für Nachrichten der Freien Sachsen mit keiner
(fwd0) und einer (fwd1) Weiterleitung in unserem Sample sowie die Anzahl der Abonnements des Kanals (follower) im Zeitverlauf dar. Zunächst einmal beschäftigte uns schon länger die Frage, wie viele der Follower*innen der Freien Sachsen reale Personen sind und nicht womöglich zugekaufte Dummy-Profile. Der Verlauf der Follower*innen ähnelt mehrfach dem s-förmigen Verlauf einer Gompertz-Funktion. Die Gompertz-Funktion findet in der Biologie und in den Wirtschaftswissenschaften Anwendung um natürliche Wachstumsprozesse oder Trendverläufe zu analysieren. Demnach kommt die Entwicklung
der Follower*innenzahl dem Verlauf eines natürlichen Wachstums sehr nahe. Eine erste, kleine Wachstumsphaseist von Januar 2021 bis Juni 2021 auszumachen und eine wesentlich größere von Juni 2021 bis Januar 2022. Eine dritte, von der zweiten etwas abgesetzte Wachstumsphase lässt sich von Januar 2022 bis einschließlich März 2022 erkennen. Auffällig ist ein verhältnismäßig steiles Erreichen des Plateaus im Januar 2022.
Wie verhält sich die Zahl der Abonnements nun zur Reichweite der Posts? Die Kurven fwd0 und fwd1 steigen ebenfalls bis Januar 2022 s-förmig zusammen mit den Follower*innen auf 90.000 bzw. 110.000 an, erreichen also in beiden Fällen nicht die Anzahl der Abonnements von über 125.000 und das, obwohl bei fwd1 mindestens eine Weiterleitung vorliegt. Der Graph fwd1 verhält sich dabei sehr ähnlich wie fwd0, nur leicht versetzt. Während die Abonnements seit März 2022 stagnieren, gingen die Viewzahlen schon ab Januar 2022 wieder zurück. Bis Juni 2022 fallen diese ab und schwanken seitdem im Bereich
60.000 bzw. 70.000.
Es ist durchaus möglich, dass Follower*innen und Views dazugekauft wurden. Hierauf deuten der steile Anstieg an Follower*innen Ende 2021 und der Abstand von fwd0 und fwd1 zur follower-Kurve hin. Der Zeitpunkt des Peaks deckt sich allerdings mit dem Protestaufkommen auf der Straße und dem hohen Interesse an den Freien Sachsen in diesem Zeitraum (Kiess et al., 2022). Zudem fallen die Viewzahlen seit Anfang 2022 langsamer ab, als sie gestiegen sind, wohingegen die Abonnements relativ stabil bleiben. Und auch weil die Kurve der Form eines natürlichen Wachstums ähnelt, vermuten wir, dass es sich überwiegend um reale Personen handelt. Zwar wäre es technisch durchaus möglich, einen natürlichen
Zuwachs an künstlichen Follower*innen zu simulieren, jedoch würde dies einen zusätzlichen Aufwand für die Anbieter solcher Dienstleistungen bedeuten.
Der Erfolg des Kanals der Freien Sachsen lässt sich schließlich auch an den durchschnittlichen Viewzahlen
je Nachricht bemessen. Abbildung 7 zeigt anhand von Kastengrafiken (sogenannte Box-Plots) die monatliche Streuung der Views pro Nachricht. Die Linie in den Rechtecken (Median) zeigt den monatlichen Durchschnitt. Ober- und Unterkante eines Rechtecks markiert den Bereich, in dem 50 % der Datenpunkte liegen. Die T-förmigen Enden (Antennen oder Whisker) zeigen die gesamte Spannweite der Viewzahlen ohne Ausreißer auf.
Diese Ausreißer, also Datenpunkte außerhalb des statistisch zu erwartenden Bereichs, werden als einzelne
Punkte dargestellt. Die fünf höchsten Ausreißer haben wir mit den Buchstaben A–E markiert (Anzahl der Views am 19.01.2023):
A) 24.01.2022, 967.000 Views: Der Bautzner Vize-Landrat behauptet, dass die Impfpflicht im Gesundheitswesen im Kreis Bautzen nicht durchgesetzt werden wird.
B) 28.12.2022, 636.000 Views: Der sächsische Landeschef der GdP (Gewerkschaft der Polizei) forderte die
Landesregierung auf, Spaziergänge und nicht-stationäre Versammlungen in Sachsen wieder zu erlauben.
C) 15.06.2021, 627.000 Views: Kretschmer kündigt Lockdown im Herbst 2021 und mögliche Schulschlie-
ßungen an.
D) 02.11.2021, 585.000 Views: Suizid des Chemnitzer Klinikum-Chefs.
E) 12.12.2021, 580.000 Views: Polizeieinsatz bei einer Protestaktion in Schmölen.
Insgesamt zeigt auch diese Grafik, dass das Interesse an den Freien Sachsen innerhalb des vergangenen Jahres nachgelassen hat. Auch einzelne Nachrichten finden nicht mehr den Verbreitungsgrad wie die „Hits“ aus dem Winter 2021/2022. Es bleibt abzuwarten, ob die Freien Sachsen auf der Suche nach einem neuen und vor allem szeneweit mobilisierungsfähigen Thema doch noch Erfolg haben oder ihre kurzfristige Bekanntheit als Phänomen der Pandemie betrachtet werden muss.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem neuen Digitalreport 2023-1 des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Universität Leipzig und der Amadeu Antonio Stiftung. Der Digitalreport betrachtet seit 2022 die Entwicklung antidemokratischer Mobilisierung und Vernetzung im Telegram-Kosmos sächsischer Coronaprotestler*innen. Den gesamten Report finden Sie hier: